Verstärken statt neu bauen
Eingeklebte Betonschrauben machen‘s möglich: Nachträgliche Querkraftverstärkung der Tiefgaragendecke des Bürgerhauses in Gräfelfing
Die Baubranche steht vor der großen Herausforderung der Sanierung, Umnutzung, Aufstockung und Erweiterung von Bestandsbauwerken. Statt neue Gebäude zu errichten, werden vorhandene Strukturen weiterentwickelt und optimiert, um aktuellen Anforderungen gerecht zu werden. Diese Herangehensweise schont nicht nur Ressourcen, sondern trägt auch zur Bewahrung historischer Bausubstanz bei. So eröffnen Umnutzungen neue Perspektiven für bestehende Bauwerke, indem Funktion und Nutzung angepasst werden. Aufstockungen wiederum schaffen zusätzlichen Wohn- oder Arbeitsraum, ohne neue Flächen zu versiegeln. Die Bedeutung der Sanierung, Umnutzung, Aufstockung und Erweiterung von Bestandsgebäuden wächst kontinuierlich und leistet einen essenziellen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung unserer gebauten Umwelt.
Das Relast-System
Zur effektiven Verstärkung braucht es innovative Systeme, welche nicht nur einen hohen Verstärkungsgrad bei einer geringen Anzahl von Verstärkungselementen aufweisen, sondern auch eine möglichst schnelle und einfache Installation ermöglichen. Mit Hilfe eingeklebter Betonschrauben (Bild 2) lassen sich Bauwerke hinsichtlich ihrer Querkraft- oder Durchstanztragfähigkeit effektiv und schnell verstärken (der Bauingenieur hat in der Ausgabe 01-02|2024 ausführlich über das Relast-System berichtet.)
Querkraftverstärkung des Bürgerhauses in Gräfelfing
Das Ensemble von Bürgerhaus, Schülerbibliothek, Kino und Konzertsaal der Gemeinde Gräfelfing wurde vor genau 40 Jahren eröffnet. Die Bauteile sind teil-unterkellert und stehen bereichsweise auf der anschließenden Tiefgarage. Seit dem Jahr 2023 wird das Bürgerhaus umfassend erweitert und modernisiert, um den vielfältigen Anforderungen der heutigen Zeit besser gerecht zu werden (Bild 1). Die Erweiterung umfasst unter anderem eine großzügige Bühne für den Konzertsaal sowie einen Anbau mit unterschiedlichen Nutzungen. Die geplanten Maßnahmen sollen sicherstellen, dass das Bürgerhaus als zentraler Treffpunkt und Veranstaltungsort weiterhin eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen und kulturellen Leben Gräfelfings spielt.
Ein erheblicher Teil der Erweiterung wurde auf der bislang überschütteten Tiefgaragendecke errichtet. Die bisherige Überschüttung musste höhenmäßig an die anschließende öffentliche Straße angepasst und für den Zulieferverkehr für die neue Bühne im Konzertsaal befahrbar gestaltet werden. Durch diese Anpassungen entstehen in diesem Bereich der Tiefgaragendecke zusätzliche Belastungen, die zuvor nicht eingeplant waren. Entsprechend mussten spezielle bauliche Maßnahmen ergriffen werden, um die Tragfähigkeit der Konstruktion zu gewährleisten.
Konstruktion der Tiefgaragendecke
Die vorhandene Tiefgaragendecke besteht im Wesentlichen aus schlanken, einachsig gespannten Stahlbetonplatten, die auf breiten durchlaufenden Unterzügen ablasten. Die gesamte Tiefgaragendecke wurde in Ortbeton in WU-Bauweise ausgeführt. Zur Begrenzung der anzusetzenden Betonzugfestigkeiten für die Ermittlung der Bewehrung zur Rissbreitenbegrenzung wurde planmäßig ein B25 gewählt. Die Plattenstärke wurde mit 30 Zentimetern so festgelegt, dass am maßgebenden Bemessungsquerschnitt der Deckenplatte gerade keine „Schubbewehrung“ erforderlich wurde. Nach damaliger Norm DIN 1045 (12.78) wurde dies durch die Begrenzung der Schubspannung auf den sogenannten Wert von „t011“ für B25 erreicht. Sämtliche Deckenplatten wurden daher damals ohne Querkraftbewehrung ausgeführt.
Für die nun geforderten zusätzlichen Belastungen sind damit jedoch keinerlei Reserven für die Querkrafttragfähigkeit vorhanden. Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund der Umbau- und Änderungsmaßnahmen die statischen Nachweise nach dem aktuellen Regelwerk Eurocode 2 (DIN EN 1992–1–1/NA) zu führen sind. Im Regelfall führt dieser Wechsel der Bemessungsnorm bei bestehenden Stahlbetonplatten ohne Querkraftbewehrung rechnerisch zu deutlich zu geringen Tragfähigkeiten oder zu erheblichen Defiziten beim Querkraftnachweis.
Die statischen Untersuchungen der Bestandsbauteile der Tiefgarage, also der Unterzüge, der Stützen und der Wände, ergaben umfangreiche Tragfähigkeitsreserven bei allen Bauteilen mit Ausnahme der Stahlbetonplatten. Für die Biegetragfähigkeit der Deckenplatte konnte mit genaueren Nachweisen an den maßgebenden Anschnitten im Vergleich zur ursprünglichen Bemessung und mit Ansatz von zulässigen Umlagerungen ausreichende Tragreserven nachgewiesen werden, so dass lediglich für die Querkrafttragfähigkeit der Stahlbetonplatte an einigen Stellen nicht mehr hinnehmbare Überschreitungen des Bemessungswiderstands verblieben.
Lösungsvarianten
Im vorliegenden Fall haben sich drei Lösungsvarianten angeboten:
- Nachweis von Bemessungsreserven durch vorhandene Überfestigkeiten des Betons der Bestandsbauteile. Im Bereich der größten auftretenden Plattenquerkräfte wäre ohne Querkraftbewehrung rechnerisch eine Betonfestigkeitsklasse von C 35/45 notwendig. Der damals planmäßig hergestellte B25 nach DIN 1045 (12.78) müsste demnach erhebliche Überfestigkeiten aufweisen. Eine belastbare Aussage ist nur mit zerstörenden Untersuchungen möglich. Dazu muss eine verhältnismäßig große Anzahl von Bohrkernen – zwischen den engen Bewehrungslagen hindurch – entnommen und beprobt werden. Einzelne Druckprüfungen der Bohrkerne aus den Stützenfüßen haben jedoch bereits gezeigt, dass die notwendige Druckfestigkeit eines C 35/45 voraussichtlich nicht zu erreichen ist. Diese Variante wurde deshalb nicht weiterverfolgt.
- Teilabbruch der Deckenplatten im Bereich der Überschreitungen des Querkraftwiderstands ohne Querkraftbewehrung, Einbau einer geeigneten Querkraftbewehrung und anschließender Wiederaufbau. Aufgrund der zusätzlichen Belastungen wäre bei dieser Variante für den nachträglichen Einbau der notwendigen Querkraftbewehrung ein Betonabtrag an den Deckenplatten-Auflagern von circa 25 bis 30 Kubikmeter notwendig geworden. Der Abtrag müsste unter Erhalt der gesamten Bewehrung in der oberen und unteren Lage erfolgen, was technisch und zeitlich nur mittels Höchstdruckwasserstrahlen (HDWS) sinnvoll zu erreichen ist. Abgesehen von den hohen Kosten für den Abtrag kämen noch der Aufwand für die Hilfsabstützungen im Bauzustand und für die notwendigen Lärmschutz-Einhausungen zum Schutz der umliegenden Wohnbebauung hinzu. Diese Variante wurde deshalb ebenfalls nicht weiterverfolgt.
- Nachträgliche Verstärkung durch die Erhöhung der Querkrafttragfähigkeit mit Verbundankerschrauben. Mit den Relast Verbundankerschrauben können zielgenau alle Bereiche der Stahlbeton-Deckenplatten, an denen die Querkrafttragfähigkeit ohne Querkraftbewehrung aufgrund der zusätzlichen Belastungen nicht mehr ausreicht, nachträglich verstärkt werden. Es ist kein Betonabtrag notwendig. Mithilfe genauer statischer Berechnungen können diese Bereiche exakt eingegrenzt werden, um die Verstärkungen möglichst wirtschaftlich zu gestalten. Zudem besitzt das System eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung.
Ablauf der Montage
Die Verbundankerschrauben konnten an der Decke der Tiefgarage von der Unterseite her eingebracht werden. Vorteil des Systems ist, dass es ausreicht, die speziellen Schrauben bis zur Unterkante der oberen Plattenbewehrungslagen einzubringen (Bild 3). Hierdurch wird ausgeschlossen, dass es während der Bohrlocherstellung zu Beschädigungen der vorhandenen Bewehrung kommt.
Nach dem zerstörungsfreien Detektieren und Markieren der beiden unteren Bewehrungslagen der Decke mit Hilfe von Bewehrungsscans wurden die Bohrungen nach den Plänen des Tragwerksplaners angezeichnet und die Verstärkungselemente installiert (Bild 4 und 5). Für die Überkopfbohrungen wurde eine eigens für diese Montage angepasste Bohrhilfe der ausführenden Firma verwendet.
Anschließend konnten die Verbundankerschrauben unabhängig von der Witterung nach den Vorgaben der Allgemeinen bauaufsichtlichen Zulassung oder der Allgemeinen Bauartgenehmigung gesetzt werden.
In der Tiefgarage wurden in 22 überlasteten Deckenbereichen insgesamt über 1 100 Relast Verbundankerschrauben mit einem Durchmesser von 16 Millimetern eingebaut.
Resümee
Der Einsatz der Relast Verbundankerschrauben ermöglichte eine wirtschaftliche, effiziente und in kurzer Zeit realisierbare Verstärkung der bestehenden Stahlbetondecke der Tiefgarage unter dem Bürgerhaus in Gräfelfing. Das spezielle System bot eine effektive Lösung zur Erhöhung der Querkrafttragfähigkeit der Deckenkonstruktion, ohne dass umfangreiche und kostenintensive Abbruch- oder Ersatzneubauarbeiten erforderlich waren. Dadurch konnten die Arbeiten nicht nur zügig abgeschlossen werden, sondern auch erhebliche Belastungen für die Umwelt vermieden werden.
Die Entscheidung, auf Abbruch- und Neubauarbeiten zu verzichten und stattdessen eine Verstärkung der vorhandenen Strukturen vorzunehmen, leistet einen wichtigen Beitrag zu nachhaltigem Bauen und zum Klimaschutz. Durch diese Herangehensweise werden Ressourcen geschont, die Entstehung von Bauschutt und Abfallmaterialien minimiert und die CO2-Emissionen, die mit herkömmlichen Bauverfahren verbunden sind, deutlich reduziert. Somit zeigt das Projekt, wie innovative Systeme zu einer ökologisch und wirtschaftlich sinnvollen Bauweise beitragen können. n
Projektbeteiligte
Und diese Partner waren am Projekt beteiltigt: Gemeinde Gräfelfing (Bauherr), Molenaar Architekten und Stadtplaner BDA, München (Architektur), Suess Staller Schmitt Ingenieure GmbH, Gräfelfing (Tragwerksplanung), Wayss & Freytag Ingenieurbau AG, München (ausführende Firma / Baumeister).
Literatur:
- [1] Felix, J.; Lechner, J. : Das neue Bauaufsichtlich zugelassene System Relast zur nachträglichen Bauwerksverstärkung: Von der Grundidee über wissenschaftliche Forschung zur Zulassung. In: Das Planermagazin für Ingenieure, Architekten und Planer 14 (2020), Heft 19.
- Strobl, F.: Eingeklebte Betonschrauben: Bauwerke nachträglich verstärken. In: Bauingenieur, Jahrgang 99 (2024), Heft 01-02.
Markus Staller, Suess Staller Schmitt Ingenieure GmbH, Foto: Suess Staller Schmitt Ingenieure und Fabian Strobl, Adolf Würth GmbH & Co. KG, Foto: Würth