Microgrids: Soziale Gerechtigkeit als Planungskriterium
Die zunehmenden Effekte von Extremwetterereignissen mahnen dazu, die Absicherung der Stromversorgung zu überdenken. Dezentrale Energiesysteme können hier helfen. Parallel zur technischen Realisierung von Microgrids haben sich Forschende nun auch erstmals Gedanken zu sozialen Versorgungskriterien gemacht.
Dezentrale Systeme zur Erzeugung, Speicherung und Verteilung von Energie, zum Beispiel mit vernetzten Photovoltaikanlagen und Blockheizkraftwerken, können urbane Infrastrukturen widerstandsfähiger gegen großflächige Stromausfälle machen und Risiken für die Bevölkerung verringern – etwa bei Naturgefahren oder Cyberangriffen. Dies ist bekannt. Neu hingegen ist: In einer in der Fachzeitschrift „Nature Sustainability“ erschienenen Studie thematisieren Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) nun erstmals auch Designkriterien für Microgrids, die einen fairen Umgang mit unterschiedlichen sozialen Gruppen berücksichtigen.
Transatlantische Kooperation
Das deutsch/US-amerikanische Forschendenteam unter Leitung von Dr. Sadeeb Simon Ottenburger, Abteilungsleiter am Institut für Thermische Energietechnik und Sicherheit (ITES) des KIT, hat ein Modell für eine raumplanerische Konzeption von Microgrids erarbeitet. Die Studie bietet Städteplanerinnen und -planern eine Vorlage für einen Planungsprozess, der verschiedene Aspekte integriert – einschließlich sozioökonomischer Faktoren und Fragen der gesellschaftlichen Partizipation im Planungsprozess. Beteiligt waren Mitarbeitende des ITES, des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des KIT sowie in den USA des Energy Production and Infrastructure Centers (EPIC) der University North Carolina und des National Renewable Energy Laboratory (NREL) in Colorado.
Gerrymandering: Gerechter Zugang zur Energieversorgung?
„Eine Besonderheit unseres Ansatzes ist, dass wir nicht isoliert technische Parameter oder Kostenfragen berücksichtigen, sondern uns mit der Frage beschäftigen, welche Rolle der Zuschnitt von Microgrids hinsichtlich einer fairen Verteilung der Versorgung spielt“, erläutert Ottenburger. „Die Grenzziehungen von Energienetzen sind Ergebnis bewusster Entscheidungen und haben Auswirkungen auf die Bevölkerung.“ Es mache im Krisenfall einen Unterschied, wie Angebote zur Gesundheits-, Sicherheits- und Lebensmittelversorgung innerhalb einzelner Microgrids, aber auch im gesamten Stadtgebiet verteilt sind.
Mit dem Begriff der „Freiheitsgrade“ hebt die Studie die Bedeutung des planerischen Gestaltungsspielraums hervor. Um auf potenziell negative Folgen von Einteilungen hinzuweisen, die Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht berücksichtigen, benutzten die Studienverfasser den Begriff „energy gerrymandering“. Er ist an das politische „gerrymandering“ angelehnt, was in den USA den Zuschnitt von Wahlbezirken zum Vorteil bestimmter Gruppen bezeichnet. Die Definition von Microgrid-Bezirken kann demnach zu einer ungerechten Verteilung von Ressourcen und Vorteilen führen. Starke und wohlhabende Gruppen könnten bevorzugt, sozial schwächere und vulnerable Gruppen benachteiligt werden. „Zu Resilienz gehört auch, zu definieren, wie der Zugang für verschiedene Gruppen der Bevölkerung gestaltet wird“, so Ottenburger.
Metrik zur Bewertung des Wohlbefindens
Die Studie analysiert den Zusammenhang zwischen der unterschiedlichen Verwundbarkeit sozialer Gruppen, und einem gerechten Zugang zu Energie und Versorgung. Dazu haben die Forschenden Metriken mittels existierender Vulnerabilitätsindizes entwickelt, die das Wohlbefinden der Bevölkerung („Wellbeing”) als Messgröße beschreiben und darstellen, wie Energieausfälle insbesondere sozial und ökonomisch empfindliche Gruppen betreffen: Kranke, Familien mit Kindern, ältere Menschen und Geringverdiener.
Als Datengrundlage nutzten sie dafür eine umfangreiche Fallstudie nach Stromausfällen während des Hurrikans Florence im September 2018 in New Hanover County, North Carolina. Die Daten ermöglichten eine Analyse der kritischen Infrastruktur, deren Verwundbarkeit in Verbindung mit der geografischen Verteilung sozial benachteiligter Haushalte und deren Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen. Das Projektteam entwickelte daraus ein universelles Design, das es für jede Stadt ermöglicht, urbane Resilienz umfassend zu bewerten und Vorschläge für einen Zuschnitt von Microgrids zu generieren, der technische und soziale Fragen berücksichtigt.
Mehrere Microgrids pro Stadt
Zu den konkreten Empfehlungen der Autoren zählt, dass für eine gerechte Verteilung und Zugänglichkeit kritischer Dienstleistungen wie Gesundheits- und Sicherheitsstrukturen eine Stadt nicht nur über ein, sondern über mehrere Microgrids verfügen sollte. Um die Bedürfnisse aller sozialen Gruppen fair zu berücksichtigen raten die Forschenden dazu, bei den Grenzziehungen der Versorgungsnetze Institutionen aus den Bereichen Gesundheitsversorgung und Sicherheit, Vertreter unterschiedlicher sozialer Gruppen, Bildungseinrichtungen und sozialer Dienste aktiv in die Planungs- und Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. „Die Suche nach optimierten Microgrid-Zuschnitten ist hoch komplex und bedarf neuer Algorithmen, um aus den vorhandenen Daten tragfähige Modelle zu entwickeln“, so Projektleiterin Ottenburger. Entscheidend sei, dass resiliente Lösungen nicht unbedingt eine Frage von mehr Investition sind, sondern vor allem von ausgeklügelter Planung. „Wir sollten darauf achten, dass alle Gruppen eine Stimme haben und an diesen Prozessen teilnehmen können“, so ihr Appell.
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