Netzstabilität mit KI optimieren
Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts arbeiten Forschende der Universität Kassel und des Fraunhofer-Instituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE daran, Stromnetze mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) effizienter zu steuern. Ziel ist es, durch innovative Methoden den Betrieb der Übertragungsnetze zu optimieren und damit einen wichtigen Beitrag zur Stabilität der Stromversorgung in Zeiten wachsender erneuerbarer Energien zu leisten.
Mit dem steigenden Anteil an Wind- und Solarenergie in Deutschland stehen die Stromnetzbetreiber vor immer größeren Herausforderungen. Die Stromerzeugung schwankt aufgrund der natürlichen Volatilität von Wind und Sonne, und zugleich speisen immer mehr Haushalte dezentral Strom ins Netz ein. Diese Entwicklung macht es für Netzbetreiber zunehmend schwierig, ein stabiles und verlässliches Stromnetz aufrechtzuerhalten. Das Forschungsprojekt „GNN4GC“ (Graph Neural Networks for Grid Control) unter der Leitung von Dr. Christoph Scholz vom Fachgebiet Intelligente Eingebettete Systeme der Universität Kassel setzt genau hier an. Das Team, zu dem auch die Forschenden Pawel Lytaev, Clara Holzhüter und Mohamed Hassouna gehören, arbeitet gemeinsam mit dem Fraunhofer IEE sowie den Übertragungsnetzbetreibern TenneT TSO GmbH, TenneT TSO BV und 50Hertz Transmission GmbH. Zum Einsatz im Projekt kommen dabei vor allem Graph Neural Networks (GNNs) und Deep Reinforcement Learning (DRL). GNNs eignen sich besonders für die Analyse von Netzstrukturen, wie sie in Stromnetzen vorkommen, und ermöglichen es, Netzlasten schneller zu berechnen. Das Projekt untersucht außerdem, wie die Netzstruktur während des Betriebs dynamisch angepasst werden kann, um Überlastungen und Instabilitäten zu vermeiden.
Lernende Algorithmen als Basis der Topologieberechnung
Um die Stabilität der Stromnetze zu gewährleisten, müssen Netzbetreiber flexibel agieren. Ein neuer Ansatz zur Stabilisierung des Stromnetzes ist das sogenannte „Bus-Switching“ an Umspannwerken. Dabei wird die Topologie des Netzes verändert, um Überlastungen zu vermeiden. Dieser Ansatz ist kostengünstiger und weniger klimaschädlich als herkömmliche Maßnahmen wie Redispatch oder Leistungsdrosselungen, bei denen Kraftwerke gezielt hoch- oder heruntergefahren werden müssen.
Eine weitere vielversprechende Lösung zur Netzoptimierung ist der Einsatz von DRL. Diese Methode hat in den letzten Jahren im Rahmen des internationalen „Learning to Run a Power Network“ (L2RPN)-Wettbewerbs großes Potenzial gezeigt. Dabei lernen Algorithmen, eigenständig Netzsteuerungsmaßnahmen zu ergreifen, um das Netz stabil zu halten. Jedoch haben viele bisherige DRL-Ansätze nur isolierte Aktionen auf der Ebene einzelner Umspannwerke betrachtet, was zu suboptimalen Ergebnissen führen kann.
Die Forschenden haben einen anderen Ansatz: Statt nur einzelne Aktionen auf Umspannwerksebene auszuführen, wird das gesamte Netz als Ganzes betrachtet. Ziel ist es, sogenannte „Target Topologies“ (TTs), also Ziel-Topologien, zu identifizieren. Diese Topologien beschreiben eine stabilere Netzkonfiguration, die helfen kann, Überlastungen zu vermeiden. Das Besondere daran ist, dass diese Ziel-Topologien ausgehend von fast jeder Netzkonfiguration erreicht werden können. Dies macht das System flexibler und anpassungsfähiger, besonders bei komplexeren Netzen, bei denen eine Reihe von aufeinanderfolgenden Aktionen notwendig ist, um die gewünschte Netzstabilität zu erreichen.
Um die Ziel-Topologien zu finden, wurde ein Suchalgorithmus entwickelt, der stabile Netzkonfigurationen auf Basis bereits existierender Umspannwerk-Aktionen ermittelt. Diese stabilen Konfigurationen werden dann in die Steuerung des DRL-Agents, hier „Topology Agent“ genannt, integriert. Der Agent kann auf diese Topologien zugreifen und sie zur Optimierung der Netzstabilität nutzen, wenn das Netz Anzeichen von Instabilität zeigt.
KI-Einsatz für signifikante Verbesserung der Netzstabilität
In Experimenten wurde der neue Topology Agent auf der Validierungsumgebung des WCCI-2022-L2RPN-Wettbewerbs getestet. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Im Vergleich zu früheren Ansätzen konnte der Agent die durchschnittliche Netzstabilität um mehr als 10 % verbessern. Auch die mittlere Überlebenszeit des Netzes, also die Zeit, in der das Netz ohne Ausfälle betrieben werden kann, wurde um 25 % verlängert. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Einbeziehung der Ziel-Topologien zu einer signifikanten Verbesserung der Netzstabilität führt.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Untersuchung war, dass fast alle identifizierten Ziel-Topologien der Basis-Topologie, also der ursprünglichen Netzkonfiguration, sehr nahe waren. Dies deutet darauf hin, dass kleine Änderungen an der Netzstruktur oft ausreichen, um eine stabile Netzkonfiguration zu erreichen. Große Veränderungen könnten hingegen das Netz anfälliger für Störungen machen.
Ein weiterer Vorteil des neuen Ansatzes ist die geringe Erhöhung der Rechenzeit. Obwohl der Topology Agent mehrere Topologien gleichzeitig bewertet, ist der zusätzliche Rechenaufwand im Vergleich zu herkömmlichen Methoden nur geringfügig. Dies ist ein wichtiger Aspekt für die praktische Anwendbarkeit des Verfahrens, da Netzbetreiber in der Regel nur begrenzt Zeit für Entscheidungen haben. „Unser Ziel ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie, um praxistaugliche Lösungen für diese Herausforderungen der Energiewende zu entwickeln“, erklärt Scholz. Das Forschungsprojekt belegt das Potenzial von KI-basierten Technologien, die Netzstabilität auch bei variablen Einspeisungen zu sichern.