Blick über den Geotechnik-Tellerrand
Wohin führt die Digitalisierung so „bodenständige“ Branchen wie das Bauwesen und die Geotechnik? Der diesjährige Geotechnik-Konvent versuchte am 12. und 13. Mai eine Antwort auf diese Frage zu geben.
In der traditionell „bodenständigen“ Baubranche und der Geotechnik hat die Digitalisierung den Status von Forschungsprojekten längst hinter sich gelassen. Ausgereifte digitale und automatisierte Lösungen kommen bereits in unterschiedlichen Bereichen zum Einsatz und dienen zum Beispiel der Fertigungs- und Prozess-Effizienz, der Arbeitssicherheit und -erleichterung, nicht zuletzt aber auch der Erschließung neuer Geschäftsfelder.
Digitaler Zwilling als Herausforderung für Ingenieurwissenschaften
Mit der TU Berlin stand dem Veranstalter Uretek ein renommierter Partner an der Seite. Und so eröffnete Prof. Dr.-Ing. Frank Rackwitz, Leiter des Fachgebiets Grundbau und Bodenmechanik den Konvent mit seinem Vortrag „Digitalisierung in der Geotechnik – quo vadis?“ Darin bezeichnete er die Idee des „Digitalen Zwillings“ als aktuell größte Herausforderung in den Ingenieurwissenschaften. Neben der Notwendigkeit weitere Grundlagenforschung in Bodenmechanik und Grundbau seien vor allem Verbundforschungsvorhaben und Vernetzung das Gebot der Stunde.
Zu selten nutzbar: das Fachmodell Baugrund
Prof. Dr.-Ing. habil. Sascha Henke von der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg stellte als Mitglied des Arbeitskreises Digitalisierung in der Deutschen Gesellschaft für Geotechnik das Fachmodell Baugrund in den Mittelpunkt seines Vortrags. Er bemängelte, dass allzu häufig die Baugrunderkundung planungsbegleitend durchgeführt wird und das Fachmodell Baugrund dadurch kaum genutzt werden könne. Ferner forderte er die Entwicklung allgemeingültiger Objektkataloge für die Geotechnik. „BIM ist eine Herausforderung – aber sie ist sicher zu bewältigen“, so sein Fazit.
Science Slam zu wissenschaftlichen Abschlussarbeiten
Anschließend wurde auf der Bühne in der Alten Försterei ein Science Slam-Wettbewerb geboten. Vier Absolventinnen und Absolventen des Bauingenieurwesens der TU Berlin stellten in fünfminütigen Kurzvorträgen ihre Abschlussarbeiten vor. Und das auf eine recht unterhaltsame Weise – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Geotechnik-Konvents waren begeistert. Der Herausforderung gestellt hatten sich:
- Marlene Steggewentz, M. Sc.: Wellen absorbierende Ränder in einer dynamischen Erdbebensimulation
- Michelle Döbber, M. Sc. und Björn Bodner, M. Sc.: Verfestigung organischer Böden – wie Huminstoffe die Zementhydratation beeinflussen
- Sigrid Wilhelm, B. Sc.: Ingenieurstatistik – wie sehr vertrauen Sie Ihren Baugrundaufschlüssen und dem Transformationsmodell?
Blick über den Tellerrand
Dipl.-Ing. (FH) Michael Assig von der Laserscan Berlin 3DSolutions GmbH blickte unter der Überschrift „Moderne Vermessung für Industrie und Kultur“ über den Tellerrand der Geotechnik. Er stellte Möglichkeiten der Lage- und Höhenvermessung bis zu einer Genauigkeit von 0,01 Millimeter vor, die eine große Hilfe bei der Planung, beim Bauprozess und auch bei der Abrechnung sind.
Welche Vorteile kann die digitale Datenerfassung im Feld liefern? Dieser Frage gingen drei Vertreter der Affinis Solutions GmbH aus Bremen nach. So könnten eine Reihe von Medienbrüchen eliminiert, Erfassungsfehler vermieden und Zeit gespart werden. „Software ersetzt niemals Fachwissen und übernimmt auch nicht das Denken!“, warnte Geologe Simon Mai, M. Sc.
Die Idee des Digitalen Zwillings aus dem Eröffnungsvortrag griff Dr. Fabian Schmid auf, der Leiter Entwicklung digitaler Werkzeuge und Systemintegration der SE Commerce GmbH, die sich als Technologieführer im Fassadenbau sieht. Das Unternehmen setzt sich intensiv mit neuen digitalen Werkzeuge und Techniken für das Bauwesen auseinander. „Neue Technologien werden das Bauwesen in Zukunft verändern“, so Schmid. „Man kann heute schon bei der Wahl von Technologien auf zukunftssichere und flexibel anwendbare IT-Lösungen setzen, ohne sich in Zukunft Möglichkeiten zu verbauen.“
Podiumsdiskussion fragt nach den Kosten
Erstmals fanden sich die Vortragenden zur abschließenden Podiumsdiskussion auf der Bühne ein. Einig waren sich die Teilnehmer bei der Forderung nach einer Standardisierung, aber keiner Regulierung der Digitalisierung im Bauwesen. Keine Einigkeit herrschte allerdings bei der Frage, wie die Kosten der Digitalisierung im Angebots- und Auftragsprozess, beispielsweise von einem Bodengutachter, aufgefangen werden können.
Bei allen denkbaren Vorbehalten gegenüber Innovationen und neuen Technologien: Fest steht, dass sich die Digitalisierung bei allen nicht ersetzbaren Handwerken, also auch „am Bau“, durchsetzen wird. Es ist daher sehr sinnvoll, sich eingehend mit den Möglichkeiten zu beschäftigen, die sich bieten – und sie für die eigenen Einsatzzwecke zu prüfen. Ein besseres, tieferes Verständnis für die Grundlagen der IT ist dafür unerlässlich.
Impulsvortrag über ein gespaltenes Land
Den Impulsvortrag hielt in diesem Jahr Kerstin Kohlenberg, die bis vor kurzem als ZEIT-Korrespondentin in den USA weilte. Sie zeichnete das Bild eines gespaltenen Landes, in dem immer mehr Menschen abgehängt würden. Faszinierende Einblicke und O-Töne einiger Protagonisten sorgten für Spannung und Aufmerksamkeit im Plenum.
Beim abendlichen Dinner hatten die Teilnehmer wie immer Zeit zum Networken und sich noch einmal angeregt – wie auch schon in den über den Tag verteilten Pausen – über die Fachvorträge des Tages auszutauschen.
Am zweiten Tag des Geotechnik-Konvents stand eine Exkursion auf dem Programm. Den Rahmen dafür bot der Flughafen Tempelhof. Eine Gruppe ging dem „Mythos Tempelhof“ nach, eine andere Gruppe besichtigte „verborgene Orte“.
Der 9. Deutsche Geotechnik-Konvent wird am 2. und 3. März 2023 in Hamburg stattfinden.