Risikoeinschätzung für Erdbeben in Deutschland genauer geregelt – aber umstritten
Glücklicherweise wurde Deutschland in den vergangenen Jahren von keinen schweren Erdbeben getroffen. Dennoch führt eine aktualisierte Risikoeinschätzung zum neuen Nationalen Anhang (NA) des Eurocode 8 und einer aktualisierten Erdbebenkarte, die hierzulande in einzelnen Regionen ein höheres Erdbebenrisiko ausweist und daher teilweise auf Ablehnung stößt.
Wir sprachen im Sommer 2022 mit Prof. Hamid Sadegh-Azar von der TU Kaiserslautern über die Änderungen im Vergleich zur DIN 4149, die Folgen für Planungsbüros und den Streit um die richtige Einschätzung der Erdbebengefährdung. (Dieses Interview ist in der Ausgabe 09-2022 des Bauingenieur auf den Seiten A22–A24 erschienen).
Herr Prof. Sadegh-Azar, erhöht der neue Eurocode 8 unsere Sicherheit gegenüber Erdbeben?
Prof. Dr.-Ing. Hamid Sadegh-Azar: Das angestrebte Sicherheitslevel ist dasselbe geblieben: Man legt übliche Hochbauten für Erdbeben mit einer Wiederkehrperiode von 475 Jahren aus – nicht nur in Deutschland, das ist auch international weitgehend Konsens. Dabei ist das Ziel der Erdbebennorm der Schutz von Menschenleben. Deswegen darf ein Bauwerk bei einem Erdbeben zwar nicht einstürzen, aber es darf größere Schäden nehmen – mit Ausnahme von Gebäuden, die auch nach einem Erdbeben voll funktionstüchtig sein müssen, wie Krankenhäuser oder Feuerwehrstationen etc.
Warum brauchen wir dann neue Werte? Haben sich die der alten DIN 4149 oder die des alten Nationalen Anhangs nicht bewährt?
Sadegh-Azar: Wir haben eine neue Erdbebennorm bekommen, weil nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik die Erdbebengefährdung bei uns bis jetzt unterschätzt worden ist. Neuere Erkenntnisse der Seismologen, die in den letzten Jahren genauere Methoden entwickelt haben und inzwischen Unsicherheiten viel genauer betrachten und quantifizieren können, haben zu der Schlussfolgerung geführt, dass die erdbebengefährdeten Gebiete teilweise etwas größer sind als in der früheren Erdbebenkarte, aber anderseits auch teilweise kleiner geworden sind.
Gibt es also jetzt an mehr Orten als zuvor eine Gefährdung durch Erdbeben und dabei sogar eine höhere Gefährdung?
Sadegh-Azar: Ja, die Erdbebengefährdung ist relevanter geworden, denn in einigen Gebieten sind die Erdbebenlasten etwas hochgegangen. Als höchster Beschleunigungswert in der alten DIN 4149 war in Deutschland 0,8 m/s2 zu berücksichtigen. Heute reichen an einigen extremen Punkten die Werte bis 1,56 m/s2, sind also fast doppelt so hoch. Es gibt ebenso einige Erdbebenregionen, die im Vergleich mit der früheren Norm kleiner geworden sind. Es wurde also nicht einfach alles hochskaliert, sondern die Karte wurde auf Basis der Forschungsergebnisse insgesamt genauer.
Sind diese Werte für Planungsbüros schon bindend?
Sadegh-Azar: Der Eurocode 8, in dessen nationalem Anhang für Deutschland diese höheren Werte erscheinen, ist der einzige Eurocode, der in Deutschland noch nicht baurechtlich gültig ist – das kann noch ein oder zwei Jahre dauern. Damit ist baurechtlich also noch die alte DIN 4149 gültig. Allerdings gilt der neue Nationale Anhang des Eurocodes zivilrechtlich. Denn der Tragwerksplaner schuldet dem Bauherrn ein Bauwerk nach aktuellem Stand der Technik. Und deswegen müssen Tragwerksplaner ihre Entwürfe auch jetzt schon nach der neuen Norm bemessen – es sei denn, der Bauherr stimmt explizit zu, dass noch nach der alten DIN 4149 bemessen wird.
Wie häufig sind solche Sonderregelungen in der Praxis?
Sadegh-Azar: Bauherren haben ja großes Interesse an einem sicheren Gebäude und durch eine korrekte Erdbebenauslegung lässt sich inhärent eine gewisse Schädigungsreduktion erreichen. Wenn es dann zu einem kleinen Erdbeben kommt, bleibt so ein Bauwerk vielleicht weitgehend intakt, während bei einer Auslegung nach den veralteten Werten ein hoher wirtschaftlicher Schaden entsteht. Daher wird auch heute schon in der Regel nach dem neuen Nationalen Anhang des Eurocode 8 bemessen.
Die neuen Beschleunigungswerte könnten an manchen Orten eine robustere und damit teurere Bauweise erfordern. Das stößt sicher nicht nur auf Begeisterung.
Sadegh-Azar: In der Praxis geht es immer um die grundsätzliche Abwägung zwischen Sicherheit und Wirtschaftlichkeit. Natürlich bedeuten die teilweise leicht gestiegenen Beschleunigungen, dass der Rohbau an solchen Regionen tendenziell etwas teurer wird, aber wenn man sich die Gesamtkosten eines Bauwerks ansieht, ist das meist marginal.
Aber gerade die Mauerwerksindustrie versucht die bauaufsichtliche Umsetzung der neuen Norm in Deutschland zu verhindern. Warum?
Sadegh-Azar: Technisch dreht sich die Diskussion darum, ob man Medianwerte oder Mittelwerte verwendet, um das Sicherheitsniveau festzulegen. Wir haben uns im Normengremium – wie bereits in der DIN 4149 und wie auch risikotechnisch üblich – für die geringfügig höheren und damit konservativeren Mittelwerte entschieden. Die Unterschiede sind in den meisten Erdbebengebieten eher gering: etwa 5 bis 15 Prozent. Sie führen aber dazu, dass man in einigen Gebieten beim Nachweis von Mauerwerk zum Beispiel etwas mehr Aufwand hat. Andererseits wurden viele bestehenden Konservativitäten im alten Nationalen Anhang beziehungsweise der DIN 4149 durch genauere Regelungen abgebaut. Hierzu gehören zum Beispiel die Festlegung des Spektralwerts SaP,R aus den Mittelwerten anstelle des Maximalwerts im Plateaubereich und die amplitudenabhängige Festlegung des Bodenparameters S.
Warum ist vor allem Mauerwerk betroffen?
Sadegh-Azar: Beim Bauen mit Stahlbeton oder Stahl kann man im Prinzip die Querschnitte etwas größer, oder die Bewehrung etwas dichter wählen, um das Problem zu lösen. Bei Mauerwerk ist die Anpassung der Querschnitte, also die Skalierung, nicht so einfach.
Dann ist die Ablehnung in dieser Branche nachvollziehbar.
Sadegh-Azar: Auf der anderen Seite haben wir mithilfe von vereinfachten Regeln die Normen so aufbereitet, dass sie nun für Mauerwerk viel einfacher anwendbar sind. Es sind auch nicht nur die Beschleunigungswerte teilweise gestiegen, sondern es wurden auch die Tragfähigkeitswerte für Mauerwerk erhöht, weil neue Forschung gezeigt hat, dass Mauerwerk viel stabiler und tragfähiger ist als nach früheren Berechnungen und Normen. Beide Effekte kompensieren sich in vielen Regionen, wodurch die Mauerwerksindustrie objektiv gesehen kaum Nachteile hat. Eine erdbebensichere und wirtschaftliche Auslegung mit Mauerwerk ist weiterhin möglich und gewollt.
Wenn die Mauerwerksindustrie mit ihrer Forderung Gehör findet, im Zuge der bauaufsichtlichen Einführung der Norm die Medianwerte zu verwenden, woran müssten die Fachplaner sich dann orientieren?
Sadegh-Azar: Wenn einzelne Bundesländer eventuell unterschiedliche Regelungen treffen, hätten wir in Deutschland ein noch größeres Chaos. Wir als Tragwerks- planer würden es schon begrüßen, wenn deutschlandweit einheitliche Baunormen existieren, weil sonst die Anwendung zu unübersichtlich wird. Zudem würde eine Diskrepanz zwischen Bau- und Zivilrecht entstehen, was dem Tragwerksplaner dann weitere Probleme bereiten würde und er sich im Einzelfall immer absichern müsste.
Aber es gab ja schon Gespräche im Vorfeld.
Sadegh-Azar: In einem Schlichtungsverfahren, das bereits mit der Mauerwerksindustrie durchgeführt worden ist, wurde das beispielhaft für einige typische Bauwerke mit typischen Grundrissen verglichen und es hat sich gezeigt, dass nach der neuen Norm 20 Beispielnachweise für typische Bauten erfüllt waren, nach der alten Norm nur 17. Die neue Norm ist also ganzheitlich gesehen für typische Bauwerke sogar weniger streng, weil auch die Tragfähigkeitswerte bei Mauerwerk erhöht wurden. Aus meiner Sicht hat sich das Thema dadurch eigentlich entspannt.
Das Gespräch führte Dr. Karlhorst Klotz, Redaktion Bauingenieur.
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