TÜV bringt Wiederinbetriebnahme von AKW ins Spiel
In den meisten Parteien gibt es mittlerweile Politikerinnen und Politiker, die angesichts der Energiekrise eine Laufzeitverlängerung für die letzten drei deutschen Kernkraftwerke nicht mehr ausschließen. Selbst die Wiederinbetriebnahme schon stillgelegter Kernkraftwerke ist denkbar. Ausgerechnet eine grüne Politikerin brachte den Stein ins Rollen.
Vor wenigen Tagen brachte Grünen-Chefin Ricarda Lang völlig unterwartet einen mächtigen Stein ins Rollen. In einer Talkrunde bei „Anne Will“, in der es unter anderem um die Laufzeitverlängerung für die letzten deutschen Kernkraftwerke ging, kündigte sie einen neuen „Stresstest“ an, um herauszufinden, ob Deutschlands Stromversorgung sicher ist. „Sollte man da sehen, dass anders, als es bisher alle Zahlen zeigen, eine Strommangellage erwartbar ist, werden wir natürlich alle Maßnahmen noch mal auf den Tisch setzen.“ Was flugs als Ja zur Kernenergie gewertet wurde und viele aus ihren Löchern krabbeln ließ, die ebenfalls für eine Laufzeitverlängerung sind. Die FDP will sie, die CDU auch, deren damalige Kanzlerin Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima die schrittweise Stilllegung aller deutschen Kernkraftwerke beschlossen hatte, die CSU ohnehin und zähneknirschend auch Bundeskanzler Olaf Scholz.
Begriff „Laufzeitverlängerung“ ist verpönt
Eine Laufzeitverlängerung sei dennoch nicht geplant, betonen Grüne und SPD. Die Kernkraftwerke sollten höchstens für eine bestimmte Zeit in Betrieb bleiben, um das energetisch Schlimmste zu verhindern. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann drückt es so aus: „Ich habe gesagt, weder die Grünen noch sonst eine demokratische Partei will zurück zur Atomkraft in Deutschland.“ Es gehe nur darum, ob man sie eine Zeit lang weiterlaufen lasse. Das werde nun nüchtern und sachlich geprüft. In einigen Wochen soll das Ergebnis vorliegen.
80 zusätzliche Tage sind kein Problem
Technisch ist ein Weiterbetrieb für eine gewisse Zeit möglich. Der TÜV Süd hat in einem siebenseitigen Gutachten skizziert, wie es beim leistungsstärksten deutschen Kernkraftwerk Isar 2 weitergehen könnte. Ohne jeden Eingriff ließe es sich nach dem 31. Dezember 2022, dem eigentlichen Stilllegedatum, noch 80 Tage lang weiter betreiben. Ein Drittel der Brennstäbe ist dann erst seit einem Jahr in Betrieb, ein weiteres seit zwei Jahren. Das letzte Drittel müsste dann eigentlich durch neue ersetzt werden, doch das ist vorerst Illusion. Durch eine Umgruppierung der Brennstäbe könnte der Betrieb sogar noch bis zum Sommer verlängert werden.
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15 Millionen Tonnen CO2 lassen sich einsparen
Mit der Energie, die in den Brennstäben steckt, könnten noch mindestens 5000 GWh Strom produzieren, und zwar CO2-frei. Die müssten sonst von Stein- und Braunkohlekraftwerken erzeugt werden. Dabei würden überschlägig gerechnet 5 Mio. t CO2 frei. Zählt man die beiden anderen Kernkraftwerke hinzu, bei denen ähnliche Produktionsmöglichkeiten zu erwarten sind, kommt man schon auf 15 Mio. t eingespartes CO2.
Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) hat sich am weitesten aus dem Fenster gelehnt. Er hält wenig vom „Streckbetrieb“, der sich nur über ein paar Monate hinziehen könnte. Schon im März schlug er vor, die drei Kernkraftwerke noch bis 2029 in Betrieb zu lassen. Absurd ist das nicht, denn der TÜV-Verband bringt sogar die Wiederinbetriebnahme der drei Kernkraftwerke ins Gespräch, die am 12. Dezember 2021 abgeschaltet wurden. Sie seien „in einem exzellenten Zustand“, sagt Joachim Bühler, geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Verbands. „Diese Anlagen zählen zu den sichersten und technisch besten Kernkraftwerken, die es weltweit gibt.“
E.on: Weiterbetrieb technisch möglich
Leonhard Birnbaum, Chef des Stromkonzerns E.on, dessen Tochter PreussenElektra Isar 2 betreibt, gibt dem TÜV Süd Recht. Er habe gegenüber der Bundesregierung erklärt, dass ein Weiterbetrieb über Ende 2022 hinaus mit gewissen Anstrengungen technisch möglich wäre. Zuvor hatte er allerdings, ebenso wie RWE und EnBW, die die beiden anderen noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke betreiben, betont, dass sie eine Laufzeitverlängerung nicht wollen. Sie glaubten, das leidige Thema Kernenergie, für das sie stets Anfeindungen einstecken müssen, endlich hinter sich gebracht zu haben.
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Es fehlt an Pufferspeichern
Strommangel sei nicht das Problem, sondern Wärmemangel, argumentieren die, die keine Kernenergie mehr wollen, und folgern, dass eine Laufzeitverlängerung nichts bringt. Abgesehen von der CO2-Vermeidung würde durch den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke jedoch in begrenztem Umfang Erdgas frei, das fürs Heizen sowie industrielle Prozesswärme zusätzlich zur Verfügung stünde. Das meiste Gas wird allerdings verstromt, um wetterbedingte Stromlücken zu stopfen, die oft Größenordnungen von 40 GW und mehr erreichen. Da es kaum Pufferspeicher gibt müssen in diesen Fällen Kohle und Erdgas einspringen.
Strombedarf fürs Heizen nimmt zu
Anders als Kritikerinnen und Kritiker behaupten wird Strom durchaus zum Heizen genutzt, sogar mit dem Segen der Ampelkoalition. Wärmepumpen lösen zunehmend Erdgas- und Ölkessel ab. Etwa drei Viertel der Heizwärme generieren sie aus der Umwelt, den Rest aus elektrischer Energie. Gerade in letzter Zeit, in der Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, immer wieder dazu aufruft, Erdgas einzusparen, hat ein wahre Run auf die Wärmepumpe eingesetzt. Weder Hersteller noch das Handwerk können die Nachfrage noch befriedigen. Zudem wird der Stromverbrauch auch durch den zunehmenden Anteil an Elektroautos angekurbelt.