Wer oder was hat Schuld?
Ein unerklärlicher Lochfraß in halbharten Kupferrohren von neuen Trinkwasserinstallationen im Dorstener Raum in Westfalen beschäftigt zurzeit Gerichte, Gutachter und Wissenschaftler. Was kann die Ursache sein?
Unerklärlich soll sagen, dass bisher weder das Rohr noch die Installationstechnik noch das Wasser als maßgeblicher Schadensgrund ermittelt werden konnte. Selbst ein Vertreter des Herstellers Kabelmetal, Osnabrück, gesteht: „Wir stehen vor einem Rätsel“. Das Rätsel betrifft vorrangig das Versorgungsgebiet des Wasserwerks Dorsten-Holsterhausen der RWW Rheinisch-Westfälische Wasserwerksgesellschaft mbH. Die Leidtragenden sind die Bauherrn/Auftraggeber, die installierenden Handwerksbetriebe und auch die Rohrhersteller, denn die neue Lochfraß-Anfälligkeit untergräbt natürlich das Vertrauen in die halbharten Kupferrohre. Die Mängelbeseitigungskosten zwischen einigen 1 000 bis 630 000 Euro – für die Erneuerung des Netzes im Knappschaftskrankenhaus Bottrop – bleiben allerdings zunächst am Installateur hängen. Da die Rohrbrüche bereits in der Gewährleistungszeit auftreten, ist er zur Schadensbehebung verpflichtet. Ob er den finanziellen Aufwand über eine Kulanzregelung oder per Richterspruch von seinem Vorlieferanten eventuell zurückerstattet bekommt, steht auf einem anderen Blatt. Die Betriebe wehren sich. Sie wollen den Vorlieferanten an den Pranger gestellt sehen beziehungsweise das Rohr als „für den Verwendungszweck nicht geeignet“.
Wasser, Rohr oder Verarbeitung?
Doch wie gesagt, die Ursachen ließen sich bisher nicht ermitteln. Der Fachverband SHK NRW sah sich deshalb gezwungen, per Rundschreiben die Handwerker dieser Region vor dem Einbau von Kupferrohr für Trinkwasserinstallationen zu warnen. Gegen Ausschreibungen mit Kupferrohr im Leistungsverzeichnis müssen sie jetzt zur eigenen Absicherung Bedenken anmelden. Das hilft allerdings den betroffenen Betrieben in Bezug auf frühere Aufträge nicht weiter. Fünf Firmen befinden sich zurzeit (Juni 2015) in gerichtlichen Auseinandersetzungen und gegen drei der Unternehmen hat das Landgericht Essen auf Basis von Gutachten bereits entschieden. Nach dem Ausschlussverfahren: da sich weder das Wasser noch das Rohr außerhalb des Regelwerks befinden, kann es nur die Verarbeitung gewesen sein.
Neuerdings besteht jedoch ein Verdacht, dazu gleich Einiges. Zunächst: Dem Wasser ist also kein Überschreiten von Grenzwerten anzulasten. Zumal es in korrosionstechnischer Hinsicht auch gar keine gibt. Aussagen zur Qualität des Wassers und seine Inhaltsstoffe betreffen immer nur die Hygiene. TVO, DIN 2000 und DIN 50930 Korrosion der Metalle, deren Teil 6 „Bewertungsverfahren und Anforderungen hinsichtlich der hygienischen Eignung in Kontakt mit Trinkwasser“ als Gelbdruck vorliegt, kümmert der Lochfraß nur insofern, wie seine Korrosionsprodukte die Genießbarkeit des Wassers beeinträchtigen. Die Verhütung eines teuren Korrosionsschadens haben sie nicht im Blick. Der Rohrwerkstoff muss zum Wasser passen, nicht das Wasser zum Rohr. Hält sich der Installationsbetrieb bei Auswahl seiner Materialien nicht an diese Maxime, hat er den Schwarzen Peter in der Hand. Hält er sich daran und sollten irgendwann die Wasserwerke neue Brunnen anzapfen und ein für Lochkorrosion kritisches Wasser in den Gebäudebestand leiten, schützt in der Regel eine mittlerweile stabile Patina gegen Rohrbrüche beziehungsweise ihn, den Handwerker, treffen Schäden nicht mehr, weil sie jetzt im Normalfall außerhalb der Gewährleistung liegen und vermutlich zum Versicherungsfall werden.
Nach allen vorgenommen Analysen hat auch der Werkstoff Kupfer im Hinblick auf die in den Normen aufgeführten Kriterien den Regeln der Technik entsprochen. Mithin, so die simple Sichtweise der meisten Gerichte, trage der Handwerker die Kosten der Mängelbeseitigung. Sie folgen damit der Indizien-Kette der befragten Sachverständigen. Ein Muss dazu besteht jedoch nicht. Eine andere Sichtweise wäre die Beurteilung der eingebauten Rohre als mangelhaft, weil sie entgegen einer generellen Eignungszusage, in Bezug auf die örtliche Wasserbeschaffenheit und der bestimmungsgemäßen Betriebsweise, Lochkorrosion erlitten haben. Oder so gesagt: Das Auftreten von Lochkorrosion begründet auch den „Verdacht des ersten Anscheins“, dass die verwendeten Rohre mangelhaft waren. Dies hätte eine Umkehr der Beweislast zur Folge, das heißt, der Rohrhersteller müsste jetzt beweisen, dass die Lochkorrosion nicht auf die Beschaffenheit der Rohre zurückzuführen ist. Da Kupferrohre grundsätzlich in der Lage sind, Lochkorrosion zu erleiden – man denke nur an den bekannten Lochfraß-Typen 1 und 2 –, dürfte das ein sehr schwieriges Unterfangen sein.
Ein Verdacht
Was könnte eventuell die Rohre geschwächt haben? Mit einer Antwort tun sich die Korrosionsfachleute deshalb schwer, weil ihnen der Zustand der geschädigten Rohre zum Zeitpunkt der Anlieferung beim Installateur respektive zum Zeitpunkt der Herstellung nicht bekannt ist. Könnten sie auf das Rohr der Vergangenheit schauen, stellte sich unter Umständen Skepsis zur Praxistauglichkeit ein. Die justiziablen Leitungsabschnitte, durch die mittlerweile Hektoliter von Trinkwasser geflossen sind, lassen dagegen keine umfänglichen Rückschlüsse auf den Urzustand zu.
Als einen möglichen Einflusskomplex sollte man etwa die Bedingungen vor der eigentlichen Inbetriebnahme des Netzes, die unter Umständen zu einer Vorschädigung der Rohre geführt haben, in Betracht ziehen. Dies etwa kann ehedem das Material vorgeschädigt haben: Wenn das Rohr eine Zeit lang im Werk oder beim Händler oder beim Handwerker gelegen, sich aus irgendwelchen Gründen darin Kondenswasser gebildet und in der 6-Uhr-Lage dauerhaft gesammelt hat, besteht die Gefahr zu Ansätzen örtlicher Korrosion. Solche Ansätze offenbaren sich im späteren Einsatz als ausgesprochene Schwachstellen, an denen es dann beim Betrieb mit dem Leitungswasser zu fortschreitender Lochkorrosion kommen kann. Dies scheint weitgehend unabhängig von der Wasserbeschaffenheit in praktisch jedem sauerstoffhaltigen Wasser möglich zu sein.
Ameisensäure induzierte Korrosion
Allerdings bedarf es noch eines Partners, mit dem die Feuchtigkeit zu einer Art aggressiver Säure reagiert, zum Beispiel Kohlenstoff. Ein Denken in diese Richtung stoßen die Amerikaner und Japaner an. Werkstoffkundler in diesen Ländern stolperten schon in der Vergangenheit über die gleiche mysteriöse Morphologie – ameisenhügel-ähnliche Korrosionsprodukte mit einer Unzahl von scheinbar ziellos verlaufenden Gängen in den einzelnen Ebenen – wie die des Dorstener Lochfraßes. Sie nahmen sich des Phänomens an und kamen eben ihr, der Ameisensäure induzierten Kupfer-Lochkorrosion auf die Spur.
In einer jüngeren Veröffentlichung weisen die amerikanischen Autoren Corbett und Severance als mögliche Kohlenstoffquelle auf die Rückstände neuerer Ziehfette hin. Die fanden sie auf den Oberflächen von defekten Kupferrohr-Wärmetauschern. Die Ameisensäure könnte durch oxidative Zersetzung von Ziehmittelresten entstehen. Die jungen Schmiermittel zeichnet die Eigenschaft aus, nach der Rohrpoduktion nicht mehr abgewaschen werden zu müssen. Sie entfernen sich durch Verdampfen selbst – unter ungünstigen Umständen unter Bildung des korrosiven Reagenz als Rückstand. Denn die Verflüchtigung braucht ihre Zeit. Wenn ihr diese Zeit, zum Beispiel im Rohrlager, gegeben ist, besteht demnach die Gefahr, dass Ziehfettrückstände in Verbindung mit Feuchtigkeit und Sauerstoff zu Ameisensäure oxidieren und eine Art Vorkorrosion auslösen, die sich später zu Lochfraß ausweiten kann.
Einen Beleg dafür liefert das Wasserwerk Dinslaken GmbH, das die Haushalte aus einem Brunnen in Voerde am Rhein versorgt. Dort traten schon vor Jahren unter anderem zwei Großschäden auf.
„Die Überraschung, die wir erlebten, waren auch Durchbrüche an senkrecht verzogenen Strängen. Deswegen bezweifelte das Institut TZW in Karlsruhe unsere Angabe zur Einbaulage der zur Untersuchung übergebenen Abschnitte. Ob wir uns nicht vertan hätten, es müsste sich um waagerecht verlegtes Material handeln. Wir hatten uns nicht vertan. Die Kuriosität bestand darin, dass die Korrosion exakt nur in einer Halbschale der Rohre regelrecht gewütet hatte. Die gegenüber liegende Hälfte war ohne jede Pustel mit einer wunderbar ausgebildeten Patina. Wieso bei einem senkrechten Verlauf? Also, vermuten die Karlsruher, muss das halbharte Rohr vor der Verwendung bereits vorgeschädigt gewesen sein, durch falsche waagerechte Lagerung im Handel oder beim Installateur, so dass eventuell Wasser hinein regnen konnte“, schildert Wolfgang Kammann vom Wasserwerk Dinslaken die vorgefundene Situation. Dr. Carl-Ludwig Kruse, der frühere Leiter des Korrosionslabors des Materialprüfungsamts NRW, hatte schon vor drei Jahren in einem Fachartikel (SHT 10/2012) einen ähnlichen Verdacht zu Lochfraß unbekannten Typs in einem Wohnkomplex geäußert: Patina-Fehlstellen aufgrund von längerer waagerechter Lagerung plus Ziehfettreste plus Feuchtigkeit.
Nur in Dorsten?
Dass Holsterhausen eine Ausnahme und ausschließlich dieses Wasserversorgungsgebiet kritisch ist, wie die Kupferrohrhersteller sagen, sei in jedem Fall bezweifelt. In erster Linie wegen der eklatanten Schadensquote in drei Großobjekten kam das Thema in die Öffentlichkeit. Lokale Einzelfälle bewegen nicht sonderlich die betroffenen Gemüter beziehungsweise werden in Kulanz geregelt. Und warum sollten andere Regionen von dieser Korrosionsart verschont sein oder verschont bleiben, wo man den Auslöser gar nicht kennt? Das widerspricht sich in sich. Genau genommen spricht diese Grenzziehung auch die Installateure frei, einfach deshalb, weil Kupferrohr bundesweit verlegt wird und es unwahrscheinlich klingt, dass ausschließlich Betriebe im engen Dorstener Gebiet damit nicht zurechtkommen. Vielmehr erhärtet solch ein Ortsbezug, würde man darauf beharren, den „Verdacht des ersten Anscheins“, dass eine verwendete und über den regionalen Großhandel vertriebene Charge mangelhaft war.
Inwieweit die Gewährleistungs- und Haftungsübernahme-Vereinbarungen mit dem Handwerk im Schadensfall greifen müssten, sollten die Juristen klären. Diese Verträge nehmen unter anderem die Hersteller bei „Unterlassen der Produktbeobachtung“, wie es in § 2 heißt, in die Pflicht. Wie ist dieser Passus zu interpretieren? Oder: Sollten Schmiermittel an dem Dorstener Befall Schuld tragen, darf dann das Handwerk nach § 2 Instruktionsmängel wegen des fehlenden Hinweises „Nur für den sofortigen Einsatz geeignet“, inklusive Verfalldatum, reklamieren? Oder Materialfehler geltend machen, da dieser Art gefertigte Rohre für den Einsatz in Trinkwasserinstallationen nicht geeignet sind?
Natürlich sind zahlreiche Labore und Institute dabei, nach des Rätsels Lösung zu forschen. Auch das Landgericht Essen hat über den eingeschalteten Sachverständigen umfangreiche Untersuchungen in verschiedene Richtungen in Auftrag gegeben. Man erwartet Ende des Jahres die Ergebnisse.
Dipl.-Ing. Bernd Genath, freier Journalist, Düsseldorf.