Wie der Weg zur Klimaneutralität gelingen kann
Deutschlands Weg zur Klimaneutralität ist ambitioniert, bietet aber auch Chancen als First Mover. Die Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“ der Deutschen Energie-Agentur (dena) eruiert technische Potenziale, Anwendungsfelder und mögliche Kostenentwicklungen verschiedener innovativer Energietechnologien. Die Signale sind positiv, Voraussetzung sind jedoch passende Rahmenbedingungen.
Das Ziel ist klar, der Weg noch nicht. Deutschland hat sich gesetzlich das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2045 klimaneutral zu werden. Das muss auch gelingen, wenn wir ernsthaft einen relevanten Beitrag gegen die globale Erderwärmung leisten wollen. Der Sommer 2021 mit seinen außerordentlich starken und großflächigen Extremwetterereignissen (beispielsweise in Kalifornien und im Westen Deutschlands), unterstreicht auf katastrophale Art die Notwendigkeit starker und schneller Maßnahmen zur Begrenzung des weiteren Klimawandels.
Die EU-Staaten haben sich mit dem Green Deal auf den Weg gemacht, ihr Energie- und Wirtschaftssystem mit allen Verbrauchssektoren auf Klimaneutralität umzustellen. Auch viele andere Industrieländer wie die USA, Kanada, China und Japan haben sich das Ziel Klimaneutralität gesetzt. Deutschland hat sich dabei mit dem gegenüber anderen europäischen Staaten zeitlich eher frühen Zieljahr „Klimaneutralität bis 2045“ besondere Herausforderungen gestellt. Gleichzeitig öffnet dieses zeitlich vorgezogene Ziel auch die industriepolitische Chance, einer der First Mover bei der globalen (Weiter-)Entwicklung der benötigten Energiewendetechnologien zu sein und entscheidend von dem gewaltigen Weltmarkt für grüne Technologien zu profitieren.
Zahlreiche ausgereifte Technologien und Lösungen
Im Herbst 2021 wird die dena ihre Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität veröffentlichen. Darin wird deutlich, dass die beschlossene grüne Transformation in jedem Sektor und jedem Lebensbereich eine gewaltige Aufgabe ist, die starke Veränderungen im gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem erfordert.
Nach 20 Jahren der Energiewende in Deutschland und großen Fortschritten in manchen Sektoren (und weniger großen in anderen) gibt es bereits zahlreiche ausgereifte Technologien und Lösungen für eine erfolgreiche Energiewende. Viele davon sind bereits im breiten Einsatz, andere befinden sich gerade im Hochlauf, wieder andere stecken noch in den Kinderschuhen oder wir kennen sie noch gar nicht. Benötigt werden sie jedoch alle, um die Herausforderungen auf dem Weg zur Klimaneutralität zu bestehen.
Nicht alles schon bis 2030 breit einsatzfähig
Treibhausgas (THG)-Emissionen müssen nun schnell und in großen Mengen reduziert werden. Nach dem Erreichen der nationalen Klimaziele 2020 (auch aufgrund von Corona) steht die nächste Etappe für 2030 an. Bis dann soll der Emissionsausstoß um 65 % im Vergleich zu 1990 sinken. Für den Klimaschutz unbestritten wichtig, bedeutet diese neue Maßgabe aber auch eine Beschleunigung, die spürbar sein wird. Dabei müssen wir aber auch ehrlich sein. Nicht alles wird schon bis 2030 so breit einsatzfähig sein, um die notwendigen Erfolge zu bringen.
Markthochlauf von Wasserstoff schnell anreizen
Ein gutes Beispiel dafür ist Wasserstoff. Aus erneuerbarem Strom per Elektrolyse hergestellter grüner Wasserstoff sowie daraus erzeugte gasförmige und flüssige Energieträger und Rohstoffe werden in allen Sektoren eine sehr wichtige Rolle bei der Transformation zu THG-neutralen Prozessen und Anwendungen einnehmen. Doch die Herausforderungen sind groß und der Hochlauf der entsprechenden Erzeugungs- und Logistikstrukturen sowie der Wasserstoff-Anwendungen wird einige Zeit dauern.
In der aktuellen Dekade kann der Beitrag zur THG-Minderung durch den Einsatz von grünem Wasserstoff daher noch nicht so groß sein. Wir müssen also alle Anstrengungen unternehmen, um einen schnellen Markthochlauf von Wasserstoff zu erreichen und damit auch die Kosten von grünem Wasserstoff zu senken.
Zusätzlich müssen wir auch auf Importe setzen. Ebenso wird die Frage nach der Rolle von Gas und der Gasinfrastruktur aktuell kontrovers diskutiert und hat Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit sowie die Planung der Netzinfrastruktur. In einem erneuerbaren Energiesystem wird neben der sinnvollen Umwidmung von Erdgasnetzen auf Wasserstoff auch über den Rückbau von Gasverteilnetzen nachgedacht werden müssen.
Elektrisierungsschub stellt Anforderungen an das Stromsystem
Die 2020er-Jahre werden einen Elektrisierungsschub und einen sehr viel stärkeren Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) mit sich bringen müssen. Das stellt Anforderungen an das Stromsystem und die Bereitstellung von Systemdienstleistungen sowie gesicherter Leistung. Der Bedarf an zusätzlichen steuerbaren Kraftwerkskapazitäten, muss bald klar sein. Hier werden insbesondere Gaskraftwerke benötigt, die mittelfristig statt Erdgas dann Wasserstoff als Brennstoff nutzen werden. Für diese Investitionen fehlt aktuell jedoch die Wirtschaftlichkeit aufgrund inadäquater Marktbedingungen.
Investitionssicherheit für die notwendige Infrastruktur entsteht durch ein passendes Marktdesign. Dieses muss von der neuen Bundesregierung zügig entwickelt werden. Noch ist vieles zu unklar, doch diese Verzögerungen kann man sich nicht mehr leisten. Jetzt muss gehandelt werden.
Innovationen in der Energiewende
Bereits in den letzten zwei Jahrzehnten haben technische und nicht-technische Innovationen die Grundlage der Energiewende gebildet und wesentlich zur Beschleunigung der Transformation des Energiesystems beigetragen. Beispiele hierfür sind die immense Verbesserung von EE-Erzeugungstechnologien (sowohl Systemleistung als auch Kostendegression), die Möglichkeiten der Dezentralisierung und Flexibilisierung von Erzeugung, Umwandlung und Verbrauch sowie die Verbesserungen der Energieeffizienz in allen Verbrauchssektoren und Anwendungen. Man darf davon ausgehen, dass wir hier noch nicht am Ende des Innovationspotenzials angekommen sind.
Die Frage ist nur: Dürfen wir uns bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Erreichung von Klimaneutralität heute darauf verlassen, dass morgen (hoffentlich) neuere, effizientere Technologien zur Verfügung stehen könnten? Wie viele Innovationen dürfen angenommen und sozusagen einkalkuliert werden?
2030 schon zahlreiche Technogien massenmarktfähig
Die dena hat sich dieser und weiteren Fragen im Rahmen der Leitstudie Aufbruch Klimaneutralität mit einem Kurzgutachten zu innovativen Technologien der Energieerzeugung, -speicherung und -umwandlung gewidmet. Die vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE erstellte Untersuchung erörtert technisches Potenzial, Anwendungsfelder und mögliche Kostenentwicklungen einer Reihe innovativer Energietechnologien. Wesentliches Ergebnis ist: Schon bis 2030 ist die Massenmarktfähigkeit zahlreicher neuer sowie die breitere Anwendung bestehender Technologien zu erwarten.
Die passenden Rahmenbedingungen sind Voraussetzung dafür, dass diese Technologien schnell die notwendige Marktdurchdringung erreichen, um einen nennenswerten Beitrag zur Erreichung der THG-Minderungsziele leisten zu können.
Integrierte, Verkehrsflächen- und Agri-Photovoltaik
Innovationen können sich im Rahmen von bereits Bekanntem bewegen und zum Beispiel die Effizienz von Photovoltaik (PV)-Modulen steigern. Es bedarf gleichzeitig weiterer Innovationen oder innovativer Anwendungsfelder bestehender Technologien. Beispiele sind die bauwerk- oder fahrzeugintegrierte sowie die Verkehrsflächen-Photovoltaik. Diese sind hinsichtlich ihres Reifegrades wie auch der Kostenentwicklung der Zelltechnologien soweit fortgeschritten sind, dass sie bis 2030 eingesetzt werden können.
Weitere neue Einsatzgebiete für die PV-Stromerzeugung wie beispielsweise die sogenannte Agri-PV, bei der die Solarstromproduktion mit der landwirtschaftlichen Nutzung von Flächen kombiniert wird, haben ihre Anwendungstauglichkeit bereits bewiesen. Sie können bei passenden Rahmenbedingungen schnell skaliert werden.
Das Kurzgutachten schätzt das technische Potenzial von Agri-PV auf 2 GW – ein spürbarer Beitrag. Der Weg zu Klimaneutralität – und auch schon zur 2030er-Etappe – wird so starke Veränderungen mit sich bringen, dass mehr als der aktuelle Instrumenten- und Technologiemix benötigt wird.
Beitrag aktiver CO2-Senken zu Klimaneutralität
Klimaneutralität benötigt auch negative Emissionen. Diese sind aus zwei Gründen unvermeidlich. Erstens wird es auch 2045 noch Residualemissionen geben, die technisch nicht zu vermeiden sind und daher durch CO2-Abscheidung sowie aktive Entnahme von atmosphärischem CO2 ausgeglichen werden müssen. Zweitens müssen wir mit Blick auf die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommen langfristig sogar netto-negative CO2-Emssionen erreichen, um die Begrenzung der Erderwärmung auf möglichst 1,5 °C zu erreichen. Um CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen, werden wir neben den natürlichen auch technische CO2-Senken benötigen.
Das novellierte Klimaschutzgesetz fordert für 2045 eine jährliche Senkenleistung des „LULUCF“-Sektors (Land Use, Land-Use Change and Forestry = Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft) von 40 Mio. t CO2 für Deutschland – das ist äußerst ambitioniert. Dabei ist zu beachten, dass die Senkenleistung zum Beispiel durch zunehmende Extremwetter deutlich geringer ausfallen kann. Diese Frage der Permanenz ist eine der zentralen Herausforderungen bei der Betrachtung von Negativemissionen.
F&E-Bedarf bei CO2-Abscheidung
Die Dena-Leitstudie geht gegenwärtig davon aus, dass es im Jahr 2045 noch Residualemissionen aus den Sektoren Industrie und Landwirtschaft in Höhe von mindestens 60 bis 70 Mio. t CO2-Äquivalenten geben wird. Planbare, technische Entnahmen von CO2 werden daher neben dem Schutz und Ausbau von natürlichen Senken benötigt.
Die Technologien für die Abscheidung von CO2 stehen zwar grundsätzlich zur Verfügung, es besteht jedoch noch großer Forschungs- und Entwicklungs (F&E)-Bedarf. Hauptsächlich, um über Skalen- und Lerneffekte die Wirtschaftlichkeit zu verbessern. Die zukünftigen Potenziale für technische CO2-Senken hängen darüber hinaus ab von der EE-Verfügbarkeit (bei Direct Air Capture, DAC), vom nachhaltigen Biomasseangebot und von dessen energetischer Nutzung in der Industrie oder Energiewirtschaft (Bioenergy Carbon Capture and Storage, BECCS). Auch sind sie von der jährlichen CO2-Transport- und -Einspeisekapazität beziehungsweise zunächst der Verfügbarkeit einer solchen Infrastruktur abhängig. Hier kommen Wechselwirkungen ins Spiel, etwa zwischen der Größe anzunehmender natürlicher Senken-Potenziale und dem dadurch eingeschränkten Potenzial für Bioenergie und sich ergebender Negativemissionen durch BECCS oder andere Möglichkeiten (etwa durch pyrolysierte Pflanzenkohle).
Langfriststrategie für Negativemissionen
Der Erarbeitung einer langfristigen Strategie für Negativemissionen und dem Aufbau einer funktionierenden, sektorenübergreifenden CO2-Infrastruktur kommt daher eine wichtige Rolle zu. Dabei gilt aber auch: Negativemissionen sind keine Alternative zur Reduktion von THG-Emissionen. Die Notwendigkeit zur Minderung des THG-Ausstoßes hat immer Vorrang. Erreicht wird sie durch Elektrifizierung, den Einsatz erneuerbarer Energien und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz.
Mit Senken sollen die unvermeidbaren Residualemissionen ausgeglichen werden. Prozessemissionen zum Beispiel aus der Zementproduktion können abgeschieden und, etwa in Baumaterialien, wiederverwendet und langfristig gebunden werden (Carbon Capture, Utilisation and Storage, CCUS). Negative Emissionen können auch über BECCS oder DAC, also durch die geologische Speicherung des abgeschiedenen CO2, erreicht werden.
Fehlende Akzeptanz und hohe Kosten
Die Hürden für den Einsatz von technischen Senken sind jedoch hoch: Nicht nur fehlende Akzeptanz, sondern auch noch zu hohe Kosten, fehlende Rahmenbedingungen und teilweise ein noch niedriger Technologiereifegrad sind einige der limitierenden Faktoren. Die benötigten Technologien müssen schnell marktfähig gemacht und skaliert sowie die notwendigen Infrastrukturen aufgebaut werden.
Die vollständige Transformation des Energie- und Wirtschaftssystems ist von der weiteren Entwicklung und dem Einsatz technischer Innovationen abhängig. Sie hat aber auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Für Bürgerinnen und Bürger stehen auch im persönlichen Umfeld große Veränderungen an. Das sollte von der Politik frühzeitig und klar kommuniziert werden.
Transparenz und Partizipation
Über Transparenz und Partizipation können Herausforderungen gemeistert und Belastungen gemindert werden. Denn Klimaneutralität bedeutet mehr als „ein Häppchen Anpassung hier, ein Häppchen Veränderung dort“. Der Umbau wird sicht- und erlebbar sein. Manchmal werden wir uns mit einem Sprung ins Neue stürzen müssen, manchmal Durchhaltevermögen beweisen müssen.
Andreas Kuhlmann, Vorsitzender der Geschäftsführung, und Pascal Hader, Experte für Energiesysteme und Energiedienstleistungen, beide Deutsche Energie-Agentur (dena)