Eine vermeidbare Brandkatastrophe
Am 14. Juni jährt sich zum fünften Male die Brandkatastrophe beim Grenfell Tower in London. Ursache für die extrem schnelle Ausbreitung des Brandes war die Bauweise der Fassade und die darin verwendeten Materialien.
Innerhalb von einer halben Stunde kletterte das Feuer am Grenfell Tower in London vom vierten ins oberste Stockwerk des 24-geschossigen Wohnhauses, 72 Menschen kamen dabei ums Leben. Erst ein Jahr vor dem 14. Juni 2017 war die Fassade des Londoner Hochhauses komplett saniert worden. Das mit der Sanierung beauftragte Architekturbüro Studio E hatte jedoch keine Erfahrung mit dem Bau oder der Sanierung von Hochhäusern. Bei der Dämmung setzten die Architekten nicht auf die weitverbreiteten Wärmedämmverbundsysteme (WDVS), sondern auf das sogenannte „Rainscreen“-System, eine vorgehängte hinterlüftete Fassade ohne Brandsperren.
Im Hinterlüftungsspalt eingebauter Kamineffekt
Die äußeren Platten aus einem Aluminiumverbund (Aluminium Composite Material, ACM) schützen die dahinterliegende Isolierschicht vor nasser Witterung. Dabei ist diese Wetterschutzverkleidung durch eine dünne Luftschicht von der Dämmung getrennt. Der dahinter zirkulierende Luftstrom soll Kälte abhalten und das Mauerwerk trocknen. Der Nachteil des Systems: Die Hinterlüftungszone kann bei einem Brand für einen verheerenden Kamineffekt sorgen. In Deutschland müssen seit 2010 in Gebäuden mit einer Höhe von über 7 Meter die vorgehängten hinterlüfteten Fassaden (VHF) mit Brandsperren ausgestattet sein. Im Brandfall behindern die Brandsperren den Kamineffekt im Hinterlüftungsspalt.
Der Grenfell Tower hatte keine Brandsperren. Die hohe Geschwindigkeit der Brandausbreitung erklärt sich erstens aus dem Zustrom von Verbrennungsluft über die Hinterlüftung der Fassade. Zweitens bestand die Wetterschutzverkleidung aus Aluminium-Polyethylen-Paneelen. Polyethylen (PE) schmilzt unter Wärmeeinwirkung und tropft wie eine brennbare Flüssigkeit ab. Der Kunststoff nimmt keine Flüssigkeit auf und brennt daher auch unter Wasserkontakt weiter – Löschen mit Wasser ist zwecklos. Polyethylen wird auch als „Öl in fester Form“ bezeichnet.
Während bei einem Wärmedämm-Verbundsystem (WDVS) der Dämmstoff direkt auf der Wand angebracht, verputzt und gestrichen wird und damit auch gleichzeitig die Außenhaut darstellt, hat die vorgehängte hinterlüftete Fassade, die beim Grenfell Tower verwendet wurde, zwischen dem Dämmstoff und der davorliegenden Wetterschutzverkleidung einen Zwischenraum. Bei einem Feuer kommt es im Zwischenraum zu einem Kamineffekt, der das Feuer noch oben saugt. Der Brand kann sich so schnell von unten nach oben ausbreiten. Die Kombination aus brennbarer Wetterschutzverkleidung und dem dahinterliegenden Luftschacht waren tödlich für die Bewohner des Hochhauses.
Verkauf von ACM-Paneelen trotz bekannter Risiken
Bereits im Juli 2001 hatte das Building Research Establishment (BRE) verschiedene Fassadenverkleidungen getestet. Von den 14 getesteten Systemen versagten zehn; die ACM-Paneele (mit Aluminium kaschierten Polyethylen-Platten, ACP) brannten am schnellsten ab, doppelt so schnell wie das zweitschlechteste Produkt und die Flammen erreichten in nur fünf Minuten eine Höhe von 20 Meter. Aus Sicherheitsgründen musste der Test abgebrochen werden. In seinem Bericht an die Regierung erklärte das BRE, dass die ACM-Paneele zu den Produkten gehörten, die am schlechtesten abschnitten. Jedoch anstatt diese nun für den Einsatz bei Hochhausfassaden zu verbieten, schrieb das BRE lediglich: das Thema bedarf weiterer Untersuchung.
Ähnliche Ergebnisse zeigten Tests, die Hersteller Arconic im Jahr 2005 durchführte. Auch mehrere Brandkatastrophen weltweit bestätigten immer wieder, welche Gefahr von den ACM-Paneelen ausgeht. Trotzdem wurden beim Bau oder der Renovierung von Hochhäusern in Großbritannien weiterhin solche Paneele eingesetzt. Aufgrund strengerer Gesetze in anderen EU-Staaten wurden dort Paneele eingesetzt, die weniger brennbar waren. Da die britische Bauverordnung ACM-Paneele nicht verbot, wurde Großbritannien zur „Müllhalde für minderwertige Produkte“ (dumping ground for inferior products), hieß es später im Untersuchungsausschuss zum Grenfell Tower.
Dämmstoffhersteller in der Schusslinie
Die Dämmplatten des Grenfell Towers wurden hauptsächlich von dem Unternehmen Celostat geliefert, etwa 5 Prozent kamen von Kingspan. Anders als die ACM-Paneele der Wetterschutzschicht bestanden die dahinterliegenden Dämmstoffplatten nicht aus Polyethylen sondern aus Polyurethan (PUR), oft auch als PUR/PIR-Hartschaum bezeichnet. Obwohl PUR- und PIR-Platten (Polyisocyanurat) schwer entflammbar sind, zersetzen sie sich ab einer Temperatur von etwa 300 °C. Bei höheren Temperaturen um 850 °C entsteht hochgiftige und hochentzündliche Blausäure.
Der Untersuchungsausschuss zum Grenfell Tower hat aufgedeckt, dass beide Hersteller ihre Dämmstoffe wissentlich mit falscher Brandklassifizierung für den Einsatz an Hochhäusern verkauften. Im Oktober 2014 zeigte sich eine Brandspezialistin des Ingenieurbüros Arup „zutiefst besorgt über … die anhaltend falsche Verwendung von Prüfberichten“, so Dr. Barbara Lane in einer Mail an den National House-Building Council. Sie warnte den NHBC: Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Verwendung von leicht brennbaren Materialien in Wohngebäuden zu einem Brandvorfall führt (an accident waiting to happen).
Britische Bauverordnung unzureichend
Nach der britischen Bauverordnung (Building Regulations Requirements) müssen Außenwände feuerwiderstandsfähig sein, allerdings bezieht sich diese Forderung auf tragende Bauteile und Außenwände, nicht auf Fassaden-Paneele, die lediglich schwer entflammbar sein müssen. In einer Anhörung des Untersuchungsausschusses gaben die Architekten von Studio E zu, dass sie nicht mit Brandschutzvorschriften vertraut waren und nicht wussten, dass Produkte für Außenfassaden von Hochhäusern schwer entflammbar sein müssen und daher die Eignung der Produkte für die Außenfassade nicht richtig einschätzen konnten.
Obwohl nach mehreren Hochhausbränden insbesondere im Mittleren Osten in den Jahren 2010–2017 die Brandgefahr von ACM-Paneelen bekannt war, verzögerte sich eine entsprechende Änderung der Bauverordnung Jahr für Jahr. Viele Beobachter führen dies auf die Regierung von Theresa May zurück, die im Juli 2016 Premierministerin wurde. Die Regierung bemühte sich um eine Deregulierung, also den Abbau von Vorschriften, und wollte den Hausbau fördern, anstatt ihn durch neue Gesetze beschränken.
Großbritanniens Fassadenskandal
Die Anhörungen zum Grenfell Tower haben gezeigt, dass die Hersteller Arconic, Celotex und Kingspan ihre Produkte als mit den Bauvorschriften konform und für die uneingeschränkte Verwendung in Hochhäusern vermarkteten, obwohl sie die Vorschriften nicht erfüllten. Der Grenfell-Brand führte in Großbritannien zum „Fassadenskandal“: 11 Millionen Gebäude müssten aus Brandschutzgründen saniert werden. Eigentümer, die ihr Haus verkaufen wollten, mussten erhebliche Preiseinbußen in Kauf nehmen. Die Kosten für die Ausbesserungen wurden auf über 50 Milliarden Pfund geschätzt.
Auch fünf Jahre nach der Brandkatastrophe beim Grenfell Tower beherrscht das Thema immer noch die britische Öffentlichkeit. Im Januar 2022 forderte der Minister für Wohnungsbau Michael Gove Dämmstoffhersteller, Fassadenunternehmen und Immobilienentwickler auf, die Kosten für die Sanierung von Fassaden mit einer Höhe von über 11 Meter zu tragen und drohte rechtliche Schritte an, falls sie seiner Forderung nicht nachkämen. Bereits einen Monat zuvor hatte er sich darüber empört, dass Mercedes Benz die Firma Kingspan als neuen Sponsor der Formel 1 bekanntgab. Innerhalb einer Woche widerrief Mercedes seine Entscheidung und kündigte den Vertrag mit Kingspan.