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Wenn es „plötzlich“ immer schneller geht 01.07.2020, 11:24 Uhr

Was verbindet eine chemische „Runaway“-Reaktion mit dem Corona-Virus?

Thermische Explosionen basieren auf Exponentialfunktionen. Eine solche selbstbeschleunigende Reaktion war vermutlich auch die Ursache dafür, als am 7. Mai 2020 in Andhra Pradesh (Indien) aus einer Chemieanlage giftige Gase austraten, die mindestens 11 Menschen töteten und Hunderte verletzten. Zugrunde lag ein exponentieller Prozess. Warum Prozesssicherheit besonders in Corona-Zeiten wichtig ist.

Ob Destillieren, Kondensieren, Reagieren: die technische Sicherheit ist bei Prozessanlagen unverzichtbar. Foto: BG RCI

Ob Destillieren, Kondensieren, Reagieren: die technische Sicherheit ist bei Prozessanlagen unverzichtbar.

Foto: BG RCI

Als Rechenaufgabe ist das Beispiel Seerosenteich bekannt: Die Zahl der Seerosen verdoppelt sich jeden Tag, wächst also exponentiell. Wie lange es dauert, bis der Teich zugewachsen ist, ist zwar zu berechnen, aber gedanklich schwer nachzuvollziehen. Das bedeutet, dass die Identifizierung von Einflussgrößen zur Steuerung eines exponentiell verlaufenden Prozesses und die Ableitung von Gegenmaßnahmen eine Herausforderung darstellt, die eine detaillierte Betrachtung erfordert. Besonders für sicherheitsrelevante Prozesse ist die Wahl des richtigen Zeitpunkts zur Einleitung der Maßnahmen von Bedeutung. Dies soll anhand der Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus und einer Durchgehreaktion gezeigt werden.

Drastische Covid-Maßnahmen – gebremster Anstieg

Bisher hat Deutschland die Corona-Krise verhältnismäßig gut gemeistert. Der Anstieg der Fallzahlen blieb moderat, die Letalität ist geringer als in manchen anderen Ländern. Dies wurde laut Experten auch durch die frühzeitige und konsequente Einleitung adäquater Gegenmaßnahmen begründet. Insbesondere der geläufigen Hygiene- und Abstandsregeln, verbunden mit drastischen Einschränkungen. Der aus dem Seerosenbeispiel bekannte Reproduktionsfaktor konnte hierdurch deutlich reduziert und der Anstieg gebremst werden.

Für viele Menschen waren die einschränkenden Maßnahmen zu Beginn der Corona-Pandemie notwendig, mit der Dauer der Pandemie scheint die Notwendigkeit der einschränkenden Maßnahmen nicht mehr nachvollziehbar zu sein. Die akuten Infektionszahlen sind gering. Psychologisch ist dies plausibel. Zu einem Zeitpunkt, an dem eine geringe Inkubationsrate vorliegt, werden die Folgen für den Einzelnen nicht direkt sichtbar, das Risiko wird unterschätzt. Hinzu kommt, dass eine lange Inkubationszeit zu einer unzureichenden Gefahrenwahrnehmung führt. Auch der Erfolg der Präventivmaßnahmen kann durch das Abwenden negativer Folgen zu Zweifeln an der Maßnahme führen, wie Prof. Schade vom RKI treffend formulierte. (Präventionsparadoxon).

Betrachten wir jedoch die nicht-lineare Verlaufskurve, wird klar, dass frühzeitig geeignete Gegenmaßnahmen eingeleitet und ein bestimmter Punkt dabei nicht überschritten werden sollte. Ohne diese Maßnahmen hätte der schnelle Anstieg nicht mehr gestoppt werden können.

Was hat die Covid19-Krisemit den Exponentialfunktionen in der Prozessindustrie zu tun?

Betrachten wir nun einmal die chemische Prozesssicherheit: Hier gibt es ein ähnliches Phänomen, das häufig als „Runaway reaction“ beschrieben wird. Wenn bei einer exothermen chemischen Reaktion mehr Wärme freigesetzt als abgeführt wird, kommt es durch die unausgeglichene Wärmebilanz dazu, dass der Prozess unkontrolliert verlaufen und „durchgehen“ kann. Hinzu kommt bei einer solchen beschleunigten Selbsterwärmung (auch „thermische Explosion genannt“) meist ein starker Druckaufbau. Dieser kann zum Bersten von Apparaten führen und ist dringend zu verhindern. Die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion ist stark temperaturabhängig und verdoppelt bis verdreifacht sich bei einer Erhöhung der Temperatur um 10 Kelvin (Van’t Hoff’sche Regel). Diese Regelung unterliegt ebenfalls einem exponentiellen Charakter (Arrhenius-Gleichung).

Bei Betrachten des Verlaufs einer Durchgehreaktion fällt auf, dass der Beginn zunächst über einen längeren Zeitraum sehr langsam erfolgt und gleichzeitig nur mit einer geringen absoluten Temperaturzunahme verbunden ist. Dadurch besteht am Anfang die Gefahr, dass eine solche Prozessabweichung nicht frühzeitig erkannt oder fälschlicherweise als unbedeutend interpretiert wird. Kommen bestimmte Randbedingungen hinzu (Schichtbetrieb mit wechselndem Personal), kann dies eine Fehlinterpretation der Daten verschärfen. Gerade zu diesem frühen Zeitpunkt müssen jedoch regulierende Maßnahmen ergriffen werden, da ein regulierendes Eingreifen sonst nicht mehr möglich ist. Daher sollten selbst leichten Temperaturabweichungen bei der Durchführung exothermer Reaktionen und Lagerung reaktiver Chemikalien eine besonders aufmerksame Beurteilung zuteil werden. Denn die Zeit für ein erfolgreiches Eingreifen wird mit steigender Temperatur immer kürzer. Detailliertes Wissen über die bestimmungsmäßige Reaktion mit entsprechenden sicherheitstechnischen und reaktionskinetischen Kenngrößen sowie die Wärmebilanz der Anlage sowie ein angemessenes Sicherheitskonzept sind zur Erhaltung der Prozesssicherheit notwendig.

Ein Unglück kommt selten allein – Störfällen vorbeugen

Das Unglück von Prahdesch am 7. Mai 2020 hätte dann vielleicht verhindert werden können. Infolge der Corona-Pandemie war die Anlage über einen längeren Zeitraum heruntergefahren worden und möglicherweise auch die Überwachung der Prozessparameter nicht in der gewohnten Weise erfolgt. So blieb wohl der Temperaturanstieg in einem Styroltank zunächst unbemerkt, verursacht durch eine Polymerisationsreaktion infolge des Abbaus oder Verbrauchs des Stabilisators. Während des Wiederanfahrens der Anlage führten Temperatur- und Druckanstieg zu einem Leck und zum Austritt der Zersetzungsprodukte. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, die beide mit einem exponentiellen Anstieg einhergingen.

Literatur:

  1. Filthaus, M.; Sommer, J.: Was eine chemische „Runaway“-Reaktion mit der Ausbreitung des Corona-Virus verbindet: Wenn es „plötzlich“ immer schneller geht, Technische Sicherheit 6/2020, VDI Fachmedien, Düsseldorf

von Annika Hilse