Raumwärme: Wie abhängig ist Europa von Erdgas?
Eine länderübergreifende Studie belegt den Stellenwert des fossilen Energieträgers: Ohne ausreichende Erdgasreserven ist die Wärmeerzeugung in vielen europäischen Haushalten nicht gesichert. Doch es gibt Alternativen.
Steht uns ein kalter Winter auch innerhalb der eigenen vier Wände bevor? Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges wird derzeit intensiv diskutiert, wie die Energieversorgung für Deutschland in der kalten Jahreszeit sichergestellt werden kann. In diesem Kontext belegt eine aktuelle Forschungsarbeit: Die Erzeugung von Raumwärme und Warmwasser ist in den Ländern Europas noch immer stark vom Energieträger Erdgas abhängig. Ein im Rahmen der Studie „Renewable Space Heating under the Revised Renewable Energy Directive“ von der TU Wien, dem Fraunhofer ISI, e-think, dem Öko-Institut und Viegang Maagoe entwickelter Datensatz zeigt, dass in den 27 Ländern der EU fast 50 % der Heizwärme durch Erdgas erzeugt wird. Darin enthalten ist auch das für die Fernwärme- und Stromerzeugung verwendete Erdgas.
Welchen Anteil hat Erdgas: Große Unterschiede in den Ländern der EU
Die Erdgasabhängigkeit variiert stark zwischen den einzelnen Ländern. In den Niederlanden werden fast 90 % des Raumwärmebedarfs durch Erdgas gedeckt. Länder wie Malta, die Slowakei, Italien und Ungarn liegen jeweils über 60 %. Deutschland liegt mit einem Anteil von etwa 50 % nahe am EU-Durchschnitt (49,3 %). Zu den am wenigsten abhängigen Ländern gehören wenig überraschend die skandinavischen Staaten Norwegen (3,3 %), Schweden (5,3 %) sowie Finnland (10,2 %). Island kommt gar ganz ohne Erdgas aus.
Im Umkehrschluss ist der Anteil erneuerbarer Energien (ohne Biomasse) in der Raumwärmeversorgung in der EU nach den Zahlen der Studie noch sehr gering, die Transformation des Raumwärmesektors stehe noch am Anfang, so die Verfasser. Sie schätzen den Anteil erneuerbarer Energien am Primärenergieträgermix der EU auf 23 %, Biomasse ist mit etwa 16 % die wichtigste erneuerbare Energiequelle.
Szenarien für die Zukunft: Erneuerbare müssen dringend gestärkt werden
Aufstrebende Energieträger und -technologien wie Wärmepumpen, Solarthermie und Geothermie fristen, so die Studienautoren, in den meisten Ländern noch ein Nischendasein. Ihr Gesamtanteil liegt bei den für das Jahr 2018 zusammengestellten Daten lediglich bei etwa vier Prozent am Endenergiebedarf für Raumwärme in der EU. Für die Dekarbonisierung seien sie jedoch von zentraler Bedeutung. Die Szenario-Analyse zeige: Eine beschleunigte Gebäudedämmung sowie die umfassende Verbreitung von Wärmepumpen und der Ausbau der Fernwärme seien „No-Regret“-Strategien, die in allen Szenarien wichtig sind.
Auf der Grundlage dieser gesammelten Daten wurden in der Studie sechs Dekarbonisierungs-Szenarien für Raumwärme und Warmwassererzeugung bis 2050 entwickelt, um die langfristigen Perspektiven und die damit verbundenen Kosten besser zu verstehen. Zu diesem Zweck wurden drei detaillierte Energiemodelle verwendet: das Gebäudebestandsmodell Invert der TU Wien, das Energiesystemoptimierungsmodell Enertile des Fraunhofer ISI und das Fernwärmemodell Hotmaps der TU Wien. Insgesamt leiten die Studienautoren aus den Energiemodellen drei wesentliche Erkenntnisse ab:
- Wenn die Maßnahmen und das Gesamtsystem wie im Modellierungsansatz angenommen optimiert werden, liegen die Kosten, insbesondere für die Szenarien Wasserstoff, individuelle Wärmepumpen, Biomassekessel und Solar sowie Fernwärme und E-Fuels in einer ähnlichen Größenordnung. Weitere Hemmnisse und politische Implikation seien damit zentral zur Entscheidung für oder gegen den jeweiligen Pfad.
- Einige Maßnahmen können als „No-regret“-Optionen betrachtet werden: Denn ein hohes Maß an Gebäudedämmung, eine hohe und schnelle Verbreitung von Wärmepumpen und Fernwärme in geeigneten Gebieten seien in allen gerechneten Szenarien wichtiger Bestandteil der Lösung.
- Das Best-Case-Szenario liegt mit den niedrigsten Kosten nahe am Elektrifizierungsszenario, allerdings mit einer etwas höheren Verbreitung von Solarwärme und Fernwärme.
„Unsere Szenarioanalyse zeigt, dass eine rasche Verbreitung von Wärmepumpen und Fernwärme Optionen sind, die alle EU-Mitgliedsstaaten mit hoher Priorität verfolgen sollten“, so Dr. Tobias Fleiter, der die Forschungsanteile des Fraunhofer ISI an der Studie koordinierte. Die Märkte seien in vielen Ländern noch unterentwickelt. Finanzielle Anreize und Maßnahmen zur Unterstützung der Markttransformation sowie der Aufbau von Kapazitäten zur Förderung der Planungskompetenz in den lokalen Verwaltungen seien deshalb dringend erforderlich. „Andererseits muss der ordnungspolitische Rahmen neue Investitionen in fossile Heizsysteme verhindern, da diese das System für die kommenden 20 Jahre bestimmen werden. Schließlich ist die Rolle von Infrastrukturen wie Fernwärme-, Gas- und Stromnetzen von entscheidender Bedeutung, und es werden Konzepte für die Wärmeplanung und die Einbeziehung der BürgerInnen benötigt, um den Ausbau, die Modernisierung und die Stilllegung solcher Infrastrukturen zu koordinieren. Diese Strategien führen nicht nur zu einer Dekarbonisierung des Heizsystems, sondern auch zu einer erheblichen Entlastung in der derzeitigen Gaskrise“, ist Fleiter überzeugt.
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