EuGH: Mindestsätze dürfen für Altverträge weiter angewendet werden
Es war höchst umstritten, ob Ingenieure bei Verträgen, die nach der HOAI 2013 oder 2009 abgeschlossen worden sind, ein Honorar nach dem Mindestsatz nachfordern können, falls die Honorarvereinbarung mindestsatzunterschreitend war. Der Europäische Gerichtshof hat dazu nunmehr entschieden.
Nicht selten kommt es vor, dass bei einem Vertrag, der unter der Geltung der HOAI 2013 oder 2009 abgeschlossen worden ist, die Honorarvereinbarung zu einem Honorar unter dem Mindestsatz führt, sei es aufgrund bewusster Vereinbarung, sei es, weil von den Parteien angenommene Umstände sich als unzutreffend erweisen (fehlerhafte Vereinbarung der Honorarzone, Pauschalhonorar auf der Basis angenommener anrechenbarer Kosten). Nach § 7 Abs. 1 HOAI 2013/2009 richtet sich das Honorar nach der Parteivereinbarung, soweit diese sich im Rahmen der durch die HOAI vorgegebenen Mindest- und Höchstsätze hält. Erweist sich die Vereinbarung als mindestsatzunterschreitend, ergibt sich aus § 7 Abs. 5 HOAI 2013/ § 7 Abs. 6 HOAI42009, dass der Mindestsatz geschuldet wird. Das konnte der Planer grundsätzlich auch gerichtlich durchsetzen. In seiner Entscheidung vom 4. 7. 2019 hat der EuGH festgestellt, dass die zwingenden Mindest- und Höchstsätze der HOAI 2013 (und damit auch der HOAI 2009) gegen die Vorgaben der europäischen Dienstleistungsrichtlinie verstoßen und unwirksam sind. Die Bundesrepublik Deutschland war verpflichtet, Abhilfe zu schaffen, was durch die HOAI 2021 geschehen ist.
Unterschiedliche Auslegung durch deutsche Gerichte
Unabhängig davon war die Frage, ob aus der Entscheidung folgte, dass die als europarechtswidrig erkannten Regelungen auch bei „Altverträgen“ in einem Rechtsstreit nicht mehr angewandt werden dürfen. Dies wurde von einigen Gerichten (zum Beispiel OLG Celle, OLG Schleswig, OLG Düsseldorf) so gesehen: Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt müssten selbstständig prüfen, ob eine nationale Norm dem Europarecht entspreche. Sei das nicht der Fall, sei die Norm nicht anzuwenden. Daher haben diese Gericht Klagen, mit denen nachträglich der Mindestsatz gefordert wurde, abgewiesen.
Demgegenüber vertraten andere Gerichte (OLG Naumburg, OLG Hamm, das Kammergericht Berlin) die Ansicht, dass Gerichte, die eine europarechtswidrige Norm erkennen, versuchen müssten, durch europarechtskonforme Auslegung den Verstoß zu beseitigen. Wenn das nicht möglich sei, müsse die Norm angewandt werden, da ihre Nichtanwendung zu einer unmittelbaren Richtliniengeltung führe. Eine solche ist aber grundsätzlich nicht vorgesehen, und der in der Rechtsprechung des EuGH vorgesehene Ausnahmefall liege hier nicht vor. Diese Gerichte haben Klagen auf Vergütung des Mindestsatzes stattgegeben.
Nationale Gerichte nicht an europäisches Recht gebunden
Der BGH, der über die Revisionen gegen die verschiedenen Urteile zu entscheiden hatte, hat dargelegt, dass er der zuletzt genannten Ansicht zuneige, die Sache aber dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt, weil hier Fragen des europäischen Rechts maßgeblich seien. Der Generalanwalt beim EuGH hat sich dafür ausgesprochen, dass europarechtswidrige Normen des nationalen Rechts von den nationalen Gerichten nicht angewandt werden dürften.
Der EuGH folgt zumeist den Anträgen des Generalanwalts. In diesem Fall hat der EuGH jedoch mit Urteil vom 18. 1. 2022 (Rs. C-261/20) abweichend entschieden, dass in einem Rechtsstreit unter Privatpersonen das nationale Gericht nicht durch europäisches Recht verpflichtet ist, die Regelung über die Verbindlichkeit der Mindestsätze und die Unwirksamkeit davon abweichender Vereinbarungen außer acht zu lassen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass ein öffentlicher Auftraggeber, der einen privatrechtlichen Vertrag abschließt, im Sinne der Entscheidung als „Privatperson“ anzusehen ist.
Der BGH wird nunmehr entscheiden, dass nach wie vor für Altverträge bei mindestsatzunterschreitenden Honorarvereinbarungen der Mindestsatz gerichtlich durchgesetzt werden kann; die Instanzgericht werden sich dem anschließen.
Schadensersatzanspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland?
Der EuGH hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Mindestsatzregelung aus Gründen des nationalen Rechts anderweitig ausgeschlossen sein kann. Die Gerichte lassen zwar grundsätzlich zu, dass der Ingenieur nachträglich den Mindestsatz geltend macht. Ausnahmsweise kann der Ingenieur aber nach Treu und Glauben gehindert sein, sich auf den Mindestsatz zu berufen, wenn der Auftraggeber auf die mindestsatzunterschreitende Vereinbarung vertraut hat und darauf vertrauen durfte, wenn er sich auf diese Vereinbarung eingerichtet hat und eine Nachforderung für ihn unzumutbar ist. Erfahrene Auftraggeber, insbesondere die öffentliche Hand, dürfen regelmäßig schon nicht darauf vertrauen, dass mindestsatzunterschreitende Vereinbarungen wirksam sind. Ingenieure können sich also für Altverträge erfolgreich auf den Mindestsatz berufen. Der EuGH stellt in den Raum, dass die dadurch nachteilig betroffenen Auftraggeber einen Schadensersatzanspruch (Differenz zwischen vereinbartem und Mindestsatzhonorar) gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen verspäteter Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie haben können. Dies erscheint allerdings fraglich, da die Dienstleistungsrichtlinie Dienstleistungserbringer und nicht die Auftraggeber schützen sollte, sodass diese keinen Anspruch auf Umsetzung geltend machen können.
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Dr. Reinhard Voppel, Rechtsanwaltskanzlei Osenbrück, Bubert, Kirsten, Voppel, Köln www.obkv-rechtsanwaelte.de