„Normenreduziert“ einfacher und günstiger, aber rechtssicher planen und bauen
Großes Potenzial verspricht die Initiative zum Gebäudetyp E, die aus Bayern stammt und mittlerweile auf Bundesebene diskutiert wird.
Großes Potenzial, um nachhaltiges Bauen günstiger, schneller und innovativer zu gestalten, verspricht die Initiative zum Gebäudetyp E, die während der BAU2023 bei einem Pressegespräch des Fachverbands für vorgehängte hinterlüftete Fassaden e.V. (FVHF) mit Planern, Politik und Handwerk interdisziplinär diskutiert wurde.
Die „Big Six“-Hinderrnisse aus dem Baukultur-Bericht
Unter dem Titel „Mehr Innovation wagen: Gebäudetyp E – Modell für eine sozialere, ökologischere, ökonomischere Architektur?“ hatten am Messe-Dienstag (18. April 2023) der FVHF und die Bundesstiftung Baukultur zum Austausch geladen, die als Standpartner schon seit vielen Jahren gemeinsam auf der BAU in München auftreten.
Begrüßt von FVHF-Vorstand Andreas Reinhardt stellte Dr. Claudia Rudisch, Presse-Referentin der Bundesstiftung Baukultur, den neuen Baukultur-Bericht zur Umbaukultur vor, der einen Paradigmenwechsel einläuten und begleiten soll, indem er den Umbau in den Vordergrund rückt: Die Wertschätzung für den Bestand soll dabei auch der Begriff „goldenen Energie“ (statt „graue Energie“) ausdrücken.
Anhand beispielhafter Projekte zeigt sich, wie im Bestand vieles neu gestaltet und auf einfache Weise weiterentwickelt werden kann. Die Stiftung Baukultur hat allerdings auch Hürden für den Umbau identifiziert und mit Fachleuten diskutiert. Diese „Big Six“ machen es nach Angaben der Stiftung schwierig, Umbauvorhaben zum Erfolg zu führen.
Der Gebäudetyp E – eine Initiative der Bayerischen Architektenkammer
Florian Dilg, Geschäftsführer von Architektur:Zwingel/Dilg beklagte speziell den aufgrund vieler Normen eingeengten Spielraum für Bauherren, Architekten und Planer beim Bauen. „Die Normen wirken veränderungsfeindlich und hemmen die Innovationsbereitschaft aller Beteiligten.“
Einen neuen Weg biete dagegen der Gebäudetyp E, der für „einfach“ und „experimentell“ steht. Diese Initiative der Bayerischen Architektenkammer will abweichend von geltenden Normen und anerkannten Regeln der Technik einen Gebäudetyp etablieren, der nachhaltiges Bauen innovativer und zugleich schneller und günstiger, aber auch rechtssicher für Planer, Verarbeiter und Bauherrn machen soll.
Dabei verständigen sich Bauherr und Planer am Anfang eines Projekts sorgfältig über Ziele und – mit den ausführenden Unternehmen – über die Umsetzung eines Projekts, das sie vertraglich dem Gebäudetyp E zuordnen, um Normen zwar als Orientierung zu verstehen, aber Abweichungen prinzipiell möglich zu machen. Um zu einem solchen „normenreduziertes Planen und Bauen“ zu gelangen, soll der derzeit existierende Korpus an Normen und Richtlinien an zwei Stellen aufgebrochen werden, so Dilg:
- Einerseits sollen die öffentlich-rechtliche Anforderungen der Bauordnung, in denen auf die einzuhaltenden technischen Baubestimmungen verwiesen wird, für den Gebäudetyp E nicht mehr verpflichtend sein (einzuhalten sind jedoch die Schutzziele der Bauordnung).
- Andererseits soll eine Öffnungsklausel im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) das Schulden eines mängelfreien Werkes nicht mehr zwingend für diesen Gebäudetyp festschreiben, um Planer, Bauherren und ausführende Firmen aus der Haftung entlassen sind, wenn sie andere Wege gehen wollen.
Start mit „fachkundigen Bauherren“
Zunächst soll diese Art der Durchführung von Bauprojekten – aus juristischen Gründen, da dann das Verbraucherschutzrecht nicht greift – nur mit „fachkundigen Bauherren“ zur Anwendung kommen. Dieser juristische Kniff würde die praktische Umsetzung vereinfachen, betonte Dilg, weil er spätere juristische Auseinandersetzungen unterbindet.
Derzeit arbeitet nach Angaben von Dilg eine bundesweite Initiative auf Bundesarchitekten-Ebene, die in Kontakt mit obersten Bauaufsichten verschiedener Bundesländer und der Bauministerkonferenz ist, die sich mit der Musterbauordnung beschäftigt. Daneben gibt es auch Kontakte zum Bundesjustizministerium.
Mit Augenmaß von Normen abweichen, ohne Schutzziele zu gefährden
„Wir wollen nicht das ganze System abschaffen, sondern neue Möglichkeiten erzeugen und es Architekten und fachkundigen Bauherren gestatten, wo sinnvoll, von der Norm abweichen zu können und das vertraglich zu vereinbaren“, fasste Dilg, der auch Leiter der Taskforce Gebäudetyp E der Bundesarchitektenkammer ist, in einem Impuls-Statement die Idee samt ihrer Herausforderungen zusammen.
„Dabei bleiben natürlich die Schutzziele der Bauordnung in Bezug auf Standsicherheit, Brandschutz, Umweltschutz, gesunde Lebensverhältnisse und Wärmeschutz unberührt“, führte er nach Rückfragen aus dem Publikum der Fachjournalisten weiter aus.
Ziel sei es nicht das System der Normen abzuschaffen, sondern auf sehr transparente Art und Weise einen alternativen Weg zu etablieren, der neue Türen öffnen könne. „Transparenz ist ganz wichtig für die weitere Nutzung und Vermarktung der Gebäude!“, so Dilg.
Bayern unterstützt Einführung des Gebäudetyps E
Dass der Bayerische Landtag sich für die Einführung des Gebäudetyps E in Bayern einsetzt und Pilotprojekte unterschiedlicher Nutzung vorbereitet, ist Sebastian Körber, baupolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion Bayern und Vorsitzender des Ausschusses für Wohnen, Bau und Verkehr im Bayerischen Landtag, zu verdanken.
Auf bemerkenswerte Weise ist dem Architekten ein parteiübergreifender Schulterschluss gelungen, um das Thema auf eine breite Basis zu stellen, so der FVHF. „Der Gebäudetyp E steht nicht nur für einfach, sondern bewusst für experimentell – aus meiner Sicht eine große Chance für den Bestand und auch um Kosten zu sparen“, betonte Körber.
Leitthemen „Ressourcenschonung und CO2-Einsparung“
Als Spezialist für Fassadenfachplanung weitete Florian Scheible die Perspektive. Der Geschäftsführer von Schöne Neue Welt Ingenieure sieht die Chance, dass „innovative Verfahren, Konstruktionen und Technologien kreislauffähiges Bauen möglich machen. “ Dazu müssen sich Planer bei der Gestaltung von Gebäuden genauso wie bei der Konstruktion und schließlich in der Vergabe an den Leitthemen „Ressourcenschonung und CO2-Einsparung“ orientieren.
Auch für das Handwerk erkennt Martin Jax, Geschäftsführer von S+T Fassaden, einen echten Mehrwert darin, „durch frühzeitige Einbindung das Know-how der ausführenden Gewerke in den Prozess einzubringen, um einfache und sichere Lösungen zu entwickeln.“ Und Andreas Reinhardt, Vorstandsvorsitzender des FVHF verspricht sich „großes Potenzial, um einen Beitrag zu leisten zu einer sozialeren, ökonomischeren und ökologischeren Architektur“.
Bei aller Einfachheit die Ästhetik nicht vergessen
Bei aller Begeisterung für den Gebäudetyp E mahnte Moderator Prof. Jan R. Krause, dass Einfachheit kein Selbstzweck sei. In diesem Sinne sprach Dr. Claudia Rudisch von der Bundesstiftung Baukultur das passende Schlusswort: „Vergesst nicht die Ästhetik. Denn Schönes wirft man nicht weg. Und das ist wahre Nachhaltigkeit.“
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