Werkzeuge für das Bauingenieurwesen zur Unterstützung des Denkens
Einer der Wegbereiter der Bauinformatik in Deutschland, Prof. Peter Jan Pahl, hat für eine Jubiläumsausgabe des Bauingenieur im Jahr 2000 einen Blick auf sein Fachgebiet geworfen, der durch seine Bezüge zur Künstlichen Intelligenz in unseren Tagen überraschend aktuell wirkt.
„Mit dem Computer besitzen die Menschen erstmals ein Werkzeug zur Unterstützung des Denkens“, stellt Peter Jan Pahl gleich zu Beginn seines Artikels „Entwicklung, Aufgaben und Inhalte der Bauinformatik“ (siehe Kasten unten) in seiner Zusammenfassung fest – und dies im Jahr 2000, als die Künstliche Intelligenz zwar bereits ein prosperierendes Forschungsgebiet geworden war, aber längst noch nicht so bekannt wie heute im Zeitalter von ChatGPT und ähnlichen Anwendungen.
Dennoch wagt es der der 1937 in Saarbrücken geborene Autor, die „Verstärkung der Denkfunktionen“ mit einem Faktor von einer Milliarde zu beziffern und untersucht in seinem Bauingenieur-Beitrag die Auswirkungen dieser Entwicklung, speziell die Aufgaben und die Inhalte der Bauinformatik auf das Bauingenieurwesen in Deutschland.
Zuses ersten Rechenmaschinen
Der Rückblick beginnt im Jahr 1934 mit den Vorarbeiten von Konrad Zuse an seiner Rechenmaschine Z1, die – aus etwa 30.000 mechanischen im Wohnzimmer von Zuses Eltern Bauteilen aufgebaut – 1938 in der Lage war, etwa eine Operation pro Sekunde auszuführen. Spätestens die 1941 fertiggestellte Z3, die dann auch Programme und Daten speichern konnte und damit frei programmierbar war, machte Pioniere aus der Ingenieurwissenschaft auf die Möglichkeiten solcher Rechenmaschinen aufmerksam. Aber es brauchte noch viele Jahre, bis praxisrelevante Probleme im Bauwesen damit angegangen wurden.
Pahl nennt als erste wichtige Anwendungen in den frühen 1960er-Jahren Beispiele aus dem Brückenbau. In diese Zeit fiel auch die Gründung des Stuttgarter Recheninstituts für das Bauwesen (RIB), aus dem sich ein bis zum heutigen Tag aktives Softwareunternehmen entwickelte. Ab Mitte der 1960er-Jahre arbeiten auch erste Planungsbüros rechnergestützt und es entstehen spezialisierte Softwarehäuser.
Querverbindungen zum MIT
„Diese hervorragenden Leistungen können nicht verhindern, dass der Entwicklungsschwerpunkt der Computeranwendungen im Bauwesen in den 60er Jahren im Ausland liegt, dessen Universitäten früher mit leistungsfähigen Rechnern ausgestattet und wirksam von der Computerindustrie unterstützt werden“, merkt Pahl an. Insbesondere am Massachusetts Institute of Technology (MIT) sei man sich „der Art und des Ausmaßes der kommenden Änderungen bewusst“ gewesen, erinnert sich der Autor, der dort von 1961 bis 1969 als Student und später Assistenzprofessor tätig war.
„Wo viele Menschen im Computer noch das Instrument zum schnellen Zahlenrechnen sehen, wird der Computer am M.I.T. bereits im Sinne von Zuse als Universalwerkzeug für das Denken und damit als neue Basiskomponente des Ingenieurprozesses verstanden“ und beispielsweise im Integrated Civil Engineering System (ICES) „als einsatzfähige Software konkretisiert“, auch unter Pahls Mitwirkung.
Digitale Berechnungen erfordern neue Methoden
Allerdings zeigte sich rasch, dass „die vorhandenen theoretischen Grundlagen des Bauingenieurwesens, beispielsweise die graphische Methode, für die zweckmäßige Anwendung von Computern nicht geeignet sind“, weil die klassischen Verfahren darauf ausgelegt waren, „den Rechenaufwand für jeweils eine Art von Tragwerk zu minimieren“. Es wurden also allgemeinere Verfahren entwickelt, wie die heute auf vielen Gebieten gebräuchliche Finite-Elemente-Methode, die sich „infolge ihrer mathematischen Einfachheit und ihrer Robustheit als praxistauglich“ erwies.
Als unbegründet erwiesen sich Vorurteile, dass der Einsatz des Computers das Verständnis der Grundlagen des Bauingenieurwesens verschlechterte – im Gegenteil führte er „zu verbesserter Einsicht in die wichtigen Zusammenhänge und zum Ausbau des Instrumentariums für die Planung, die Ausführung und die Nutzung von Bauwerken“, argumentiert der Bauinformatik-Pionier.
Um das Jahr 1970 beginnt die Ausdehnung der Computeranwendungen auf nahezu alle Bereiche des Bauingenieurwesens, stellt Pahl fest. Den 1969 an der TU Berlin eingerichteten Lehrstuhl für Theoretische Methoden der Bau- und Verkehrstechnik hat Pahl bis 2005 inne.
Wie Computer Aided Design ursprünglich gemeint war
Interessant sind Pahls Erinnerungen an das Anfang der 1970er-Jahre entstehende Computer Aided Design (CAD), das offenbar ursprünglich ambitionierter gedacht war. Denn „im Gegensatz zu seiner Benennung (die am M.I.T. entstand und den gesamten Entwurfsprozess einschließlich Berechnung und Bemessung erfaßt) handelt es sich bei einem CAD-System um ein Werkzeug zur rechnergestützten Erstellung und Änderung von Zeichnungen, nicht um ein Instrument für den Entwurf von Bauwerken im Sinne ihrer Gestaltung“.
Die Bedeutung der Informationswissenschaften für das Bauwesen tritt in dieser Zeit immer deutlicher hervor, und „Pioniere wie B. Mursch und G. Nemetscheck erkennen die praktische Bedeutung der rechnergestützten Graphik und bauen in den folgenden Jahrzehnten Softwareunternehmen auf, die heute mehrere hundert Menschen beschäftigen und an der Börse notiert sind“, kann Pahl im Jahr 2000 feststellen.
Die Entwicklung verlief aus heutiger Perspektive allerdings nicht immer ohne Brüche: So musste die MB Software von Bernhard Mursch 2001 Insolvenz anmelden (das operative Geschäft übernahm die MB AEC-Software als GmbH), während die Nemetschek Gruppe das Wachstum fortsetzen konnte und 60 Jahre nach ihrer Gründung 1963 inzwischen weltweit über 3600 Mitarbeiter beschäftigt.
Als Reaktion auf die schleppende Einführung der Software-Methodik an Hochschulen gründen Professoren schließlich den Arbeitskreis Bauinformatik, der in einer Denkschrift im Dezember 1984 „das Fachgebiet definiert und in den Folgejahren systematisch die Einrichtung eigenständiger Professuren für Bauinformatik an nahezu allen Bauingenieurfakultäten in Deutschland erreicht.“ (siehe auch Pahl, P.J.; Damrath, R.: Bauinformatik – Ein Fachgebiet des Bauingenieurwesens. Bauingenieur 60 (1985) 319 – 321). Die Diskussion um die Bezeichnung und Abgrenzung des Fachgebiets sei dabei durchaus kontrovers verlaufen.
Neue Ausrichtung durch den Personal Computer
Mit Einführung des PC in den 1980er-Jahren und angesichts seiner Verwendung für „administrative, technische und kaufmännische Aufgaben des Bauwesens“ entsteht schon bald die „Forderung nach einem durchgängigen Informationsfluss bei der Projektbearbeitung und im Management der Unternehmen“. Aus heutiger Sicht wird man sich an Ideen erinnert fühlen, die inzwischen zum Building Information Modeling (BIM) geführt haben, denn: „Die Semantik der Daten wird von den Algorithmen entkoppelt.“
Dem neuen modellorientierten Denken, das zum „Modellieren mit Objekten“ führt, widmet Pahl große Aufmerksamkeit in seiner Rückschau, die Dutzende von Forschungsaktivitäten jener Jahrzehnte mit detaillierten Literaturangaben anführt und einordnet.
Die Vernetzung bringt Herausforderungen und Chancen
Die nächste grundlegende „Metamorphose des Computereinsatzes im Bauwesen“ ist dann allerdings die digitale Vernetzung der Kommunikation, denn immer leistungsfähigere Netze „koppeln den Computer mit einer Vielzahl anderer Medien und erweitern so seinen Einsatzbereich“, stellt das Bauwesen allerdings auch vor große Herausforderungen, weil sie „die traditionelle Gliederung der Informationen in Berichte, Spezifikationen und verschiedene Arten großer Zeichnungen sowie die Form der Informationsübertragung mit Papierkopien und Lichtpausen“ in Frage stellt.
Gleichwohl sieht Pahl „eine gute Gelegenheit, traditionelle Trennungen wie die des technischen und des kaufmännischen Bereichs des Bauwesens aufzuweichen und durch neue Kooperationsformen zu ersetzen“.
Zukunft der Bauinformatik
„Der Computer und die Bauinformatik haben einen festen Platz im Bauwesen eingenommen. Dennoch befindet sich die Entwicklung der Bauinformatik noch in der Anfangsphase“, stellt Pahl abschließend fest.
Sein Ausblick zur Zukunft der Bauinformatik: „Bauingenieure befassen sich in immer stärkerem Maße mit der Nutzung der Bauwerke. Dieser Aufgabenbereich steht mit den heutigen Formen einer eher spezialisierten Bestandsverwaltung (Facility Management) erst am Anfang seiner Entwicklung und wird, wie der Computer selbst, Einzug in viele Bereiche des Bauwesens finden“.