Wasserdampf stabilisiert das Stromnetz
Bei starkem Wind und strahlender Sonne muss manch ein grünes Kraftwerk abgeschaltet werden. Dampfkessel sollen Abhilfe schaffen und Emissionen senken. Jetzt entsteht die erste industrielle Anlage.
Politiker jubeln über immer neue Rekordwerte bei erneuerbaren Energien, über gigantische Leistungen bei Sonne und Wind und darüber, dass grüner Strom den aus fossilen Kraftwerken längst überholt hat. Dass zwischenzeitlich bis zu 90 % des Stroms aus Erdgas- und Kohlekraftwerken kommen – am frühen Morgen des 5. November 2024 etwa waren es laut Agora Energiewende 83,5 % – wird gern verschwiegen. Ebenso, dass durch die Abregelung von Windkraftanlagen gigantische Mengen an grünem Strom verlorengehen, wenn das Netz die Strommengen nicht mehr verkraften kann. Allein im 3. Quartal 2023 waren es 1,7 Mrd. kWh, 200 % mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zudem werden weitere Milliarden kWh regelmäßig zu Niedrigstpreisen exportiert.
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Renaissance der „Nachtspeicherheizung“
Diesen Strom könnte man besser nutzen, etwa durch Speicherung in Batterien – von denen es allerdings viel zu wenige gibt –, in Pumpspeicherkraftwerken, in Form von Wasserstoff, der in mit grünem Strom betriebenen Elektrolyseuren hergestellt wird, oder in Form von Wärme, eine moderne Art der zu Recht verpönten Nachtspeicherheizung. Diese richtet die Stromabnahme nicht wie einst nach der Uhrzeit, sondern danach, ob und wie viel Strom ins Netz eingespeist wird.
Windenergieanlagen sind reichlich vorhanden
Der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, der für die neuen Bundesländer sowie die Stadtstaaten Berlin und Hamburg zuständig ist, schafft jetzt einen mächtigen Puffer, um bisher ungenutzten Strom zu verwerten. Auf dem Gelände des Chemieriesen BASF im brandenburgischen Schwarzheide entsteht eine Power-to-Heat-Anlage (PtH), die Dampf für die Produktion erzeugt. Es handelt sich um einen Druckkessel, dessen Inhalt – Wasser – von einem überdimensionalen Tauchsieder erhitzt wird. Den dafür benötigten Strom bezieht er meist aus den in Brandenburg reichlich vorhandenen Windenergieanlagen. Die 4.000 Mühlen in diesem Bundesland haben eine Nennleistung von mehr als 8 GW, also im Durchschnitt 2 MW pro Generator. Schon bei mäßigem Wind erzeugen sie so viel Strom, dass das ganze Bundesland versorgt ist. Bei starkem Wind müssen einige Anlagen vorübergehend pausieren.
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13 Windgeneratoren oder ein ganzes Solarkraftwerk
Künftig nimmt der PtH-Kessel den Strom von fast 13 dieser Mühlen auf oder, wenn die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlt, die gesamte Produktion des unternehmenseigenen Solarkraftwerks. Das entlastet das ebenfalls unternehmenseigene Gas-und-Dampfkraftwerk (GuD). Es liefert außer Strom auch den Dampf, den der Chemiestandort benötigt. Künftig kann das Kraftwerk mit geringerer Leistung laufen, wenn Wind- und/oder Solarenergieanlagen den Dampfkessel mit Strom versorgen. Das spart Erdgas ein und die Emissionen an Kohlenstoffdioxid und Schadstoffen sinken. Für BASF wird es billiger, weil die Übertragungskosten sinken, und 50Hertz kann am Netzausbau sparen.
Im Zusammenspiel von GuD-Kraftwerk, dem Solarpark mit eigenem Energiespeicher, dem grünen Dampfkessel und der Kenntnis der Lage an der Strombörse ist es für das Unternehmen möglich, die für den Standort jeweils günstigste und umweltverträglichste Variante der Stromversorgung zu wählen.
Ganzjähriger Betrieb in Schwarzheide
Derartige strombetriebene Kessel werden bereits zur Versorgung von Fernwärmenetzen eingesetzt. So sind in Berlin drei Kessel mit jeweils 40 MW installiert. Insgesamt sind es deutschlandweit gut drei Dutzend Anlagen mit Leistungen von bis zu 45 MW. Der Kessel in Schwarzheide ist dennoch etwas Besonderes, weil er ganzjährig betrieben werden kann. BASF braucht immer Dampf, während die Kessel, die Fernwärme erzeugen, im Sommer und in den Randmonaten weitgehend Pause machen müssen, weil nur noch warmes Brauchwasser nachgefragt wird.
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Netzausbau und Speichersysteme
„Strom nutzen statt abregeln schafft eine Win-Win-Situation und ist volkswirtschaftlich sinnvoll“, sagt Marco Nix, Geschäftsführer Netzausbauprojekte und Finanzen von 50Hertz. Das sei besser als Entschädigungen für nicht produzierten Strom zu zahlen. Um in Zukunft Netzengpässe zu vermeiden, sei der Ausbau der Stromübertragungsnetze die wichtigste Maßnahme. Ergänzend müssten jedoch unterschiedliche Speichersysteme hinzukommen. „Dazu zählen auch PtH-Anlagen in der Industrie und in Kommunen mit Fernwärmenetzen”, so Nix.
Wolfgang Kempkens