Klappt es mit den Atomkraftwerken als Reserve?
Es dauert Tage, bis ein Kernkraftwerk wieder hochgefahren ist und nach einer Abschaltung wieder Strom erzeugt. Zudem drohen Millionen Tonnen zusätzliche CO2-Emissionen beim Ersatz durch fossile Kraftwerke.
Am 31. Dezember 2022 werden die letzten deutschen Kernkraftwerke (KKW) abgeschaltet. Isar-2 und Neckarwestheim-2 im Süden des Landes sollen allerdings bei Bedarf wieder angefahren werden, spätestens im April nächsten Jahres jedoch endgültig eingemottet werden. Emsland in Niedersachsen soll dagegen für immer ruhen, möglicherweise, weil die Brennelemente nichts mehr hergeben und neue nicht gekauft werden sollen. Stattdessen sollen schwimmende Ölkraftwerke, wie sie das türkische Unternehmen Karadeniz verchartert, vor der Nordseeküste den Job von Emsland übernehmen. So stellt es sich Robert Habeck vor, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Der Rest des Kabinetts und möglicherweise auch die Mehrheit des Bundestages hat – zumindest vorerst – nichts dagegen.
TÜV bringt Wiederinbetriebnahme von AKW ins Spiel
Drei Millionen zusätzliches CO2
Was sich so leicht dahersagt hat so seine Tücken. Wenn schwimmende Ölkraftwerke die Produktion von Emsland – gesetzt den Fall, dass die Anlage weiterlaufen könnten – in den ersten vier Monaten des nächsten Jahres übernehmen – es geht um bis zu 3 Mrd. kWh, die für Kernkraftwerke dieser Größe übliche Menge – werden rund 3,3 Mio. t Kohlenstoffdioxid (CO2) mehr an die Atmosphäre abgegeben als wenn Emsland weiter produzieren würde. Die Kosten fürs Chartern der Schiffe und der Brennstoff – nicht nur der Erdgaspreis erreicht schwindelnde Höhen – werden den ohnehin steigenden Preis für Strom noch weiter in die Höhe treiben, zum Leidwesen nicht nur der Privathaushalte, sondern auch der Industrie, des Gewerbes und anderer Großverbraucher. Schon warnt die Deutsche Krankenhausgesellschaft davor, dass Hospitäler unter der Last der Energiekosten zusammenbrechen und schließen müssen.
US-Kernkraftwerk entzieht der Luft Kohlendioxid
Der Kühlturm müsste aufgetaut werden
Wie aber lassen sich die beiden Kernkraftwerke, die als Reserve dienen sollen, wieder anfahren, wenn sie keinen Strom mehr produzieren? Die Temperatur in ihrem Inneren ist nach einiger Zeit auf etwa 50°Cs abgesunken. Die Dampfturbine hat Umgebungstemperatur und die Kühltürme sind, wenn der Winter streng wird, möglicherweise eingefroren. „So kann ich mein Kraftwerk nicht anfahren“, sagt Uwe Stoll von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln. „Ich müsste mir irgendwas überlegen, wie ich erstmal den Kühlturm auftaue.“
Der Reaktor muss vorgewärmt werden
Vielleicht wird es ja gar nicht so kalt. Doch auch ohne eingefrorene Kühltürme ist die Wiederbelebung von heruntergefahrenen Kernkraftwerken eine zeitaufwändige Sache. Bis ein heruntergefahrenes KKW wieder laufe, dauere es ein paar Tage, so Stoll. „Vereinfacht gesagt: Zunächst muss der Reaktor wieder auf über 260°C erwärmt werden, dann werden die Borsäure im Kühlmittel reduziert und die Steuerstäbe aus dem Reaktorbecken gezogen.“ Borsäure und Steuerstäbe hatten während des Abschaltprozesses die Aufgabe, Neutronen einzufangen, so dass nicht mehr genügend vorhanden waren, um Uran-235-Kerne zu spalten und das KKW in den Ruhezustand versetzt wurde. Auch dieser Prozess dauert ein paar Tage. Insgesamt könnte es vom Tag, an dem das Herunterfahren der Kernkraftwerke beginnt, bis zur Wiederaufnahme der Stromproduktion zehn Tage dauern.
Gefahr eines Blackouts
Dass die Kernkraftwerke im Winter nicht benötigt werden ist unwahrscheinlich. In diesem Jahr sind 650.000 elektrische Heizgeräte verkauft worden, offensichtlich, um in Wohnungen, Werkstätten und Büros punktuell Wärmeinseln zu schaffen statt ganze Räume von der zentralen Gasheizung erwärmen zu lassen, um Kosten zu sparen. Wenn allein diese Heizgeräte – weitere Millionen dürften zum Bestand gehören – gleichzeitig laufen verbrauchen sie so viel Strom wie ein großes Kernkraftwerk produziert. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat deswegen schon vor flächendeckenden Stromausfällen in Deutschland gewarnt. „Die Gefahr eines Blackouts ist gegeben“, also eines großflächigen Stromausfalls, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der „Welt am Sonntag“.
Stromhungrige deutsche Nachbarn
Dann sind da noch die Nachbarn, die deutschen Strom haben wollen, vor allem Frankreich. Ob tatsächlich wie geplant die meisten Kernkraftwerke dort vor Beginn des Winters wieder in Betrieb gehen können ist fraglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Land Strom importieren muss ist groß. Wenn auch nicht in dem Maße wie im Dürresommer 2022, als viele KKW ausfielen, weil es an Kühlwasser fehlte. Frankreich sich selbst zu überlassen kommt für Deutschland nicht nur wegen des europäischen Solidaritätsgedankens nicht in Frage. Das LNG-Terminal in Dünkirchen, dessen Kapazität bei 13 Mrd. m3 Erdgas pro Jahr liegt, könnte für Deutschland im Winter überlebenswichtig werden.