Sechs Irrtümer zum Thema Normung
Thomas Wollstein ist „Normer“ – seit 30 Jahren. Langweilig, sagen Sie? Das ist einer der vielen Irrtümer über Normung. Anlässlich des heutigen Weltnormentages räumt der VDI-Mitarbeiter mit einigen Fehleinschätzungen zur Welt der Normung auf.
Eine Anmerkung vorab: Als Mitarbeiter des VDI geht mir das Wort „Normung“ nicht ganz so gut über die Lippen, da die Normen des VDI historisch bedingt „Richtlinien“ genannt werden. Und dann gibt es noch eine Reihe anderer Regelsetzer, die Papiere mit ähnlich hohem Anspruch erzeugen, die auch nicht Normen heißen. Ich rede also im Folgenden von technischer Regelsetzung und von allgemein anerkannten Regeln der Technik (aaRdT).
Irrtum 1: Normung ist nicht spannend
Was ist eigentlich Normung? Ich habe vor einiger Zeit über verschiedene Soziale Medien und Messenger Menschen aus meinem Bekanntenkreis gebeten, dass sie mir die ersten drei Worte schicken, die ihnen zum Thema „Normung“ einfallen. Es kamen die zu erwartenden Stichworte wie „DIN“, „Stand der Technik“, „Vereinheitlichung“, „Klassifizierung“. Durchaus aber auch solche wie „Lobbyismus“, „staatsentlastend“, „sicher“, „Einschränkung“. Sie stimmen alle: Das DIN ist der größte und bekannteste Regelsetzer und hat einen Staatsvertrag, der ihm allein gestattet, Deutschland normungstechnisch gegenüber der internationalen Community zu vertreten. Regelsetzung muss aktuell sein und sich am Stand der Technik orientieren, sie vereinheitlicht und klassifiziert. Dass Lobbyisten sie gerne nutzen um ihre Interessen zu verankern, liegt in der Natur der Sache. Staatsentlastend wirkt Regelsetzung, weil der Gesetzgeber nicht jede Schraube einzeln in Rechtsdokumenten vorschreiben muss, sondern Zuflucht zu unbestimmten Rechtsbegriffen wie „allgemein anerkannte Regeln der Technik“, „mittlere Art und Güte“ oder „Verkehrssitte“ nehmen kann. So ist sichergestellt, dass man vielleicht nicht die Fünf-Sterne-Lösung bekommt, aber auf jeden Fall etwas, das mindestens die grundlegenden, marktüblichen Anforderungen erfüllt. Man ist bei Anwendung einer allgemein anerkannten Regel der Technik recht sicher aufgestellt, weil sich kluge Köpfe Gedanken gemacht haben, wie man etwas „richtig“ macht. Und Einschränkungen sind nicht immer negativ: Die Qual der Wahl wird vorgefiltert, ein potenzieller Käufer, oft fachlicher Laie, wird entlastet.
Keiner assoziierte Normung mit einem Wort, das mir sehr wichtig ist: Dialog. Ich sehe technische Regelsetzung als einen Prozess des Austauschs. Die Gruppen, die ein Interesse an einer Sache haben, setzen sich an einen Tisch und gleichen ihre Erwartungen an die Sache ab. So wird das „Objekt der Begierde“ von allen Seiten beleuchtet. Die Stakeholder bilden einen Konsens. Da nicht alle Stakeholder in Person am Tisch sitzen können, sondern Interessen gebündelt vertreten werden, wird die Öffentlichkeit mit der Veröffentlichung eines Entwurfs gebeten, Feedback in Form von Einsprüchen zu geben. Der Entwurf einer technischen Regel ist bewusst nicht in Stein gemeißelt, sondern ein Diskussionsbeitrag, mit dem der Ausschuss, der ihn entwickelt hat, den Rest der (Fach-)Öffentlichkeit abholt und ihn einbindet. So hat jede(r) mit einem Interesse am Thema die Chance, sich auch zu beteiligen. Dieser transparente Prozess macht die Regelsetzung stark. Das Gutachten eines Sachverständigen ist eine Einzelmeinung und daher möglicherweise anfechtbar, aber ein ausgewogen von allen interessierten Kreisen gebildetes Gremium kontrolliert sich selbst sehr effektiv; das Ergebnis hat einen ganz anderen Stellenwert. Nach Beteiligung der Öffentlichkeit wird dann in der Regel eine finale technische Regel veröffentlicht, der man den Status allgemein anerkannte Regel der Technik unterstellen darf. Und auch die hat keinen ewigen Bestand, denn Regelsetzung soll – gerade auch neuer – Technologie den Weg in die breite Anwendung ebnen.
Als ich meinen Job als technischer Regelsetzer vor fast 30 Jahren begann, wollte ich, damals junger und etwas „nerdiger“ Wissenschaftler, einen Job, bei dem es um Technik geht und der menschliche Faktor keine allzu große Rolle spielt. Sie wissen schon: Elfenbeinturm, stilles Kämmerlein und so. Technische Regelsetzung schien das zu bieten. Schien, Vergangenheitsform. Heute weiß ich mehr.
Die ExpertInnen, die ihr Wissen in die Regelsetzung einbringen sind nicht nur aus unterschiedlichen Gründen Stakeholder, sondern Menschen mit einem Leben und allen Problemen, die daran hängen können. Die bringen sie mit in das Gremium. Dadurch gerät mitunter die Aufgabe, ein technisch arbeitendes Gremium zum Erfolg zu führen, zu einer deutlich mehr als nur organisatorischen Herausforderung. Alle möglichen psychologischen Probleme von persönlichen Empfindlichkeiten, Selbstbildern und gemeinsamen, nicht immer unproblematischen Vorgeschichten der Beteiligten bis hin zum (legitimen) Wunsch nach Anerkennung für die individuelle oder kollektive Leistung, die durch das – vielleicht nur ungeschickte – Auftreten Einzelner infrage gestellt zu sein scheint, können die Stimmung und damit die Produktivität eines Ausschusses gefährden. So kann jemand, der einen an sich technisch fundierten Einspruch vorträgt, der möglicherweise bei einem großen Teil des Gremiums auf offene Ohren stoßen würde, eine Lawine von Emotionen lostreten, die die technische Frage fast völlig vergessen lässt, indem er sich bei der Formulierung seines Punkts abwertender Vokabeln bedient.
Ich persönlich arbeite im Bereich Bauen und Gebäudetechnik. Nahezu jeder Mensch in unserem Kulturkreis lebt und arbeitet in Gebäuden. So kommen viele Menschen mit „meinen“ Richtlinien in Berührung, meist – und das ist gut so – unbewusst. Im Bauwesen kommt es fast ständig zu Streit darüber, was wieviel kosten darf, wie es hätte ausgeführt sein müssen, bis wann es hätte fertig sein müssen usw.. Wenn aber etwas hakt, dann suchen Menschen nach bedrucktem Papier, auf dem steht, dass sie Recht haben. Eine VDI-Richtlinie gilt in diesem Kontext als „vorweggenommenes Sachverständigengutachten“. Und wenn das nun den jeweiligen Spezialfall nicht behandelt oder – noch schlimmer – dem anderen Recht gibt, dann bekomme ich einen wütenden Anruf, wie ich denn so etwas schreiben könne. Für den Anrufer bin ich persönlich für den Inhalt jeder von mir betreuten Richtlinie verantwortlich. Manchmal kommt man sich als Regelsetzer (Wir erinnern uns: technischer Job) manchmal wie ein Prügelknabe, manchmal wie ein Seelsorger vor.
Mein Job ist auch spannend, weil er eine stete Weiterbildung ist. Ständig sitze ich mit hervorragenden ExpertInnen zusammen, die ihr Wissen einbringen. In den Sitzungen lerne ich Dinge, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte, viele einfach nur interessant für den Nerd in mir, andere lustig. Ein Beispiel: In einem Land, dessen Wirtschaft zur Deckung seines Bedarfs an Fachkräften auf Zuwanderung angewiesen ist, muss bei der Einrichtung einer Arbeitsstätte auch auf kulturelle Unterschiede Rücksicht nehmen. Das zeigt sich schon bei ganz grundlegenden Dingen: Viele Menschen muslimischer Herkunft ziehen Hock-WCs vor. Bietet man ihnen diese nicht, besteht das Risiko, dass sie die in unserem Kulturkreis übliche Keramik mit der in ihrem Kulturkreis üblichen Technik nutzen, sprich: Sie klettern drauf. Jetzt ist man als Arbeitgeber so vorausschauend und richtet Hock-WCs ein. Alles gut? Fast: Die geografische Ausrichtung sollte auch stimmen. Wie jetzt? Bei einer Toilette? Ja, da es für strenggläubige Muslime untersagt ist, mit ihrem als unrein geltenden Allerwertesten in bestimmte Richtungen … Es gibt sogar Handy-Apps, um das zu überprüfen.
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich für die Pflege vieler meiner Ausschüsse und des Netzwerks viel mehr Energie aufbringen muss als für den profanen technischen Inhalt. Gut, dass meine Vorstellung meines Wunschjobs beim Einstieg so fundamental falsch war, denn den Job, den ich mir damals gewünscht habe, würde ich heute, glaube ich, langweilig finden. Also: Regelsetzung ist super!
Irrtum 2: Normen sind Vorschriften, also bindend einzuhalten
Was glauben Sie: Kann eine privatrechtliche Organisation Vorschriften machen? Solche, die für die Allgemeinheit gelten? Natürlich nicht. Daher sind Normen auch keine Vorschriften, sondern privatrechtliche Empfehlungen. Sie sind indes trotzdem nicht völlig unverbindlich. Normen beschreiben nämlich, wie etwas nach Ansicht der Verkehrskreise beschaffen sein sollte (oder wie man etwas macht, damit es richtig funktioniert). Die „Verkehrskreise“, das sind die Menschen, die mit der fraglichen Sache ständig arbeiten. Fachleute. Wenn die sagen „So geht das, haben wir ausprobiert, funktioniert.“, dann darf sich der Laie darauf verlassen, dass er keinen Schrott bekommt.
Nun steht im BGB, § 242, etwas von Treu und Glauben und der Verkehrssitte. Wenn mir jemand etwas schuldet, dann soll ich nicht betrogen werden, sondern die Schuld soll so beglichen werden, wie man das anständigerweise tut. Dabei kann ich zum Beispiel als Laie, der ein komplexes technisches Produkt kauft, mitunter das Produkt mangels Fachwissen gar nicht bewerten. Der Begriff „Verkehrssitte“ (oder „Handelsbräuche“ oder „allgemein anerkannte Regeln der Technik“) zeigt an, dass der Gesetzgeber hier mangels Ressource oder Fachkenntnis nicht alle Details regelt, sondern sich darauf verlässt, dass es so etwas wie „gesunden Menschenverstand“ gibt. Und der ist zwar nicht vorgeschrieben, aber wenn man ihn nicht anwendet, kann man damit rechnen, dass man belangt wird. Daraus leitet sich das Gebot ständiger Fortbildung für Fachleute ab: Als Laie muss ich mich darauf verlassen können (Treu und Glauben), dass eine von mir beauftragte Fachperson auf aktuellem Stand ist. Bekomme ich eine Leistung, die nicht den aaRdT entspricht, ist die Leistung mangelhaft, und es interessiert nicht, ob mein Anbieter die neuen Normen nicht gekannt hat.
Irrtum 3: DIN-Normen sind verbindlich, VDI-Richtlinien nur empfehlend
DIN 476 beschreibt Papierformate. Die kennen die meisten Menschen. Eine VDI-Richtlinie mit ähnlichem Bekanntheitsgrad gibt es kaum. Das DIN hat auch einen Staatsvertrag mit der Bundesrepublik, der ihm die Rolle des nationalen Normungsinstituts zuschreibt. Das allerdings bedeutet nicht, dass nicht auch andere Organisationen, so zum Beispiel der VDI, allgemein anerkannte Regeln der Technik erarbeiten können. Damit etwas als allgemein anerkannte Regel der Technik (aaRdT) gilt, ist nur wichtig, dass es definitiv den Konsens der Verkehrskreise darstellt. Das kann schlicht „von alleine“ passieren. Dann sind diese aaRdT möglicherweise nicht einmal aufgeschrieben worden, sondern jede(r) (Fachfrau/-mann) kennt sie einfach. Man kann aber auch gezielt zu einem Thema den Stand der aaRdT feststellen. Verfahren, die vermuten lassen, dass das Ergebnis einer solchen Arbeit eine aaRdT ist, werden in den Spielregeln für die Regelsetzungsarbeit, allen voran VDI 1000 und DIN 820, beschrieben. Wichtigste Vorgabe dieser Spielregeln ist, dass man möglichst alle interessierten Kreise zu beteiligen und auch der allgemeinen Öffentlichkeit die Möglichkeit zu Einsprüchen einzuräumen hat. Der VDI tut genau das, und folglich gelten auch VDI-Richtlinien – ganz genau wie DIN-Normen – a priori als allgemein anerkannte Regeln der Technik und sind genauso verbindlich (oder unverbindlich).
Irrtum 4: Standardisierung verhindert Fortschritt, weil sie einen Sachstand einfriert
Das ist schlicht falsch. Ja, in aaRdT werden technische Merkmale auf-, aber eben nicht festgeschrieben. AaRdT leben. Sie sind nämlich – auch das eine Vorgabe der VDI 1000 – regelmäßig auf Aktualität zu überprüfen und gegebenenfalls zu aktualisieren oder zurückzuziehen. Das ist vor ein paar Jahren dem DIN auf die Füße gefallen, bei dem der BGH eine Norm als aaRdT disqualifiziert hat, weil sie zu alt war. Standards führen oft überhaupt erst dazu, dass eine Technologie für die allgemeine Anwendung tauglich wird. Betrachten wir als Beispiel die Blu-Ray-Disc: Die Technologie gab es schon eine Weile, aber für den Markt brauchbar wurde sie erst, als der Standard konsolidiert war. Dann erst konnten nämlich Player hergestellt werden, bei denen man als Käufer sicher sein konnte, dass man für sein teuer erstandenes Gerät auch ein breites Angebot von Medien bekam.
Irrtum 5: DIN und VDI machen einander Konkurrenz
Es gibt einen Normenausschuss Heiz- und Raumlufttechnik beim DIN, und es gibt im VDI Fachausschüsse für Wärme-/Heiztechnik und für Raumlufttechnik. Stellen wir uns vor, es gäbe eine Regel, die „Ja“ sagt, und eine, die „Nein“ sagt, und beide beanspruchten für sich, „allgemein anerkannt“ zu sein. Es können aber nicht zwei gegensätzliche Aussagen gleichzeitig richtig sein. Kommt ein Fall vor Gericht, bei dem die von den Regeln beantwortete Fragestellung zu entscheiden ist, würde das Gericht vermutlich entscheiden, dass keine der beiden Regeln als aaRdT gelten kann. Aus dem Grund achten Regelsetzer, die aaRdT erstellen, auf Abgrenzung. In Normendatenbanken wird jedes neue Projekt eingetragen, sodass die Fachcommunity sich informieren kann, ob ein Thema bereits in einer technischen Regel behandelt wurde.
Irrtum 6: Normen sind Gemeingut, die darf man frei kopieren
Wissenschaft und technisches Wissen sind Gemeingut. Technische Regeln aber üblicherweise eben nicht. Zur Aufbereitung des technischen Wissens in Form der aaRdT ist ein erheblicher Aufwand nötig: Fachleute investieren Arbeitszeit und beispielsweise Reisekosten, das Personal des Regelsetzers achtet auf die Einhaltung des Regelsetzungsprozesses, organisiert die Zusammenarbeit und bereitet das von den Fachleuten eingebrachte Wissen auf. All das muss bezahlt werden. Die konkrete Aufbereitung des Wissens ist daher durch das Urheberrechtsschutzgesetz geschützt. Mindestens ein Teil der Finanzierung wird durch den Verkauf der technischen Regeln gedeckt. Kopien von zum Beispiel VDI-Richtlinien und DIN-Normen sind also Raubkopien. Bei Themen, die von Handel und Industrie getrieben sind, werden genau die zur Kasse gebeten, die das Interesse an der Norm haben, also die Unternehmen, die sie brauchen; in den meisten Normenausschüssen des DIN müssen Unternehmen, die ihre Mitarbeiter in Gremien entsenden, einen Kostenbeitrag an das DIN leisten. Hier wandert der Regelsetzer auf einem Grat: Für die Großindustrie ist der Kostenbeitrag ein Klacks, für ein kleines Unternehmen aber nicht. Wenn man als Regelsetzer keine Vorkehrungen dagegen trifft, kommt es fast zwangsläufig dazu, dass die Kleinen bei der Normungsarbeit ausgebootet werden. Themen, an denen die Industrie kein Interesse hat – oft solche im Bereich Umweltschutz, zum Beispiel Luftreinhaltung oder Lärmminderung – finanziert dann gegebenenfalls die Öffentliche Hand als Stakeholder. Ein anderes Modell liegt der VDI-Richtlinienarbeit zugrunde: Ein Teil der Finanzierung geschieht durch Verkäufe der Richtlinien. Aber der VDI e. V. wurde mit dem Ziel gegründet, Technologie zum Nutzen aller in die Anwendung zu transferieren. Daher kann der VDI für die Finanzierung seiner satzungsgemäßen ideellen Ziele, darunter die Regelsetzung, auch Einkünfte aus anderen Quellen, zum Beispiel den GmbHs in der VDI-Gruppe, einsetzen. Die Mitarbeit in einem VDI-Richtlinienausschuss ist kostenfrei. Das senkt für kleine Firmen und Selbstständige die Schwelle bei der Mitarbeit im VDI.