Innovative Bemessung entwickelt: Das nicht-lineare Federmodell
Mit dem nicht-linearen Federmodell können Planerinnen und Planer Verankerungen in Beton realitätsnah berechnen. Wir sprachen mit Dr. Boglárka Bokor und Dr. Thilo Pregartner über den Weg zu dieser neuartigen Berechnungsmethode und welche Lösungen sie in der Praxis bietet.
Frau Dr. Bokor, was hat Sie motiviert, das nicht-lineare Federmodell für die realitätsnahe Berechnung von Verankerungen in Beton zu entwickeln?
Bokor: Zur Entwicklung des nicht-linearen Federmodells hatte ich insgesamt zwei Beweggründe. Die Digitalisierung hält immer mehr Einzug in die Bauindustrie. So muss auch die Ankertechnologie mit diesem Tempo Schritt halten. Je mehr Informationen zur Verfügung stehen und je präziser das Verhalten von Komponenten beschrieben werden kann, ein desto besseres Bild entsteht über das Verhalten eines Gesamtsystems. In der Tragwerksplanung werden zunehmend verschiebungsbasierte Ansätze für eine bessere und realistische Bewertung des Tragwerksverhaltens eingesetzt. Auch für die Befestigungsbranche besteht ein Bedarf nach solchen Ansätzen für die Bemessung, die ein realistisches Verankerungsverhalten unter Berücksichtigung der relevanten Parameter, wie Ankersteifigkeit, Ankerplattengeometrie, Ankeranordnung usw., berücksichtigen können.
Der zweite, und eher technische Aspekt ist, dass die Bemessung von Verankerungen zwar eine flexible Anwendung in Bezug auf Ankergröße, Ankerabstand, Randabstand, Einbindetiefe und Betonfestigkeit bietet. Allerdings ist der Umfang der Konfigurationen, die von den aktuellen Bemessungsvorschriften abgedeckt werden, eher begrenzt und für zugbelastete Verankerungen ist die Verwendung einer ausreichend steifen Ankerplatte erforderlich.
Es stellt sich die Frage, was wir mit Verankerungen machen, die über den Anwendungsbereich der aktuellen Bemessungsrichtlinien hinausgehen, aber aufgrund von technischen, funktionalen oder architektonischen Anforderungen trotzdem verwendet werden. Meine größte Motivation war es, für solche Anwendungen eine Lösung zu finden und zu bieten. Deshalb habe ich im Rahmen meiner Dissertation an der Universität Stuttgart, die 2021 erschien, einen nicht-linearen Federmodellansatz für die realitätsnahe Berechnung und Bewertung von Gruppenbefestigungen beliebiger Anordnungen in Beton entwickelt und validiert. Dieses Modell erfordert keine Definition einer steifen Ankerplatte, sondern ermittelt automatisch den Widerstand der Gruppe in Abhängigkeit der vorhandenen Ankerplatten- und Dübelsteifigkeit, wobei beliebige Ankeranordnungen, Ankerplattengeometrien und Einflüsse wie Lastexzentrizität, Rissmuster sowie eine realistische Lastverteilung und Umverteilung, berücksichtigt werden. Mit solchen Ansätzen haben wir die Möglichkeit, das Verhalten von Verankerungen in ein Tragwerksmodell zu integrieren, so dass alle strukturellen und nicht-strukturellen Interaktionen berücksichtigt werden können.
Bemessung von Ankerplatten ausweiten
Herr Dr. Pregartner, was gab den Ausschlag dafür, dass die Unternehmensgruppe fischer das Forschungsprojekt zum nicht-linearen Federmodell unterstützt hat und die neue Bemessungsmethode jetzt im weiteren Verlauf in die fischer FiXperience Bemessungssoftware implementiert sowie kontinuierlich weiterentwickelt?
Pregartner: Unser Unternehmen arbeitet zum Thema Befestigungen schon lange und intensiv mit Universitäten zusammen. So sind wir aktuell in viele Forschungsprojekte eingebunden, die das Fachgebiet und die Bemessungsregeln der Befestigungstechnik auf internationaler Ebene weiter voranbringen.
Normen, wie EN 1992–4, stoßen speziell bei der Geometrie von Ankerplatten bei der Bemessung von Gruppenbefestigungen in Beton an ihre Grenzen. Für dieses viel diskutierte Problem der Befestigungstechnik wollen wir unseren Kunden eine flexible, effiziente, sichere und präzise Lösung anbieten. Dies war der Beweggrund für die Unterstützung des Projekts zur Entwicklung des nicht-linearen Federmodells. Der innovative Bemessungsansatz ermöglicht eine fundierte, realitätsnahe und gesamthafte Beurteilung eines kompletten Befestigungspunktes. Im Fokus der Unternehmensgruppe fischer steht auch der Austausch mit Endnutzern der Bauindustrie, um noch besser auf deren Bedürfnisse und Anforderungen einzugehen. Neues Wissen wollen wir stets in der Praxis nutzbar machen. Um die Bemessung von Anwendungen und Projekten mit den linearen und nicht-linearen Federmodellen weiter zu vereinfachen, ist die Implementierung in unsere fischer FiXperience Bemessungssoftware der nächste logische Schritt, der in enger Zusammenarbeit mit dem Kompetenzteam Ingenieurdienstleistung/Software/BIM der Unternehmensgruppe fischer erfolgt.
Beliebige Verankerungen realitätsnah berechnen
Worin genau bestehen die Grenzen aktueller Bemessungsgrundlagen der Ankerplatten in der EN 1992–4?
Pregartner: Die europäische Norm EN 1992–4 und ihr amerikanisches Pendant ACI 318 beschränken sich auf rechteckige Anordnungen von bis zu neun Dübeln mit maximal 3×3-Konfiguration. Zudem wird in den Vorschriften eine ausreichende Steifigkeit von Ankerplatten gefordert. Dabei ist die Ankerplattensteifigkeit die Voraussetzung, um entsprechend der aktuellen Normen mit dem Ansatz einer linearen Dehnungsverteilung die interne Kraftverteilung einer Dübelgruppe zu ermitteln, wobei zusätzlich Hebelkräfte berücksichtigt werden. Einflüsse, wie zum Beispiel die Nähe der Betonkante(n) oder die Belastungsexzentrizität, werden durch verschiedene empirische Faktoren berücksichtigt, die auf der Grundlage der verfügbaren Versuchsdaten an meist Einzelankern und 2×2 Ankergruppen ermittelt wurden und möglicherweise nicht direkt auf größere als 3×3 Ankergruppen anwendbar sind.
In der Baupraxis stellt es ein häufiges Problem dar, zulässige Dübel-Anordnungen zu bemessen, die von den Regelungen in den aktuell gültigen Bemessungsnormen abweichen. Genauso schwierig ist es, die Definitions-Lücke bei der Ankerplatten-Steifigkeit zu schließen. Mit Federmodellen bieten wir unseren Kunden ein Instrument an, um Verankerungen zu bemessen, die für Anwendungen und Projekte oft erforderlich sind, aber durch die derzeit verfügbaren Standard-Bemessungsmethoden nicht abgedeckt werden.
Federmodelle ermöglichen ebenfalls den Nachweis der Ankerplattensteifigkeit realer Befestigungssituationen. Die Kräfteverteilung und Kräfteumlagerung innerhalb von Ankergruppen können durch die Lösungsansätze berechnet werden. Zugleich lassen sich Verformungen und Spannungen in Ankerplatten unter Krafteinfluss berechnen.
Verankerungen durch das nicht-lineare Federmodell richtig verstehen
Wie kann das nicht-lineare Federmodell Probleme lösen und welche Bedeutung hat es für die sichere Bemessung von Verankerungen?
Bokor: Das reale Verhalten der Verankerungen unter Belastungen ist nicht-linear, aber zur Vereinfachung wird in den derzeitigen Bemessungsansätzen ein linear-elastisches Verhalten angenommen. Dies trägt dazu bei, das Problem als kraftbasiert und nicht als wegbasiert zu betrachten. Diese Vereinfachung geht jedoch auf Kosten der Bemessungsregeln, die eher begrenzt sind. Im nicht-linearen Federmodell ist es der wichtigste Fortschritt, dass das tatsächliche nicht-lineare Verhalten der Dübel berücksichtigt wird. Dadurch wird es uns ermöglicht, viele Probleme zu lösen, die mit den derzeitigen Ansätzen nicht realisierbar sind. Natürlich ist es nicht so einfach, und es müssen viele Regeln beachtet werden. In meiner Dissertation habe ich eine Reihe von Regeln entwickelt, die es uns ermöglichen, das nicht-lineare Verhalten der Anker auch im Falle von Betonversagen zu berücksichtigen. Diese Regeln sind objektiv gestaltet, verifiziert und nachvollziehbar. Ein weiterer großer Vorteil ist, dass wir keine empirischen Faktoren oder Korrekturfaktoren in dem nicht-linearen Federmodell benötigen. Sobald man ein Modell nach den Modellierungsregeln erstellt hat, sind keine weiteren Faktoren zur Berücksichtigung der Lastposition oder anderer Aspekte erforderlich.
Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den herkömmlichen Ansätzen ist der Output des nicht-linearen Federmodells. Die derzeitigen Ansätze liefern, wenn sie überhaupt anwendbar sind, nur den Widerstand in Form der Kraft, die von der Verankerung getragen werden kann. Im Gegensatz dazu erhalten wir mit dem nicht-linearen Federmodell nicht nur die Lasttragfähigkeit, sondern das vollständige Last-Verschiebungs-Verhalten der Verankerung. Das bedeutet, dass wir das reale Verhalten der Verankerung nachvollziehen und simulieren können, und bei Bedarf auch in die Tragwerksmodelle integrieren können.
Es ist uns klar, dass es viele Anwendungen gibt, bei denen die Planerin und der Planer nicht das vollständige nicht-lineare Verhalten der Verankerung benötigt, sondern nur wissen möchte, ob die Tragfähigkeit der Verankerung für die angewandte Kombination von Lasten und Momenten ausreicht. Allerdings können die aktuellen, auf den Normen basierenden Methoden nicht angewendet werden, da die Voraussetzung „starre Ankerplatte“ nicht erfüllt ist. Mit dem Federmodell benötigen Planer jedoch keinen Steifigkeitsnachweis und können die Kraftverteilung zwischen den Ankern einer Gruppe direkt aus der Analyse erhalten. Wenn wir jedoch nicht das gesamte nicht-lineare Verhalten ausnutzen wollen, können wir die Tragfähigkeit der Verankerung auch nur innerhalb des linearen Bereichs der resultierenden Last-Verschiebungs-Kurve auswerten beziehungsweise nachweisen.
Kurzum könnte die Einführung von performancebasierten Methoden für die Bemessung von Verankerungen in der Befestigungstechnik die Einschränkungen der derzeitigen Methoden beseitigen und zu zuverlässigen Bemessungslösungen führen.
Für wen und für welche Befestigungsfälle eignet sich das nicht-lineare Federmodell?
Bokor: Im Prinzip kann das nicht-lineare Federmodell für die Berechnung beliebiger Verankerungslösungen im Beton verwendet werden, sofern das Verhalten der Dübel und des Anbauteils entsprechend modelliert wird. Die Frage ist jedoch, ob es wirklich für jede Anwendung erforderlich und sinnvoll ist.
Wenn wir über Anwendungen im konstruktiven Ingenieurbau sprechen, bei denen die Verankerungen dazu dienen, Bauteile wie Stahlstützen mit dem Betonuntergrund oder dem Tragwerk zu verbinden, oder wenn es sich beispielsweise um Verankerungen handelt, die zur Verstärkung von Bauwerken eingesetzt werden, ist es meiner Meinung nach nicht nur empfehlenswert, sondern sogar essenziell, das nicht-lineare Federmodell für die Verankerungen zu verwenden. Dies würde uns nicht nur helfen, das Verhalten der Verankerung selbst zu verstehen, sondern auch die Leistung der Verankerung in das Tragwerksmodell einzubeziehen und zu integrieren. Es ist bekannt, dass das Verhalten einer Tragwerksverstärkung oft von der Leistung der Verankerungen abhängt, und deshalb ist es wichtig, sie realistisch zu berücksichtigen.
Die zweite Gruppe von Anwendungen, bei denen die Verwendung des nicht-linearen Federmodells sinnvoll ist, sind Verankerungen, bei denen die Anforderung einer starren Ankerplatte für eine direkte Anwendung der derzeitigen Ansätze zu unrealistischen oder unwirtschaftlichen Ankerplattendicken führen würde. Außerdem müssen wir oft Ankerkonfigurationen verwenden, die durch die derzeitigen Bemessungsansätze nicht direkt abgedeckt sind. Oder das Betonbauteil ist so gestaltet, dass die derzeitigen Methoden nicht anwendbar sind. In all diesen Fällen kann eine Lösung des Problems mit den nicht-linearen Federmodellen erzielt werden.
Im Gespräch für die Aufnahme in die Normen
Wenn ein Planerteam das Berechnungstool bereits heute anwendet, wie ist es möglich, dass die Bemessung auch für das Bauprojekt anerkannt wird?
Pregartner: Bereits heute verwenden Ingenieure ähnliche Ansätze für den Nachweis ihrer Verankerungen in wichtigen Anwendungen. Im Austausch mit Ingenieuren, die beispielsweise viel im Stahlbau tätig sind, stellte sich heraus, dass sie solche Innovationen wie das nicht-lineare Federmodell dringend benötigen, weil sie dadurch viel Zeit und Arbeit sparen können. Wenn wir Hersteller ihnen alle produktspezifischen relevanten Parameter zur Verfügung stellen, die für das Modell benötigt werden, müssen sie keine Annahmen bezüglich der Anker treffen, was zu genaueren, viel schnelleren und zuverlässigeren Berechnungen führen würde. Federmodelle sind momentan in Bemessungsnormen für Befestigungen in Beton nicht explizit erwähnt. Sie stellen derzeit jedoch die einzige Möglichkeit dar, mit der eine ausreichende Ankerplattensteifigkeit bewertet werden kann. In Zweifelsfällen bei der Anwendung von Federmodellen wird der Kontakt mit der zuständigen Baubehörde empfohlen. Eine Zustimmung im Einzelfall (ZiE) oder ein Gutachten kann dann die Anwendung von Federmodellen im jeweiligen Projekt ermöglichen. Weiterhin wird derzeit in der Fachwelt der Befestigungstechnik die Einarbeitung von Federmodellen in die einschlägigen Normen intensiv diskutiert und vorangetrieben.
Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass der Hintergrund des nicht-linearen Federmodells in renommierten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht wurde. Der Ansatz wird auch in den internationalen Gremien diskutiert, und das Konzept ist in der wissenschaftlichen und ingenieurtechnischen Fachwelt positiv aufgenommen worden.
Den nicht-linearen Federmodellansatz in der Praxis einführen
Mit welchen Serviceleistungen unterstützt fischer das Planerteam bei der Bemessung mit nicht-linearen Federmodellen?
Pregartner: Mit zahlreichen Servicelösungen werden wir die Anwendung dieses innovativen Bemessungsverfahrens zukünftig für unsere Kunden weiter vereinfachen und beschleunigen. Zu dem Spektrum gehört eine Softwarelösung, mit der die Berechnung mit dem nicht-linearen Federmodell in Zukunft anwenderfreundlich erledigt werden kann. Hinzu kommen entsprechende Schulungen, Seminare und Workshops sowie Veröffentlichungen, mit denen wir Interessenten unsere neue Bemessungsmethode weiter verständlich und zugänglich machen. Unsere fischer Akademie bietet hierzu die passenden Online- und Präsenztrainings speziell für Planer an. In unserem neuen White Paper bringen wir zudem die Vorteile, Anwendung und Möglichkeiten linearer und nicht-linearer Federmodelle leicht verständlich auf den Punkt.
Das könnte Sie auch interessieren:
Recycling am Bau: In zehn Monaten vom Rückbau zum Re-Use