Erneuerbare Energien und Industrie-Standort sichern: kein Widerspruch
Die Transformation der Industrie hin zu Klimaneutralität ist eine der zentralen Herausforderungen der nächsten zwei Jahrzehnte. Um das Ziel der Treibhausgas-Neutralität bis 2045 zu erreichen, müssen fossile Energieträger nahezu vollständig ersetzt werden. Doch wie lässt sich das praxistauglich umsetzen?

Nötige Investitionen in Energieinfrastrukturen für den Umbau zu einem klimaneutralen Energiesystem. Grafik: Fraunhofer Cines
In der öffentlichen Debatte wird diese Transformation der Industrie zur Klimaneutralität häufig als Risiko für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland wahrgenommen. Doch die aktuellen Analysen des Fraunhofer Cluster of Excellence „Integrierte Energiesysteme“ Cines zeigen ein anderes Bild: Ein intelligenter, systemischer Umbau des Energie- und Infrastruktursektors kann die Industrie langfristig stärken und wettbewerbsfähig machen.
Eine der größten strukturellen Herausforderungen ist der notwendige Ausbau der Stromnetze. Die Forschenden des Cines gehen davon aus, dass allein für Übertragungs- und Verteilnetze bis zum Jahr 2045 Investitionen in Höhe von rund 550 Mrd. € erforderlich sein werden. Diese Summe verdeutlicht die Dimension der bevorstehenden Infrastrukturmaßnahmen, führt aber zugleich zu einer entscheidenden Problematik: Netzbetreiber stehen bereits heute an der Grenze ihrer Finanzierungskraft.
Norman Gerhardt, Gruppenleiter Energiewirtschaft und Systemanalyse am Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE, bringt es auf den Punkt: „Die hohen Investitionen bringen bereits heute die Netzbetreiber an ihre finanziellen Grenzen.“ Die Stärkung des Eigenkapitals durch private wie auch staatliche Beteiligungen wird daher als dringende Maßnahme empfohlen, um den kontinuierlichen Ausbau überhaupt realisieren zu können.
Netzentgelte beeinflussen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie
Ein wesentlicher Faktor, der die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie beeinflusst, sind die Netzentgelte – also die Kosten, die für die Nutzung des Stromnetzes anfallen. Um sie zu senken, schlagen die Forschenden unter anderem eine gezielte Nutzung von regionalen Strompreisen vor, insbesondere durch die mittelfristige Einführung von Strompreiszonen innerhalb Deutschlands. Dadurch könnten Anreize für eine regionale Balance zwischen Erzeugung und Verbrauch geschaffen werden. Darüber hinaus wird vorgeschlagen, stärker auf Freileitungen statt Erdkabel zu setzen, da dies in der Regel kostengünstiger ist und schneller realisiert werden kann. Die Entwicklung hin zu dynamischen Netzentgelten, die das netzdienliche Verhalten von Verbraucherinnen und Verbrauchern belohnen, ist ein weiterer Hebel, um die Gesamtbelastung zu reduzieren.
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Auch wenn die Netzkosten in der Übergangsphase zunächst steigen, könnten sie langfristig sinken, sobald sich der Gesamtstromverbrauch erhöht und die Fixkosten auf eine größere Menge verteilt werden können. Um den Standort Deutschland in dieser Übergangszeit nicht zusätzlich zu belasten, spricht sich das Cines für eine temporäre staatliche Bezuschussung der Netzentgelte aus. Diese Maßnahme würde nicht nur Kosten dämpfen, sondern auch frühzeitig Investitionen in neue Technologien stimulieren.
Industrie: Wasserstoffwirtschaft gewinnt an Bedeutung
Neben der Strominfrastruktur rückt auch die Wasserstoffwirtschaft zunehmend in den Fokus. Grüner Wasserstoff gilt als unverzichtbarer Energieträger für zahlreiche industrielle Prozesse, die sich nicht oder nur schwer elektrifizieren lassen. Der Aufbau einer leistungsfähigen europäischen Wasserstoffinfrastruktur ist daher essenziell, um große Energiemengen effizient und kostengünstig über weite Strecken zu transportieren. Für Deutschland bedeutet das konkret: Der geplante Ausbau des nationalen Wasserstoff-Kernnetzes ist sinnvoll, sollte jedoch schrittweise und nachfrageorientiert erfolgen. Ein überdimensionierter Infrastrukturausbau wäre sowohl ökonomisch als auch systemisch kontraproduktiv. Vielmehr sollten Kapazitäten dort entstehen, wo sie tatsächlich gebraucht werden – unter enger Einbindung der Industrie.
Ein zentraler Aspekt bleibt die Preisentwicklung: Um langfristig wettbewerbsfähig zu sein, müssten Industriestrompreise von etwa 7 Ct/kWh sowie Wasserstoffpreise von rund 90 €/MWh erreicht werden. Derzeit liegt man von diesen Zielmarken noch deutlich entfernt. Viele Unternehmen scheuen deshalb noch Investitionen in neue, klimaneutrale Produktionsverfahren. Der Break-even-Punkt, etwa für die Elektrifizierung von Prozesswärme, wird oft erst bei CO2-Preisen von etwa 200 €/t erreicht. Dennoch gibt es bereits heute praktikable Alternativen mit signifikanten Effizienzvorteilen – darunter die Nutzung industrieller Abwärme sowie der Einsatz von Hochtemperatur-Wärmepumpen, die mit Strom aus erneuerbaren Quellen betrieben werden.
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Investitionen in strombasierte Prozesse
Besonders interessant sind technische Konzepte, die sich flexibel an den Strompreis anpassen. Hier zeigt sich, wie Marktmechanismen und Industrieprozesse sich gegenseitig beeinflussen können. Dr. Tobias Fleiter, Leiter des Geschäftsfelds Nachfrageanalysen und -projektionen am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, erläutert: „Bei reduzierten Netzentgelten könnte ein Elektrodenkessel heute schon bis zu 2 000h/a den Gaskessel ersetzen und nach nur drei Jahren amortisiert sein.“ Ergänzend empfehlen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, industrielle Großverbraucher stärker in Fernwärmenetze zu integrieren. Diese Netze ermöglichen es, lokal erzeugte Wärme effizient zu verteilen und fossile Wärmeerzeuger zu ersetzen. Auch der Aufbau eines CO2-Leitungsnetzes wird thematisiert – insbesondere für Industrieprozesse, bei denen Emissionen technisch nicht vollständig vermeidbar sind. Mithilfe eines solchen Netzes könnten abgeschiedene CO2-Mengen zu Speichern oder weiterverarbeitenden Betrieben transportiert werden, was wiederum die Klimabilanz industrieller Standorte erheblich verbessern würde.
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