Warum Chatbots die Energiewirtschaft erobern
Sie heißen Emma, Ella, Lisa, Swenja oder Paul und haben eines gemeinsam: es sind Dialogmaschinen im Dienst von Energieversorgern – sogenannte Chatbots. Auch wegen der Corona-Pandemie wagen sich gerade Energieunternehmen zunehmend an die digitalen Assistenten heran. In Kombination mit Mitarbeitern kann der Kundenservice so das nächste Level erreichen. Zudem sind neue Geschäftsmodelle in Sicht. Doch an Spracherkennung und Wissensmodellierung muss noch gearbeitet werden.
Am besten sind Chatbots bei Fragen, die häufig gestellt werden – etwa zu Produkten und Tarifen, zum Umzug oder zur Rechnung. Typischen Fragen an einen Energieversorger eben. Hier liegt eine einmalige Chance für die Automatisierung von Antworten und Service-Prozessen. Die weitaus häufigsten Kundenkontakte eines Energieversorgers sind mit 90 % immer wiederkehrende Fragen.
Der Hype um Chatbots kam 2016 auf. Damals nutzten erstmals mehr Menschen Messaging Apps als soziale Netzwerke. Die Erwartungen waren immens – und wie es sich für einen Hype gehört, waren sie übertrieben. So wollten damals bis zu 80 % der Unternehmen bis 2020 Chatbots für Kundenservice, Marketing oder Vertrieb einsetzen.
Heute, Anfang 2021, wissen wir, dass das nicht stimmt. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir diese Zahl erreichen. Aber: Es ist wirklich nur noch eine Frage der Zeit, Chatbots sind auf einem guten Weg dorthin. Ausgerechnet Corona hat diese Entwicklung sogar beschleunigt. Wenn schon wegen der Lockdowns die Service-Center geschlossen bleiben müssen, dann können ja wenigstens Chatbots mit Kunden kommunizieren und Fragen beantworten, denken sich immer mehr Energieversorger und probieren den neuen digitalen Servicekanal aus.
Warum auch nicht: Die „Conversational artificial intelligence (AI)“ – zu deutsch etwa „dialogorientierte Künstliche Intelligenz (KI)“ – hinter Emma, Paul & Co. erkennt ja immer besser, was der Kunde wissen möchte und gibt passende Antworten. Eine Klarstellung am Rande: Der Begriff Conversational AI wird uneinheitlich verwendet und führt manchmal zu Missverständnissen. Grundsätzlich versteht man darunter Anwendungsformen von KI-Technologien, die automatisierte, natürlichsprachige Dialoge über Systeme wie Chatbots oder Sprachassistenten ermöglichen. Weitere deutsche Übersetzungen des Begriffs könnten auch „Konversations-KI“ oder „KI-gestütztes, automatisiertes Dialogsystem“ lauten.
Chatbots leisten einen Beitrag zu mehr Kundenservice
Gerade Energieversorger und Stadtwerke mit austauschbaren Produkten wie Strom und Gas müssen nach neuen Wegen suchen, um die Service-Erfahrung ihrer Kunden zu verbessern und diese langfristig an sich zu binden, denn jährliche Wechsler sind nicht lukrativ. Chatbots können dazu einen Beitrag zu mehr Kundenloyalität leisten.
Die Vorteile des intelligenten, automatisierten Kommunikationskanals liegen auf der Hand:
- Ausdehnung der Erreichbarkeit – dank Chatbots sind Versorger rund um die Uhr, auch an Sonn- und Feiertagen, für Kunden verfügbar.
- Entlastung von Service-Mitarbeitern bei immer wiederkehrenden Fragen – jetzt können sie sich auf komplexe Anfragen konzentrieren.
- Switch vom Bot zum Live-Chat mit Service-Mitarbeitern – Kunden schätzen gerade diese Wahlmöglichkeit sehr.
- Hohe Datenqualität bei Prozessen – in dialogischen Abfragen integrierte Plausiblitätsprüfungen und Validierungen machen es möglich.
- Die Nutzung von Chatbots und Messenger-Diensten nimmt rasant zu – nachrückende, jüngere Kundengruppen sind mit solchen Technologien aufgewachsen.
Nehmen Chatbots uns die Arbeitsplätze weg?
Aber es gibt auch Ängste und Bedenken gegenüber Chatbots, vor allem bei den Service-Mitarbeitern selbst. Machen uns Antwort-Roboter überflüssig, nehmen sie uns die Arbeitsplätze weg? Es sieht nicht danach aus, so weit sind die mit KI ausgestatteten Maschinen noch lange nicht. Dafür ist das Thema Kundenservice zu komplex.
Beim gegenwärtigen Stand der Technologie konkurrieren Menschen und Maschinen nicht gegeneinander. Es ist genau umgekehrt: Wenn beide zusammenarbeiten und im Team zum Nutzen der Kunden agieren, dann erreicht der Kundenservice sein „Next Level“. Deswegen ist es auch wichtig, dass die Bot-Technologie den Kunden einen fließenden Übergang vom automatisierten Dialog hin zum Live-Chat mit Service-Mitarbeitern ermöglicht.
Menschen und Chatbots haben unterschiedliche Fähigkeiten. Menschliche Mitarbeiter sind besser darin Emotionen zu lesen und empathisch auf Kunden einzugehen. KI-gestützte virtuelle Assistenten dagegen behalten auch bei großen Datenmengen den Überblick und erledigen routinemäßige Aufgaben in Sekundenschnelle. Virtuelle Systeme können also einen Großteil der Kundenanfragen bearbeiten. Da, wo sie nicht weiterkommen, bei komplexen Anfragen, übernimmt dann der Mensch.
Deshalb besteht die Zukunft des Kundenservice aus gemischten Serviceprozessen, die menschlichen Mitarbeitern mehr Freiraum geben auf Einzelfälle einzugehen, während Maschinen sich effektiv um die Standardanfragen kümmern.
Chatbots müssen sprachlichen Input erkennen und verstehen
Insgesamt steigt durch den Einsatz intelligenter Chatbots mit integriertem Live-Chat-Switch die Zufriedenheit mit dem Kundenservice. Natürlich liegt das auch daran, dass sich bei Chatbots in den letzten Jahren viel getan hat. Die Spracherkennung macht immense Fortschritte. Deswegen verstehen Chatbots die Menschen, die eigentliche Intention ihrer Frage, immer besser. Langweilige, strikt regelbasierte Klickbots, die noch aus der Anfangszeit der Antwortautomatisierung stammen, sterben allmählich aus.
Bei allen Fortschritten der Konversationsqualität von Chatbots und SprachassistentInnen bleibt die Erkennung der Fragen in natürlicher Sprache, insbesondere bei komplexeren Themen, eine der größten Herausforderungen. Dafür muss an zwei wesentlichen Aufgaben gearbeitet werden: Spracherkennung und Wissensmodellierung.
Zunächst muss der sprachliche Input der Nutzer erkannt und verstanden werden. Mit dieser Aufgabe befasst sich das „Natural Language Understanding (NLU)“. Dabei geht es um das Verständnis von Struktur und Bedeutung der menschlichen Kommunikation. Noch wichtiger, allerdings seltener bedacht, ist das Thema der Wissensaufbereitung und -modellierung. Nur wenn das in Unternehmen bereits vorhandene und durch die Anfragen der Nutzer erweiterte Wissen entsprechend aufbereitet wird, kann dieses als Input für natürlichsprachige Antworten dienen.
Art und Weise der Kommunikation verändert sich
Chatbots und Sprachassistenten sind also mehr als nur ein neues Tool. Es geht um einen vollumfänglichen Transformationsprozess, der die Art und Weise, wie wir kommunizieren, Informationen einholen und auf Wissen zugreifen, nachhaltig verändert. Während wir bei Chatbots heute noch hauptsächlich an Web-Widgets denken, über die man Fragen eintippt, wird sich in den nächsten Jahren ein klarer Trend zur Nutzung von Sprachassistenten etablieren.
Neben Sprachassistenten ist auch das Telefon ein möglicher Ein- und Ausgabekanal für Chatbots. Der Vorteil: Noch nicht alle Menschen kommunizieren täglich mit Alexa, Siri, Google Assistant & Co., aber jeder nutzt das schon vor über 150 Jahren erfundene Telefon. Ein Use Case aus der Praxis ist daher Leon, der Telefonbot.
Seit April 2020 erfasst er im Rahmen der Marktraumumstellung von L- auf H-Gas die Zählerstände aller Gaskunden des Braunschweiger Netzbetreibers BS Netz. In Spitzenzeiten haben mehr als 300 Kunden diesen Service pro Tag genutzt. Die bereits im Telefondialog mit dem Kunden durchgeführten Plausibilitätschecks reduzieren die Nach- und Weiterbearbeitung der erfassten Daten auf ein Minimum. Lange Warteschleifen und Aufwände in der telefonischen Hotline entfallen.
Insgesamt hat sich der erste deutsche Telefonbot der Energiewirtschaft bewährt: „Der Voicebot ist ein voller Erfolg: Wir entlasten einerseits die Kollegen bei der Erfassung der Zählerstände und andererseits haben wir eine Antwortquote von mehr als 60 %, Tendenz steigend“, erläutert Tobias Kowalik, Mitarbeiter im L-H-Gas-Projekt bei BS Netz und Projektleiter für den Voicebot.
Chatbots als Verkäufer im Up- und Cross-Selling?
In naher Zukunft wird das Interesse von Unternehmen an Conversational AI-Lösungen deutlich zunehmen. Rund um Voice- und Chatbots werden vollkommen neue Geschäftsmodelle entstehen, die wir heute in letzter Konsequenz nur schwer abschätzen können.
Das betrifft nicht nur den Kundenservice, sondern auch den Vertrieb – zum Beispiel um das Up- und Cross-Selling zu automatisieren. Ein guter Anknüpfungspunkt dafür sind Prozesse, die die Kunden gerade mithilfe eines Chatbots durchlaufen haben. Warum sollte der Roboter, etwa nach erfolgreicher Übermittlung des Zählerstands, die Kunden nicht fragen, ob Interesse an einem neuen Ökostromprodukt besteht? Der Erfolg von Chatbots hängt dabei maßgeblich vom Einfädeln des Dialogs mit den Kunden sowie der Tonalität ab.
Druck auf Energieversorger steigt
Chatbot-Skeptiker und konservative Entscheider in der Energiewirtschaft spielen oft auf Zeit. Mit dieser Einstellung werden sie gerade bei Chatbot-Technologien und im sich rasch verbreitenden „Internet of Voice“, dem Internet der Stimme, wahrscheinlich nicht weit kommen. Der Druck seitens der Kunden wird zunehmen. Wer einmal erlebt hat, wie bequem der Dialog mit einem Chatbot ist und wie schnell er Antwort gibt; oder wie viel Zeit man spart, wenn man die alltäglichen Aufgaben mit Sprachbefehlen statt Buchstaben-Tippen auf dem Smartphone erledigen kann, möchte Dinge am liebsten nur noch so erledigen. Natürlich auch im Kontakt mit seinem Energieversorger.
Wird man als Stadtwerk selbst nicht aktiv, wird einem die Konkurrenz schon bald vormachen, wie sie mit Chatbots und Voice-Assistants ihren Kunden Mehrwerte bietet – sei es im Kundenservice oder im Vertrieb. Da heißt es Schritt halten, mindestens; besser, man ist immer einen Schritt voraus.
Last but not least versagt bei KI-Anwendungen die beliebte Strategie, erst die Konkurrenz Fehler machen zu lassen, um dann die besten Lösungen zu kopieren und für sich zu adaptieren. Die Aufbereitung der Informationen, die Modellierung des Wissens für die speziellen Use Cases ist in der Regel sehr individuell. Jedes Unternehmen muss seine eigenen Erfahrungen machen – so wie jede KI ihre eigene Lernkurve durchlaufen muss.
Ein Training von Ella, Swenja, Paul & Co. draußen an der Kundenfront sowie das Sammeln eigener Erfahrungen mit dem Einsatz von KI-Anwendungen ist durch nichts ersetzbar und nicht kopierbar.
Thomas Stock, Chatbot-Produktmanager bei der trurnit Digital GmbH