Lineare und rotative „Motoren“ aus einem Stück Metall
Lange Zeit wurden Mikro-Aktoren auf der Basis von Memorymetallen für Außenseiter der Antriebstechnik gehalten. Doch inzwischen schätzen Insider die weltweite Produktion von Stellantrieben auf der Basis von Formgedächtnisdrähten und -folien auf jährlich über 50 Mio. Stück. Die Akzeptanz der smarten Aktoren nimmt unverkennbar zu. Technisch gefallen sie durch minimale Baumaße, geringe Leistungsaufnahme und Zyklenfestigkeiten, bis hin zu 100 Mio. Zyklen. Und auch wirtschaftlich haben FGL-Aktoren einiges zu bieten.
Alle guten Rezepte beginnen mit „Man nehme“. Für einen FGL-Aktor nehme man also ein Stück Draht oder Folie aus einer speziellen Nickel-Titan-Legierung und forme daraus einen Aktor. Klingt einfach, erfordert aber jede Menge spezifisches Know-how. Wie muss der Formgedächtnis-Werkstoff ausgelegt sein, und wie geformt? Wie lassen sich die aktiven Elemente in eine kleine Funktionsmechanik integrieren? Wie werden sie mit Spannung versorgt? Wie schnell reagieren sie auf Spannungs- oder Temperaturänderungen? Angesichts des großen Fragenkatalogs ist sicher: Wer mithilfe dieser Technik eine Anwendung zum Erfolg führen will, kommt um die Mitarbeit erfahrener Spezialisten kaum herum.
Veränderungen der Eigenschaften technisch nutzen
Legierungen und Metalle verändern in Abhängigkeit der Temperatur ihre Kristallstruktur. Erfreulich dabei: die Veränderungen der physikalischen und chemischen Eigenschaften können technisch genutzt werden. Bauteile aus Formgedächtnislegierungen ändern zum Beispiel ihre äußere Form. In der Niedertemperaturphase – als Martensit-Phase bezeichnet − können sie leicht verformt werden, während in der Austenit-Phase, also bei erhöhter Temperatur die Rückkehr zu ihrer Ausgangsform eintritt. Leider funktioniert das „Man nehme“ nicht so einfach, dass man sich beim Metallhandel eine Rolle Draht oder Metallfolie bestellt und mit dem Seitenschneider oder der Blechschere ein Stück davon abschneidet. Vielmehr muss man richtig tief in die Materie einsteigen, wenn man einen FGL-Aktor entwickeln will − oder eben auf externes Knowhow zugreifen.
Ein Premium-Hersteller von Modelleisenbahnen hat zusammen mit FGL-Experten der Memetis GmbH auf der Basis von FGL-Folien eine fernsteuerbare Kupplung für H0-Modelleisenbahnen zur Serienreife gebracht (Bild 1). Deren Aktor ist so klein, dass er ohne Größenanpassung in das Kupplungsgehäuse passt. Ein anderes Unternehmen fertigt mit FGL-Aktoren Ventile für die Automobilindustrie – in Millionenstückzahlen. Dass der Markt wächst, hängt natürlich auch mit der Weiterentwicklung der FGL-Technologie zusammen.
Zwischenpositionen können angefahren werden
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind multistabile FGL-Aktoren, die von der Memetis GmbH entwickelt wurden. Bei diesen Aktoren beschränkt sich die lineare oder rotative Stellbewegung nicht mehr auf zwei Endlagen. Vielmehr können mit beachtlicher Wiederholgenauigkeit auch Zwischenpositionen „angefahren“ werden. „Allerdings“, räumt Memetis-GF Christoph Wessendorf ein (Bild 4), „können solche Aktoren keine Proportionalantriebe mit beliebig vielen, absolut zu bestimmenden Positionen ersetzen.“ Da die erzielbare Anzahl an „Haltestellen“ und die realisierbare Genauigkeit bei vielen Anwendungen jedoch völlig ausreicht, ergeben sich gerade in diesen Fällen enorme Kostenvorteile gegenüber alternativen Proportionallösungen.
Als Memetis vor wenigen Jahren als Startup-Unternehmen aus dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ausgegründet wurde, konzentrierte sich die Entwicklercrew zunächst auf Mikroventile für Gase und Flüssigkeiten, die sich direkt auf den Steuer- beziehungsweise Analytik-Platinen von Lab-on-Chip-Systemen platzieren lassen. Um diesem Ziel nicht nur in Bezug auf die Baumaße der Ventile gerecht zu werden, entwickelten die jungen Forscher Ventilaktoren aus FGL-Folien, die ihnen dank ausgeklügelter Designlösungen erlauben, sowohl NO-Ventile (normally open) als auch NC-Ventile (normally closed) herzustellen. Nicht nur einfach wirkende Ventile, sondern auch Mehrwege-Ventile und mithilfe eines Add-On sogar Regelventile.
Schaltzeiten ab 10 ms möglich
Die hauchdünnen Folienaktoren aus speziellen Formgedächtnislegierungen werden zunächst durch den Druck des Fluids umgeformt. Durch Erwärmen mittels elektrischen Stroms formen sie sich in Millisekunden in ihre Urform zurück. Je nach Detailausprägung werden Schaltzeiten ab 10 ms erreicht und bis zu 100 Mio. Schaltzyklen. Die kleinsten der von Folienaktoren aktivierten Ventile messen nur 10 x 5 x 2,5 mm (Bilder 2+3).
Neben der kundenspezifischen Ventilentwicklung hat sich Memetis unlängst der allgemeinen FGL-Aktorik geöffnet. Dafür knüpften einige der Firmengründer an die Erfahrungen an, die sie Jahre zuvor im KIT gesammelt hatten. Das Team konnte also auf profunden Kenntnissen aufbauen. „Welche Aktorbauweise im jeweiligen Fall die meisten Vorteile bietet“, berichtet Christoph Wessendorf, „hängt vom zur Verfügung stehenden Bauraum, den geforderten Stellwegen sowie den erforderlichen Schaltkräften ab und muss deshalb aus unseren Erfahrungen heraus abgewogen werden.“
Während bei den Folienaktoren in Miniaturventilen Stellwege ab einem Fünfzigstel Millimeter ausreichen, können bei sehr kleinen draht- und federbasierten FGL-Aktoren auch mehrere Millimeter Stellweg und Kräfte über 10 N erreicht werden. „Unter Umständen sind dafür Umlenkungen erforderlich, ähnlich wie bei einem Flaschenzug“, erklärt Dr. Marcel Gültig, technischer Experte und Mitgründer von Memetis (Bild 5).
Den besonderen Charme der FGL-Aktorik sehen die Karlsruher Forscher und Produktentwickler im Wegfall umständlicher Mechanik. Mikromechanische Lösungen sind meist sehr aufwendig − von der Entwicklung über die Teilefertigung bis hin zur Montage. Allein die Produktion erfordert meist hohe Investitionen, die sich teilweise erst bei vollauto-matisierter Fertigung von großen Millionenstückzahlen rechnen. Auf die Frage, wie ein möglicher Anwender erkennen kann, ob ihm FGL- Aktoren Vorteile bieten, antwortet Christoph Wessendorf kurz und bündig: „Wird eine innovative Lösung in Form eines möglichst kleinen, leichten und leise wirkenden Antriebs gesucht, kommen smarte FGL-Aktoren meist als Alternative zu Elektromagneten, Elektromotoren, Piezoantrieben oder Pneumatiken in Betracht.“
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