Vor 1980 erbaute Gebäude mit höchstem Erdbeben-Risiko
Eine aktualisierte Erdbebengefährdungskarte und erstmals eine Erdbebenrisikokarte für Europa, die sich auch auf Bauvorschriften auf nationaler Ebene auswirken können, haben europäische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgegeben.
Im 20. Jahrhundert forderten Erdbeben in Europa mehr als 200.000 Todesopfer und verursachten Schäden in Höhe von über 250 Milliarden Euro. Umfassende Analysen der Erdbebengefährdung und des Erdbebenrisikos sind deshalb wichtig, um die Auswirkungen katastrophaler Erdbeben zu verringern. Denn bis heute können Erdbeben weder verhindert noch genau vorhergesagt werden.
Ein internationales Team von europäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – Seismologen, Geologen und Ingenieure – hat deshalb das seit 2013 bestehende Erdbebengefährdungsmodell überarbeitet und ein erstes Erdbebenrisikomodell für ganz Europa erstellt, auch mit Beteiligung von Mitarbeitenden des Deutschen GeoForschungsZentrums Potsdam (GFZ). Diese Modelle beschreiben, wo durch Erdbeben ausgelöste Erschütterungen zu erwarten sind, wie stark und wie häufig diese auftreten und welche Auswirkungen sie auf die bebaute Umwelt und auf Menschen haben können. Sie ermöglichen es, Vorsorgemaßnahmen festzuschreiben und damit die Auswirkungen auf Gebäude und die darin wohnenden Menschen erheblich zu verringern.
Die Forschenden aktualisierten und harmonisierten die den Modellen zugrundeliegenden Datensätze – ein komplexes Unterfangen angesichts der riesigen Datenmengen und der unterschiedlichen tektonischen Gegebenheiten in Europa. Eine solche Harmonisierung ist jedoch nötig, um wirksame länderübergreifende Strategien zur Katastrophenvorsorge einzurichten, wie etwa die Festlegung von Versicherungskonzepten oder die Bestimmung von zeitgemäßen Bauvorschriften auf europäischer und nationaler Ebene.
Verbessertes Erdbebengefährdungsmodell
Das aktualisierte europäische Erdbebengefährdungsmodell sowie das neue Erdbebenrisikomodell sind frei zugänglich, inklusive der ihnen zugrundeliegenden Datensätze.
Die Erdbebengefährdung beschreibt potenzielle Bodenerschütterungen durch künftige Erdbeben und beruht auf dem Wissen über vergangene Erdbeben, der Geologie, Tektonik und den lokalen Bedingungen an beliebigen Orten in ganz Europa.
In die aktuelle Version des Gefährdungsmodelles wurden erweiterte Datensätze integriert. Diese erlauben es, die Erdbebengefährdung in Europa umfassender und neu zu beurteilen. Das hat dazu geführt, dass im Vergleich zum Modell von 2013 die Einschätzungen der zu erwartenden Bodenerschütterungen in den meisten Teilen Europas nach unten korrigiert wurden. Davon ausgenommen sind einige Regionen in der westlichen Türkei, Griechenland, Albanien, Rumänien, im Süden Spaniens und Portugals. Dort wurden die Einschätzungen der zu erwartenden Bodenerschütterungen nach oben angepasst.
Das aktualisierte Modell bestätigt die Türkei, Griechenland, Albanien, Italien und Rumänien als die Länder mit der höchsten Erdbebengefährdung in Europa, gefolgt von den anderen Ländern des Balkans. Aber auch in Regionen mit niedriger oder mäßiger Gefährdungseinschätzung können jederzeit schadenbringende Erdbeben auftreten.
Eine erdbebengerechte Bauweise ist eine der wirksamsten Maßnahmen, um die Bevölkerung besser vor Erdbeben zu schützen. Das aktualisierte europäische Erdbebengefährdungsmodell ist eine wesentliche Informationsgrundlage für die zweite Auflage der europäischen Baunormen (Eurocode-8-Normen). Auf Länderebene sind allerdings die vorhandenen nationalen Gefährdungsmodelle maßgebend für Baunormen und weitere Aspekte der Erdbebenvorsorge.
Ältere Gebäude bestimmen das Erdbebenrisiko
Anders als das Gefährdungsmodell beschreibt das erste europäische Erdbebenrisikomodell die erwarteten Folgen eines Erdbebens auf die Bevölkerung und die Wirtschaft. Um dieses Risiko zu bestimmen, benötigen Forschende Informationen über den lokalen Untergrund, die Gebäude- und Bevölkerungsdichte, die Verletzbarkeit von Gebäuden sowie zuverlässige Einschätzungen der Erdbebengefährdung.
Das Risikomodell zeigt: Besonders groß ist das Erdbebenrisiko in städtischen Gebieten und Zonen mit vielen Bauten aus der Zeit vor 1980 sowie dort, wo die Erdbebengefährdung hoch ist.
Obwohl die meisten europäischen Länder über neuere Bauvorschriften und -normen verfügen, gibt es noch immer viele nicht oder nur unzureichend gegen Erdbeben gesicherte ältere Gebäude. Sie bergen ein höheres Risiko für ihre Bewohner.
Das höchste Erdbebenrisiko betrifft daher städtische Gebiete, die oft eine Geschichte von schadenbringenden Erdbeben aufweisen. Dazu zählen Städte wie Istanbul und Izmir in der Türkei, Catania und Neapel in Italien, Bukarest in Rumänien und Athen in Griechenland.
Allein auf diese vier Länder entfallen fast 80 Prozent des modellierten wirtschaftlichen Schadens von sieben Milliarden Euro, den Erdbeben im jährlichen Durchschnitt in Europa verursachen. Aber auch Städte wie Zagreb, Tirana, Sofia, Lissabon, Brüssel und Basel tragen ein überdurchschnittlich hohes Erdbebenrisiko verglichen mit weniger exponierten Städten wie Berlin, London oder Paris.
Gemeinsame Anstrengung von Forschenden aus ganz Europa
An der Entwicklung der beiden Modelle hat ein Kernteam von Forschenden aus ganz Europa, mit führender Beteiligung der ETH Zürich, gearbeitet. Das Vorhaben begann vor mehr als 30 Jahren. Tausende Fachpersonen aus ganz Europa waren beteiligt. Diese Anstrengungen wurden durch mehrere von der Europäischen Kommission finanzierte Projekte und durch nationale Gruppen unterstützt.
Forschende des Schweizerische Erdbebendienstes (SED) und der Gruppe für Seismologie und Geodynamik an der ETH Zürich leiteten nach eigenen Angaben zahlreiche dieser Projekte. Am SED ist zudem EFEHR (European Facilities for Earthquake Hazard and Risk) beheimatet, ein gemeinnütziges Netzwerk, das sich der Entwicklung und Aktualisierung von Erdbebengefährdungs- und Risikomodellen in Europa und im Mittelmeerraum verschrieben hat. Die ETH Zürich sieht sich damit als eine zentrale Drehscheibe für die Datensammlung- und Aufbereitung, den offenen Zugang zu Erdbebengefährdungs- und Risikomodellen inklusive aller Grundlagendatensätze sowie den Wissensaustausch.
Die Rolle des Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ in Potsdam
Wissenschaftler des GFZ haben nach eigenen Angaben eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des kürzlich publizierten Europäischen Erdbebengefährdungsmodells 2020 (ESHM20) und des Europäischen Erdbebenrisikomodells 2020 (ESRM20) gespielt und drei entscheidende Komponenten der Modelle beigesteuert.
- Der erste Beitrag ist ein neuer Katalog von Erdbeben für Europa vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Die Leitung dieses Projektes lag bei Graeme Weatherill, Wissenschafter in der GFZ-Sektion 2.6 „Erdbebengefährdung und Dynamische Risiken”. Dieser Katalog fasst Erdbebendaten aus Dutzenden von Datenquellen und seismischen Aufzeichnungsnetzen in ganz Europa zusammen und harmonisiert sie zu einem gemeinsamen Referenzkatalog, aus dem das ESHM20 Statistiken über die Häufigkeit von Erdbeben abgeleitet hat.
- Der zweite wichtige Beitrag ist ein vollständiges paneuropäisches Modell zur Vorhersage von Bodenerschütterungen unter Leitung von Fabrice Cotton, der am GFZ die Sektion 2.6 „Erdbebengefährdung und Dynamische Risiken” leitet. Dieses baut auf den jüngsten, schnell wachsenden Datenbanken von Bodenbewegungsbeobachtungen in Europa auf. Die Forschenden nutzen modernste Modellierungstechniken, um die Verteilung starker Bodenbewegungen für künftige Erdbeben in Europa vorherzusagen, wobei die Vorhersagen regional angepasst werden, um die komplexe Mischung tektonischer Umgebungen in Europa zu berücksichtigen.
- Schließlich hat das GFZ unter Leitung von Graeme Weatherill das erste paneuropäische Modell entwickelt, das den Einfluss der oberflächennahen Geologie und der lokalen Standortbedingungen auf starke Bodenbewegungen an der Erdoberfläche beschreibt. Dieses Modell sei für die seismische Risikoanalyse von entscheidender Bedeutung: Es sagt einerseits die Stärke der Erschütterungen vorher, denen die Gebäude an einem Standort bei künftigen Erdbeben ausgesetzt sein werden, und andererseits die Art und Weise, in der dies durch die Eigenschaften der Bodenoberfläche in der Nähe der Gebäude selbst beeinflusst wird. Alle diese Datensätze und Modelle wurden mit dem ESHM20 und dem ESRM20 öffentlich zugänglich gemacht, was Forschenden und Ingenieuren in ganz Europa helfen kann, sie ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend anzupassen und zu verbessern.
Das GFZ hat auch den Vorsitz der EFEHR (European Facilities of Earthquake Hazard and Risk) inne, die 2020 gegründet wurde, um die langfristige Zugänglichkeit, Nachhaltigkeit und Zugänglichkeit von quelloffenen und transparenten europäischen Modellen zur Erdbebengefährdung und zum Erdbebenrisiko sicherzustellen.
Empfehlung der Redaktion – das könnte Sie auch interessieren:
- Personensicherheit in Gebäuden: Über Treppen ohne Geländer zum Safety-Engineering
- Erdbebensicheres Bauen: Luxushotel auf 410 Erdbeben-Isolatoren
- Radioaktive Strahlung: Karte zeigt Radon-Gefahr im Boden kilometergenau
- Weitere Beiträge aus der Rubrik „Wissen für Bauingenieure“
- Nichts mehr verpassen: Hier geht‘s zur Newsletter-Anmeldung