Wie eine norddeutsche Energiewende-Allianz die Sektorenkopplung voranbringt
Das Projekt Norddeutsche Energiewende 4.0 (NEW 4.0) hat gezeigt, dass eine vollständige Umstellung des Stromversorgungssystems auf erneuerbare Energien technisch möglich ist. In dem im April gestartete Nachfolgevorhaben Norddeutsches Reallabor (NRL) soll die ganzheitliche Transformation des Energiesystems erprobt und so der Weg zu einer schnellen Dekarbonisierung aller Verbrauchssektoren demonstriert werden. Dabei stehen zwei Technologiebereiche im Fokus: integrierte Sektorenkopplung mit Schwerpunkt Wasserstoff und energieeffiziente Quartierslösungen vorrangig im Wärmebereich.
Mit der signifikanten Reduzierung der bestehenden Treibhausgas (THG)-Emissionen stehen wir vor der größten und zugleich dringlichsten Herausforderung unserer Zeit. 87 % der klimaschädlichen Treibhausgase stammen nach wie vor aus der Verbrennung fossiler Energien wie Kohle, Öl und Gas. Eine schnelle Dekarbonisierung ist gefragt, wenn die bundesweiten Klimaschutzziele erreicht und die Erderwärmung gebremst werden sollen.
Die dominierende Rolle spielte dabei bislang die Stromerzeugung. So lag der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung im vergangenen Jahr bei 46 %, bis 2030 sollen es 70 % sein – entscheidender Faktor für das Erreichen dieser Zielmarke ist freilich ein zügiger Ausbau der Stromerzeugungskapazitäten, insbesondere der Windenergie.
Aber CO2 entsteht natürlich nicht nur bei der Erzeugung von Strom, sondern auch bei der Erzeugung von Wärme und Kälte sowie der Nutzung von Kraftstoffen. Die Umstellung auf klimaneutrale Energieträger muss zukünftig also auch auf den Wärmesektor, den Mobilitätssektor und die Industrie ausgeweitet werden, wenn die Energiewende gelingen soll.
Vollständiger Umbau des Energiesystems
Dies erfordert wiederum einen massiven Ausbau der Erzeugungskapazitäten – bis 2035 müssen sie verdreifacht werden. Und es ergeben sich neue Schnittstellen zwischen den Sektoren Strom, Wärme und Mobilität, weil diese zu einem integrierten Energiesystem zusammenwachsen müssen, auch im Hinblick auf die notwendigen Infrastrukturen, also die Gas-, Wärme- und Stromnetze. Außerdem erfordert die Systemintegration unterschiedlicher Erzeuger und Verbraucher eine zunehmende Flexibilisierung für den Schwankungsausgleich des Stromnetzes. Und nicht zuletzt werden neue Marktmodelle erforderlich. Wirksamer Klimaschutz erfordert also den vollständigen Umbau unseres Energiesystems – eine Jahrhundertaufgabe, die aber nur noch 29 Jahre dauern darf.
Norddeutschland zeigt Machbarkeit der Energiewende
Dass dies machbar ist, hat der Norden Deutschlands bereits beweisen können: Im Frühjahr 2021 wurde hier das vierjährige Verbundprojekt NEW 4.0 erfolgreich zu Ende gebracht, das das windenergiereiche Schleswig-Holstein mit Hamburg als energieintensiver Verbrauchsregion zusammenbrachte. Die rund 60 Projektpartner hatten sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam den Weg zu einem zukunftsfähigen Energiesystem zu ebnen, das wirksamen Klimaschutz und eine sichere Energieversorgung in einem funktionierenden Markt miteinander vereint.
Gut 80 Einzelprojekte wurden im Projektzeitraum realisiert – vom Speicherregelkraftwerk, das Schwankungen im Netz kurzfristig ausgleichen kann, bis zur mit Überschussstrom betriebenen Power-to-Heat (PtH)-Anlage, vom Aufbau einer Plattform zum Handel von industriellen Flexibilitäten bis zur mehrjährigen Akzeptanzstudie. Denn eine erfolgreiche Energiewende kann nur mit ganzheitlichen Konzepten gelingen, die neben der Vermeidung von Treibhausgasen auch unternehmerisch und volkswirtschaftlich funktionieren, digital vernetzt sind und dauerhaft von der Gesellschaft getragen werden.
Flexibilisierung von Erzeugung und Verbrauch
Durch übergreifende Arbeitsgruppen und gemeinsame Use Cases konnten Synergien erschlossen und tragfähige Projekterkenntnisse generiert werden: Die Projektpartner haben in gemeinsamen Feldversuchen nachgewiesen, wie industrielle und private Stromverbräuche gesteuert, elektrische und thermische Speicher systemstützend eingesetzt werden können und Strom sinnvoll zur Erzeugung von Wärme und synthetischen Gasen genutzt werden kann.
NEW 4.0 hat ebenfalls bewiesen, dass ein auf erneuerbaren Energien basierendes Stromsystem die dringend notwendigen Systemdienstleistungen bereitstellen kann, die für ein stabiles Netz erforderlich sind – zum Beispiel Momentanreserve, Regelenergie und Blindleistung zur Spannungshaltung. Bislang werden diese Systemdienstleistungen durch konventionelle Kraftwerke erbracht und tragen damit zum CO2-Ausstoß bei.
Die Feldtests haben gezeigt: Durch die Flexibilisierung von Erzeugung und Verbrauch kann es auch ohne konventionelle Kraftwerke gelingen, wind- und sonnenstromgeprägte Netze zuverlässig zu betreiben und die Systemkosten gering zu halten. Zugleich sind im Projekt marktbasierte Instrumente entstanden, die eine intelligente, schnelle und systemdienliche Koordination von Flexibilitäten ermöglichen.
Blaupausen für die Transformation
Die Projektergebnisse von NEW 4.0 zeigen, dass eine vollständige Umstellung des Stromversorgungssystems auf erneuerbare Energien technisch möglich ist. Allerdings sind grundlegende Änderungen des regulatorischen Rahmens notwendig, die systemdienliches Verhalten der Marktteilnehmer und technische Innovationen zur Dekarbonisierung begünstigen. Derzeit verhindern einige der heute existierenden ordnungspolitischen Rahmenbedingungen die Entwicklung der richtigen Maßnahmen und Mittel.
Es sind wichtige Erkenntnisse, die im Projektverlauf generiert werden konnten. Sie können über die Region hinaus als Blaupausen für die Transformation des Energiesystems in Deutschland und Europa dienen. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass der Norden den beschrittenen Pfad in Richtung Klimaneutralität weiterverfolgt und nun ein neues Projekt gestartet ist, das die Energiewende vorantreiben will: das Norddeutsche Reallabor.
Vielzahl innovativer Sektorenkopplungsanlagen
Hinter dem NRL steht eine vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geförderte Energiewende-Allianz für Innovationen und Sektorenkopplung mit derzeit 48 Partnern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Sie arbeiten eng zusammen, um im Norden Verbrauchsbereiche mit hohem Energieverbrauch zu erschließen und schrittweise zu dekarbonisieren. Kurzum: Das von April 2021 bis März 2026 laufende Projekt NRL will den Transformationspfad für ein integriertes Energiesystem erproben, mit dem es gelingt, die CO2-Emissionen im Norden bis 2035 um 75 % zu reduzieren. Dazu wird in dem Vorhaben eine Vielzahl von innovativen Sektorenkopplungsanlagen realisiert, die verschiedene Verbrauchsbereiche sukzessive mit Wasserstoff beziehungsweise dessen Folgeprodukten speisen – insbesondere in der Industrie, aber auch in der Wärmeversorgung und im Mobilitätssektor.
Wasserstoff als wichtige Schlüsseltechnologie
Weshalb fokussiert sich das NRL dabei so stark auf wasserstoffbasierte Ansätze? Ohne Frage ist der wesentlichste Baustein für die Dekarbonisierung unseres Energieverbrauchs zunächst die Elektrifizierung möglichst vieler Lebensbereiche. Aber nicht in allen Bereichen ist die direkte Nutzung von erneuerbar erzeugtem Strom auf effiziente Weise möglich. Deshalb werden weitere CO2-freie Alternativen zu den derzeit eingesetzten fossilen Energieträgern benötigt.
Gasförmige und flüssige Energieträger, die im Industrieland Deutschland bereits heute ein integraler Teil des Energiesystems sind, bieten erhebliche Chancen zur Dekarbonisierung. Der Einsatz von Wasserstoff wird hier zur wichtigen Schlüsseltechnologie: CO2-freiem Wasserstoff – also grünem Wasserstoff aus Elektrolyseanlagen, die ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien verwenden – kommt für die Einsparung von klimaschädlichen Emissionen eine zentrale Rolle zu.
Sein Dekarbonisierungspotenzial liegt sowohl in der direkten Nutzung als alternativer Energieträger für chemische und industrielle Prozesse als auch in der indirekten Nutzung durch Umwandlung in synthetische Gase wie Methan oder in Brenn- und Kraftstoffe. Die Erzeugung von Wasserstoff kann auch bei der Stabilisierung des Stromsystems helfen und kurzfristig benötigte Flexibilitäten bereitstellen, um Schwankungen im Stromnetz auszugleichen – eine sinnvolle Ergänzung zu der Nutzung von Batteriespeichern und gezieltem Demand Side Management.
Geografische „Hubs“ für Sektorenkopplung
Seine Langzeit-Speicherbarkeit im Gasnetz und in Gaskavernen ermöglicht zudem eine zeitversetzte Nutzung im Bedarfsfall. Neben Strom aus erneuerbaren Quellen wird Wasserstoff – erzeugt aus grünem Strom – folglich der zentrale Energieträger für die Vollendung der Energiewende sein.
Eben hier setzt das NRL an: Das im April gestartete Projekt bündelt unterschiedliche Sektorenkopplungsvorhaben in geografischen „Hubs“, die sich an der Netztopologie des Strom-, Gas- und Wärmenetzes orientieren. Sie befinden sich in Hamburg, in Mecklenburg-Vorpommern (mit Schwerpunkt Schwerin) und in Schleswig-Holstein (mit den Standorten Brunsbüttel und Haurup). An leistungsfähigen Knotenpunkten des Stromübertragungsnetzes werden Schwerpunkte der Wasserstoff-Produktion mit Grünstrom geschaffen. Dort werden lokale Verbrauchsschwerpunkte mit einer neuen energetischen Wertschöpfungskette aufgebaut.
Hamburg erprobt industriellen Einsatz von Wasserstoff
Wie das im Detail aussehen kann, zeigt sich am Beispiel Hamburg: Zielstellung des dortigen Wasserstoff-Hubs ist der Einsatz von grünem Wasserstoff in industriellen Anwendungen. Es soll sowohl die stoffliche Nutzung von Wasserstoff (etwa bei der Synthese chemischer Verbindungen oder bei der Reduktion von Metallen) als auch die energetische Nutzung (zum Beispiel als Beimischung zum Erdgas oder als Substitution von Erdgas oder Erdöl) erprobt werden. Auch die Nutzung der Kuppelprodukte, die bei der Elektrolyse entstehenden – Wärme und Sauerstoff – ist geplant.
Zentrales Element im „Hub Hamburg“ ist das Teilvorhaben der HanseWerk-Gruppe. Unter dem Namen „H2 Hanse Hafen Hamburg“ plant HanseWerk den Bau und Betrieb eines 25-MW-Elektrolyseurs. Die Anlage dient der großtechnischen Erzeugung von grünem Wasserstoff mit primärem Einsatz in einer verfahrenstechnischen Anlage eines Industriepartners des Konsortiums.
Daneben sollen aber auch der wachsende Bedarf des urbanen Umfeldes, die Wasserstoff-Mobilitätsvorhaben und perspektivisch auch weitere industrielle Prozesse im NRL bedient werden. Durch dieses Projekt wird somit grüner Wasserstoff für den Einsatz in großindustriellem Maßstab produziert und gegenüber der konventionellen Produktion aus Erdgas können rund 33 600 t CO2 direkt eingespart werden.
Erdgassubstitution bei Aurubis
Ein weiteres wichtiges Teilprojekt in diesem Hub ist die Umsetzung einer 4-MW-Elektrolyseeinrichtung bei dem Kupfer-Industrieunternehmen Aurubis im Hamburger Hafen. Der hier erzeugte Wasserstoff soll genutzt werden, um Erdgas zu substituieren und den Prozess der Primärkupferproduktion klimafreundlich gestalten. Die im Rahmen des NRL realisierte Elektrolyseleistung ermöglicht die Vermeidung von 6 200 t CO2/a. Zudem ergibt sich perspektivisch die Möglichkeit zur Ausweitung der lokalen Wasserstoffwirtschaft auf weitere Unternehmen aus der energieintensiven Grundstoffindustrie (Stahl, Aluminium).
Insgesamt umfasst das Norddeutsche Reallabor acht Elektrolyseure mit einer Wasserstoff-Erzeugungskapazität von 42 MW. Außerdem werden im NRL drei Vorhaben umgesetzt, die eine Abwärmenutzung in einem Umfang von 700 GWh/a ermöglichen. Im Rahmen der NRL-Aktivitäten im Mobilitätssektor werden mehrere Wasserstoff-Tankstellen und über 200 Fahrzeuge in unterschiedlichen Nutzungsszenarien erprobt.
Deutschlandweiter Modellcharakter für Sektorenkopplung
Derzeit sind im Projekt 25 verschiedene Teilvorhaben geplant. Durch skalierbare Innovationen sollen wirtschaftliche Impulse für die Durchdringung und Entwicklung von neuen Märkten ausgelöst und damit auch der Industriestandort Norddeutschland gesichert werden. Der großskalige Ansatz, in dem neben den geplanten Erprobungsvorhaben auch Querschnittsthemen berücksichtigt werden, die sich mit der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dimension der geplanten Transformation befassen, verleiht dem NRL letztlich einen deutschlandweiten Modellcharakter für wasserstoffbasierte Sektorenkopplung. Und nicht zuletzt können mit den geplanten Vorhaben im Projektzeitraum zwischen 350 000 und 500 000 t CO2-Emissionen pro Jahr eingespart werden – ein wichtiges Zeichen auf dem Weg zur Klimaneutralität.
Prof. Dr. Werner Beba, Projektkoordinator Norddeutsches Reallabor (NRL)