Smart-Grid-Plattform für virtuelle Kraftwerke und Smart Markets
Virtuelle Kraftwerke, die Klein- und Kleinsterzeuger von Strom zu einem marktfähigen Gebilde bündeln, werden künftig an Bedeutung gewinnen und sollen dabei bis zu 20 000 Einheiten zusammenfassen. Um diese besonders auch für Stadtwerke interessante Lösung zu ermöglichen, hat Siemens das virtuelle Kraftwerk der Zukunft vorgestellt, das als offene und hochskalierbare Plattform konzipiert ist.
Erneuerbare Energieressourcen gewinnen weltweit immer mehr an Bedeutung und verändern rasant Art und Zusammensetzung des Energiesystems. So ersetzt zunehmend eine hochkomplexe Strom-Matrix die konventionelle unidirektionale Energieumwandlungskette. Entscheidender Unterschied für die Netze ist eine fluktuierende, dezentrale Erzeugung aus Quellen wie Wind und Sonne, die häufig aus vielen, eher kleinen Einspeisern besteht. Sie speisen ihren Beitrag zur Stromerzeugung zudem auf der Verteilnetzebene ein. Allerdings sind diese vielfältigen Stromquellen für sich viel zu klein, um zum Beispiel am Regelenergiemarkt oder der Sekundärregelung teilzunehmen. Einen Ausweg aus diesem Nachteil bietet die Einrichtung eines virtuellen Kraftwerks, das die zentrale Steuerung von dezentralen Erzeugungsanlagen übernimmt und auf diese Weise positive strategische und betriebswirtschaftliche Effekte für den Betreiber generiert.
Vor diesem Hintergrund hat Siemens eine neue Generation eines virtuellen Kraftwerkes entwickelt (Bild 1).
Basis dafür ist nach wie vor das dezentrale Energiemanagementsystem DEMS, das aber seit kurzem auch auf der hochskalierbaren Smart-Grid-Applikationsplattform EnergyIP läuft (Bild 2).
Die neue Lösung ist für Energieversorger, Netzbetreiber und Stadtwerke gleichermaßen interessant. Mit DEMS auf EnergyIP wird das virtuelle Kraftwerk jetzt zur zentralen Anwendung für die Planung, Optimierung, Vermarktung und Ansteuerung nicht nur – wie bisher – von dezentralen Stromerzeugungsanlagen, sondern auch in Kombination mit existierenden thermischen Kraftwerksanlagen. „Dazu zählen große Fernwärmekraftwerke ebenso wie Blockheizkraftwerke und Notstromaggregate. Zudem soll unser System künftig auch alle Arten von Speichern für Strom und Wärme integrieren“, erklärt Thomas Dürr, in der Energy Management Division der Siemens AG im Bereich Digital Grid für virtuelle Kraftwerke zuständig.
Durch den Zusammenschluss von thermischen Anlagen mit verteilten erneuerbaren Energiequellen und flexiblen Erzeugern, Lasten und Speichern können zusätzliche Vermarktungschancen bei schwankenden Preisen auf dem Intraday-Markt oder den Regelenergiemärkten leichter wahrgenommen werden. Zudem lassen sich Zuschläge oder Abrufe kostenoptimiert verteilen. „Bei dem neuen Ansatz eines virtuellen Kraftwerks geht es in der Tat um die Bündelung von einer viel größeren Zahl von Erzeugungseinheiten bis in den vierstelligen Bereich“, so Dürr, was insbesondere Stadtwerken neue Aufgaben und Chancen bietet. Die Nutzung intelligenter Last- und Preisprognosen sowie verbesserte Demand-Response-Funktionen erlauben die Vorhersage und kurzfristige Anpassung der angeschlossenen Anlagen an kurzfristige Optionen, wie sie Handel, Regelenergie und Verteilnetz bieten. In Verteilnetzen geht es insbesondere darum, die Zahlung von Ausgleichsenergie möglichst weitgehend zu reduzieren.
DEMS bleibt die Basis des virtuellen Kraftwerks
DEMS stellt die notwendige Informations- und Kommunikationstechnik zur Verfügung, um auf der Plattform EnergyIP einige Dutzend bis mehrere tausend dezentrale und thermische Anlagen dynamisch in einem Pool zu bündeln. Dabei verarbeitet das System alle notwendigen Daten wie Wetterprognosen, aktuelle Strompreise und den Energiebedarf. Beispielsweise werden die elektrischen und thermischen Lasten in Abhängigkeit von der Außentemperatur prognostiziert. Auf Basis dieser Daten wird ein Einsatzplan für alle eingebundenen Anlagen erstellt und überwacht. „Die neue Lösung generiert auch eine höhere Vorhersagegenauigkeit, indem die entsprechenden Prognosezeiträume von 60 auf nur noch 15 Minuten herabgesetzt worden sind“, betont Fachmann Dürr. Stadtwerke zum Beispiel können so flexibel verschiedene Vermarktungsstrategien nutzen. Da bereits alle Objekte beziehungsweise Assets vom System erfasst sind, kann das virtuelle Kraftwerk blitzschnell auf den Intraday-Markt umschalten, sobald sich dort Vermarktungschancen bieten.
Betreiber von virtuellen Kraftwerken können mit der neuen Plattform gleich mehrere Strategien verfolgen. Zum einen geht es – wie schon erwähnt – um die Bündelung vieler Kleinanlagen. Das soll nun in einer ganz anderen Größenordnung als bisher erfolgen. Hatten frühere Projekte dieser Art nur wenige Anlagen (die Kooperation zwischen Siemens und RWE zum Thema virtuelle Kraftwerke begann 2008 mit neun Laufwasserkraftwerken, ein anderes Projekt dieser Art bei den Münchener Stadtwerken wurde 2012 mit zwölf Anlagen gestartet, die dann schnell auf 55 Anlagen mit insgesamt 65 MW anstiegen), sind jetzt gleich mehrere tausend Kleinerzeuger Ziel einer Bündelung. Das macht insofern Sinn, als dass inzwischen rund 1,5 Millionen Kleinerzeuger in Deutschland in die Verteilnetze integriert sind. Zum anderen sollen aber in Zukunft auch größere Assets, wie sie unter anderem Stromerzeuger und -verbraucher in der Industrie darstellen, eingebunden werden. Dabei handelt es sich um Objekte wie Kühlhäuser, Gießereien, Industriepressen oder Elektrolyseanlagen im Industrieprozess. Von Vorteil sind hier geringere Anschlusskosten einerseits, eine hohe Flexibilität bei der Prozessgestaltung (späteres Anfahren bei entsprechendem Energiebedarf) andererseits.
„Automobilhersteller beispielsweise könnten auf diese Weise nicht nur einzelne Standorte energetisch managen, sondern die Gesamtheit ihrer Werke in Deutschland oder Europa in ein eigenes virtuelles Kraftwerk einbringen. Das neue DEMS auf EnergyIP bietet auch grafische Übersichten an, die insbesondere die Geschäftsprozesse wie Prognose, Planung oder Trading deutlich besser als bisher darstellen. In Zukunft könnte hier auch das Rechnungswesen einbezogen werden, was vor allem für Stadtwerke von großem Nutzen ist“, so Dürr.
Mit der Plattform EnergyIP zu „Utility 4.0“
Mit der Plattform EnergyIP erhalten Energieversorger und Stadtwerke nicht nur die Möglichkeit, ihre Geschäftsprozesse wie die Energievermarktung zu digitalisieren und neu zu strukturieren, sondern auch die Basis dafür, neue und disruptive Dienstleistungen als „Utility 4.0“ anzubieten. Sobald die Digitalisierung vollständig vollzogen ist, lassen sich ganz neue Prozesse aufbauen. Vorstellbar ist zum Beispiel das Angebot, die Stromqualität auf ein sehr hohes Niveau anzuheben, also in einem sehr engen Spannungsband zu halten beziehungsweise Oberschwingungen zu vermeiden. Wurde bisher die Wertschöpfungskette digitalisiert, werden heute einzelne Prozessschritte neu geordnet oder unwichtige Teile ausgegliedert. Außerdem werden die Möglichkeiten der Verteilnetzbetreiber zur Integration von dezentralen Anlagen – insbesondere von erneuerbaren Energiequellen – erweitert, zum Beispiel um die Netzstabilität bei zunehmend komplexeren Anforderungen weiter zu optimieren (Bild 3).
Mit dem dezentralen Energiemanagementsystem DEMS auf EnergyIP bietet Siemens Energieversorgern, Netzbetreibern und Stadtwerken nicht nur die Basis für den Aufbau einer neuen Generation eines virtuellen Kraftwerks, sondern eröffnet mit dem Einsatz dieser Software weitere Möglichkeiten: Als Datendrehscheibe und Plattform für Smart-Grid-Applikationen unterstützt EnergyIP die Integration aller beteiligten Systeme – von der Smart-Meter-Infrastruktur bis zum unternehmensweiten ERP-System – und wandelt Zählerdaten in relevante Informationen für den Betrieb des Versorgers und dessen Kunden um. Die Smart-Grid-Applikationsplattform sammelt, verarbeitet und verknüpft Verbrauchsdaten mit Informationen aus unterschiedlichen Bereichen eines Energieversorgers und stellt sie einer Vielzahl von Applikationen zur Verfügung wie EnergyIP Analytics, Outage-Management, Asset-Optimierung, Lastmanagement sowie Kundenmanagement- und -informationssysteme.
Kein Zweifel – der Umbruch des Energiemarktes hat gravierende Auswirkungen auch und gerade auf die Stadtwerke, die auf dem Weg sind, sich vom Versorgungswerk zum digitalen Energiedienstleister zu wandeln, wenn sie nicht untergehen wollen. Auch in diesem Bereich wachsen reale und virtuelle Welt zusammen. Energiemarkt und IT verschmelzen immer weiter. Die Richtung ist vorgezeichnet zu digitalen Fullservice-Dienstleistern, wodurch Vernetzung und Plattformmodelle an Bedeutung gewinnen. In diesem Sinne ist der neue Ansatz in Sachen virtuelles Kraftwerk von Siemens ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Klaus Jopp, Pressebüro WiWiTech, Hamburg.