Schweizer Kernkraftwerk erdbebensicher rückbauen mithilfe von Bemessungssoftware
Beim Rückbau des Schweizer Kernkraftwerks Mühleberg müssen alle Sicherheitssysteme erdbebensicher bleiben. Dafür ist eine herstellerunabhängige Software im Einsatz, die nicht nur die Stärken von starren, sondern auch von elastischen Ankerplatten realistisch bemessen kann.
Seit dem Reaktorunfall in Fukushima am 11. März 2011 strebt auch die Schweiz eine Energieversorgung ohne Kernkraft an. Neue Kernkraftwerke werden nicht mehr gebaut; für fünf bestehende gilt allerdings keine Laufzeitbeschränkung. Die Betreiber dürfen sie aber aus wirtschaftlichen Gründen stilllegen.
Rückbau des Kernkraftwerks Mühleberg in der Schweiz
Zur Stilllegung ihres seit 1972 betriebenen Kernkraftwerk Mühleberg (KKM) in der Nähe von Bern hatte sich die BKW Energie AG entschieden. Anfang 2020 begann der Rückbau, 2034 soll er abgeschlossen sein. Für die Bautechnik-Ingenieure vom Ressort Planung stellen sich im KKM Aufgaben, für die sie die Bemessungs-Software Anchor Profi einsetzen, eine herstellerunabhängige Software für die Dübel- und Kopfbolzenbemessung.
Mit diesem Tool der Dr. Li Anchor Profi GmbH aus Freudenstadt können Fachleute aus der Tragwerksplanung sowie Prüfstatik Befestigungsmittel fast aller Hersteller bemessen, vergleichen und auswählen, um auf diese Weise Versagensrisiken zu verringern. Zurzeit werden 24 Hersteller mit 245 Bewertungen (ETA und ICC-ESR) unterstützt.
Das Tool wurde zuvor schon im Leistungsbetrieb des KKM genutzt. Inzwischen dient es nach Aussagen der Anwender fast täglich für die Bemessung von Befestigungen.
Seismische Bemessung von Verankerungen
In der Schweiz sind stärkere Erdbeben möglich. Für den Nachweis des ausreichenden Schutzes gegen durch Erdbeben ausgelöste Störfälle hat der Kernkraftwerksbetreiber die Gefährdung mit einer Häufigkeit größer gleich 10–4 pro Jahr zu berücksichtigen.
Die seismische Bemessung von neuen Verankerungen mit Anwendung der Leistungskategorien C1 und C2 werde in der Praxis der Kernkraftwerke seit 2015 angewendet. Zusammenfassend werden die Vorgaben der maßgebenden europäischen und schweizerischen Normen und der Richtlinien der zuständigen Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit ENSI (Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat) in einem Befestigungskonzept aller Schweizer Kernkraftwerke geregelt.
Dabei muss die Erdbebensicherheit im KKM auch beim Rückbau gewährleistet sein. Denn das ENSI prüft die Befestigungs-Nachweise und gibt sie erst danach frei.
Zügig Dübel fast aller Hersteller vergleichen
Da das KKM mit mehreren Firmen zusammenarbeitet, die Dübel unterschiedlicher Hersteller einsetzen, wäre es relativ mühsam, die einzelnen Hersteller-Tools zum Nachweis einzusetzen. Mit Anchor Profi lässt sich jedoch herstellerübergreifend schnell bemessen und nachweisen, dass die Ergebnisse für die verschiedenen Einwirkungen – wie ermüdungsrelevante oder durch Erdbeben hervorgerufene Lasten – korrekt sind und die gewählten Dübel und Ankerplatten sicher funktionieren werden, so die Erfahrung im KKM.
Ingenieurmäßige Anwendungen in Anlehnung an den Eurocode
In einem Fall ging es um eine in Beton befestigte Ankerplatte mit vier Dübeln am Rand. Der Nachweis der sicheren Befestigung sei mit dem Hersteller-Tool nicht gelungen. Mit Anchor Profi konnte er jedoch geführt werden, da gemäß den ermittelten Versagensarten grundsätzlich alle Dübel als wirksam betrachtet werden.
Denn die Software ermöglicht den Nachweis in Anlehnung an die Erläuterungen des Eurocode EN 1992–4 – ohne gegen den Eurocode zu verstoßen. Die Folge: Der Nachweis, dass alle vier Dübel wirken, gelang wegen Ausschluss Betonkantenbruch und Versagen der Dübel durch Stahlbruch.
In Anchor Profi sind nach Angaben des Herstellers Rechenmodule integriert, die nicht nur die Stärken von starren, sondern auch von elastischen Ankerplatten korrekt berechnen. Dabei folge die Software-Entwicklung mathematisch dem Eurocode EN 1992–4 und den Erläuterungen zu dieser Norm.
„Aktuell folgen die Dübel-Hersteller mit ihren Zulassungen aber streng genommen nicht genau den Empfehlungen des aktuellen Eurocode“, so die Meinung am KKM. Das führe oft dazu, dass Nachweise nicht gelingen oder dass es zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt.
Sicherheitstechnische Bedeutung bestimmt, welche Kräfte wirken
Mit Anchor Profi lassen sich laut Hersteller für Befestigungsmittel die Spannungsverteilung in der Ankerplatte, die Ankerzug- und die resultierenden Betondruckkräfte ermitteln. Das erlaubt dem Anwender, die Werte für die Steifigkeit von Verankerungen zu verändern. Die Berechnungsparameter für die Ermittlung der Ankerschnittkräfte seien somit wirklichkeitsnah integriert.
Auch Ermüdungs-Bemessungen lassen sich durchführen. Anhand der Lastspiele von Kranen kann die Ermüdung dabei anwendungsorientiert bemessen werden. Das funktioniert ebenfalls in Anlehnung an den Eurocode EN 1992–4 – ohne von den Herstellerzulassungen abzuweichen.
Sicherheitsrisiken vermeiden
Mit dem Modell der elastischen Ankerplatte und mit der Steifigkeitsbedingung für starre Ankerplatten lassen sich nach Angaben des Herstellers Sicherheitsrisiken vermeiden, die aufgrund der Annahme starrer Ankerplatte ohne Nachweis ihrer Steifigkeit bei der Ankerbemessung entstehen. Seit Dezember 2022 ist Anchor Profi in der Version 3.4.7 verfügbar.
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