Wenn Russland den Hahn zudreht…
Nur das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin sieht bei einem Stopp keine negativen Folgen. Andere Institute warnen vor Verstromung von Erdgas und plädieren für den verstärkten Einsatz von Kohle und eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke.
Wird es ungemütlich, wenn der Nachschub an Erdgas aus Russland stockt oder eingestellt wird? Claudia Kemfert, Professorin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, sagt Nein. Schon in diesem Jahr könne sich Deutschland aus der Abhängigkeit von russischem Erdgas befreien, auch ohne das schwimmende LNG-Terminal (LNG = liquefied natural gas, deutsch Flüssigerdgas), dessen Bau in Wilhelmshaven gerade begonnen hat und von der Deutschen Umwelthilfe möglicherweise umgehend gestoppt wird, weil sie sich Sorgen um Schweinswale macht. Abgesehen davon könnte es, wenn es planmäßig gebaut würde, ab Anfang 2023 gerade mal 8,5 % des deutschen Bedarfs decken.
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DIW: LNG-Terminals sind überflüssig
„Wenn die Energie-Einsparpotenziale maximal genutzt und gleichzeitig die Lieferungen aus anderen Erdgaslieferländern so weit wie technisch möglich ausgeweitet werden, ist die deutsche Versorgung mit Erdgas auch ohne russische Importe im laufenden Jahr und im kommenden Winter 2022/23 gesichert“, ist das Fazit der Studie, die Kemfert federführend betreut hat. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen, darunter Christian von Hirschhausen, halten LNG-Terminals an den deutschen Küsten generell für überflüssig. Stattdessen sollten die Erdgasimporte aus klassischen Lieferländern wie Norwegen oder den Niederlanden deutlich ausgeweitet werden. Allein durch mehr Importe aus dem skandinavischen Land könne etwa ein Fünftel der bisherigen russischen Einfuhren von mehr als 50 Mrd. m3/a eingespart werden, die bislang etwa 55 % der gesamten Gasimporte ausmachen.
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Erdgasverstromung vorbeugend drosseln
Mit dieser optimistischen Einschätzung steht das DIW weitgehend allein da. Ein Ende der Gaslieferungen aus Russland könnte nicht zuletzt die ehrgeizigen Ziele der Klimawende ad absurdum führen. Erdgaskraftwerke sind als Übergangslösung für die Zeit gedacht, die nötig ist, um den Ende 2022 auslaufenden Atomstrom sowie Kohlekraftwerke zu ersetzen, wenn Sonne und Wind Pause machen. Die Stromerzeugung in Erdgaskraftwerken müsse vorbeugend gedrosselt werden, um das Auffüllen der Erdgasspeicher zu ermöglichen, sagt Frank Umbach, Forschungsleiter des European Cluster for Climate, Energy and Resource Security (EUCERS)/Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) an der Universität Bonn. „Hierfür wäre auch eine befristete Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke sinnvoll, was aus primär ideologischen Gründen nicht erfolgt: Sicherheitsstandards und andere Prozesse könnten – wenn der politische Wille da wäre – abgeändert und verkürzt werden, ohne dass dies wirkliche Sicherheitseinbußen zur Folge hat.“
Wie sich Gasspeicher füllen lassen
„Wir müssen Erdgas sofort aus der Stromerzeugung rausnehmen und Kohlekraftwerke nicht erst bei einer Gasmangellage ans Netz bringen, um unsere Gasspeicher aufzufüllen“, sekundiert Christian Seyfart, Hauptgeschäftsführer des Verbands Energie- und Kraftwirtschaft, dessen rund 200 Mitgliedsunternehmen für einen Großteil des industriellen Energieverbrauchs in Deutschland stehen.
Kernenergie statt Erdgas
Karen Pittel, Energieexpertin am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (ifo), sieht in einer längeren Atomkraftnutzung eine große Chance, Deutschland rasch unabhängiger von russischem Gas zu machen. „Durch längere Laufzeiten könnte schon ein erheblicher Teil womöglich ausfallender Erdgaslieferungen kompensiert werden“, sagte die Leiterin des Ifo-Zentrums für Energie, Klima und Ressourcen der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (NOZ). Im vergangenen Jahr seien unter Einsatz von 125 TWh Erdgas rund 52 TW Strom erzeugt worden. „Die verbliebenen drei Atomkraftwerke liefern ungefähr 30 TW Strom pro Jahr, also etwas mehr als die Hälfte“, bezifferte sie das Potenzial. Zwar sei Erdgas als Ergänzung der Erneuerbaren ganz klar besser geeignet, „aber in der Not frisst der Teufel Fliegen“, so die Expertin.
Bis zu zwölf Milliarden Kubikmeter fehlen
Das Berliner Energieberatungsunternehmen Aurora Energy Research, dessen primäres Ziel es ist, erneuerbare Energien voranzubringen, erwartet für den Fall eines Stopps russischer Gaslieferungen schwere Probleme. „Bei einem kalten Winter 2022/23 fehlen bis zu 12 Mrd. m3 Erdgas“, kalkuliert Aurora-Experte Casimir Lorenz. „Dann würde es wirklich ungemütlich vor allem für nicht geschützte Bereiche wie die Industrie.“ Denn von den 82 Mrd. m3, die Deutschland voraussichtlich 2022 verbraucht, entfielen knapp 30 Mrd. m3 auf Industriekunden. Bei einem milden Winter würden damit bis zu 20 % Industriegas fehlen, bei einem strengen aber das Doppelte.
Sollen lieber Privatkunden frieren?
Das müsse nicht sein, sagt Karl-Ludwig Kley, Aufsichtsratsvorsitzender des Energiekonzerns E.on in Düsseldorf. Er plädiert dafür, dass die Industrie nicht von der Gaszufuhr abgeschnitten wird, damit sie nicht nachhaltig geschädigt wird. Stattdessen sollte der Privatbereich mit weniger Gas versorgt werden.