Wie sich mittels Künstlicher Intelligenz Lastprofile optimieren lassen
Der Smart-Meter-Rollout ermöglicht ganz neue Ansätze bei der Erstellung von Verbrauchsprognose-Modellen mittels Künstlicher Intelligenz. Denn diese profitiert von den hohen Datenmengen und der damit verbundenen hohen Datenqualität enorm. Durch die Berücksichtigung regionaler und zeitlicher Zusatzfaktoren lassen sich sogar vollständig neue Lastprofile generieren.
Begriffe wie Machine Learning (ML), Künstliche Intelligenz (KI) und BigData haben sich schon seit längerem in der IT-Sprache verfestigt und erfahren auch darüber hinaus ein großes Interesse – schließlich konnte in verschiedensten Pilotprojekten immer wieder ein beeindruckendes Potenzial bewiesen werden. Folglich werden diese Themen auch in der Energiewirtschaft eine immer weiter wachsende Relevanz erfahren. Gleichzeitig finden diese Begriffe in der breiten Praxis jedoch noch selten konkrete Anwendung und führen noch seltener zu tatsächlichen Prozessverbesserungen, die über den Forschungs- und Entwicklungsstatus hinaus gehen.
Dabei können die Vorteile, die sich durch die Verwendung selbstlernender Algorithmen ergeben, bereits jetzt durchaus überzeugen: Automatische Texterkennung anstelle gebundener Personalkapazitäten und ohne die Erfordernis menschlichen Zutuns, die Bedienung und Steuerung von Fertigungsmaschinen zur möglichst optimalen Produktionsauslastung oder auch die Erhöhung der Genauigkeiten von Prognosemodellen stellen nur wenige Beispiele dar, bei denen intelligente Systeme Verbesserungen herbeiführen können. Letztgenannte Prognosen und Modelle spielen wiederum bei der Ermittlung zukünftig benötigter Energiemengen und damit auch deren Zuordnung zu Bilanzkreisen im Rahmen des Bilanzkreismanagements eine wichtige Rolle. Somit haben die verwendeten Prognosen und Modelle auch eine direkte Auswirkung auf die zu zahlenden Ausgleichsenergiepreise.
Herausforderungen bei der Netzstabilisierung
Hier ein kurzer Exkurs zum Thema Bilanzkreise: Damit ein Stromnetz stabil ist, müssen die eingespeiste und die entnommene Energiemenge stets übereinstimmen. Diese schlichte physikalische Tatsache bringt in der praktischen Realisierung eines großen Stromnetzes wie dem in Deutschland jedoch einige Herausforderungen mit sich. Da die zu einem Zeitpunkt tatsächlich benötigten Energiemengen im Vorfeld unbekannt sind, kann die Einspeisung von Strom nur anhand von Prognosen und Hochrechnungen geschehen. Um letzte Abweichungen zwischen der tatsächlichen Last und der hochgerechneten Last – also die Netzschwankungen – ausgleichen zu können, müssen zusätzliche Energiemengen vorgehalten werden. Das Vorhalten dieser Energiereserven verursacht monatliche Kosten im Millionenbereich, die im Anschluss ursachengerecht auf die beteiligten Marktakteure verteilt werden.
Zusätzlich birgt das Abrufen dieser Energiemengen ein hohes finanzielles Risiko. Auch wenn sich der Markt durch die Einführung des Regelarbeitsmarkts gerade im Umbruch befindet, kam es in der Vergangenheit wiederholt zu extremen Preisspitzen, die auch in der Zukunft nicht ausgeschlossen sind. Neben den regulatorischen Anforderungen ergibt sich dadurch auch ein durchaus praktischer Anreiz für die LieferantInnen, durch genaue Prognosen den Einsatz von Regelenergie und damit unmittelbar die Kosten zu minimieren.
Redispatch 2.0 verschärft die Anforderungen
Nichtsdestotrotz ist die Menge abgerufener Regelenergie in Deutschland seit Jahren auf einem konstant hohen Niveau und belief sich im Jahr 2018 auf 2,4 TWh. Mit der Einführung des Redispatch 2.0 zur Erhöhung der Netzstabilität stellt sich darüber hinaus eine Vielzahl an verschärften regulatorischen Anforderungen an die am Bilanzkreismanagement beteiligten Rollen. Eine bessere Qualität der Lastprognosen wird auch in diesem Themenbereich dazu beitragen, den Einsatz der teils sehr aufwendigen Redispatch-Maßnahmen zu verringern. Somit wird die Anwendung von Künstlicher Intelligenz auch im Hinblick auf das Thema Redispatch 2.0 eine wachsende Bedeutung erfahren, um Netzschwankungen reduzieren zu können.
Doch wie kommt es überhaupt zu so großen Abweichungen zwischen den per Prognose und modellbasiert ermittelten und den in der Realität tatsächlich benötigten Energiemengen? Um eine Prognose erstellen zu können, werden zuerst einmal Daten benötigt – je mehr Daten vorliegen, umso genauer wird auch die daraus erstellte Prognose. Im Bereich der Großkunden wird die entnommene Strommenge im Viertelstundentakt gemessen und direkt übermittelt. So ergibt sich eine ideale Datengrundlage, bei der bereits klassische statistische Verfahren befriedigende Prognosen liefern können. Bei großen Kunden mit stark wechselnden Verbrausschemata haben sich zusätzlich auch moderne Verfahren, von der multivariaten Regressionsanalyse über die Nearest-Neighbour-Methode bis hin zu Neuronalen Netzen in der Praxis voll etabliert, da hiermit individuelle Einflussfaktoren ermittelt, bewertet und berücksichtigt werden können.
Veraltete Lastprofile bei Haushalten und Gewerbe
In den Bereichen der Haushaltskunden und des kleinen bis mittelgroßen Gewerbes, die oftmals den Großteil der Versorgungsstruktur eines Bilanzkreises bilden, sieht die Welt jedoch komplett anders aus: Der Stromverbrauch wird meist nur jährlich erfasst, die Prognose erfolgt dann anhand des Vorjahresverbrauchs und mittels vorgefertigter Verbrauchsschemata, den sogenannten Standardlastprofilen (SLP). Deren Ermittlung und Bereitstellung liegt mittlerweile jedoch schon Jahrzehnte zurück. Eine Aktualisierung war lange Zeit schon aus dem einfachen Grund unwirtschaftlich, dass die Datenbeschaffung viel zu aufwendig gewesen wäre. Somit spiegeln sie die vielen Veränderungen, die sich in unserem privaten und beruflichen Alltagsleben ergeben haben, nicht wider. Man denke nur an die veränderten Ladenschlussgesetze, den Trend zu immer mehr Single-Haushalten oder die verlängerten Schulzeiten mit Übermittagsbetreuung, was die historische Mittagsspitze des Kochens in den Abend verschiebt.
Künstliche Intelligenz auf Basis von Smart-Meter-Daten
Da im Zuge des Smart-Meter-Rollouts und der immer weiter verbreiteten intelligenten Messsysteme (iMSys) eine stetig größere und damit deutlich bessere Datenverfügbarkeit besteht als im bisherigen Fall der jährlich übermittelten Zählerstände, ist die größte Hürde zu einer verbesserten Verbrauchsprognose der SLP-Kunden bereits gefallen. Gleichzeitig ermöglichen die „neuen“ Technologien völlig neue Ansätze zum Erstellen von Prognosen. Beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird in mehrfacher Hinsicht von einer guten Datengrundlage profitiert: Die Qualität einer Künstlichen Intelligenz geht einher mit der ihr zugrunde liegenden Datenqualität, sodass eine erhöhte Datenverfügbarkeit zwangsläufig eine höhere Qualität der Künstlichen Intelligenz bedingt.
Hierdurch ergibt sich wiederum der Vorteil, dass die von der Künstlichen Intelligenz entwickelten Prognosemodelle eine höhere Genauigkeit aufweisen und damit aussagekräftiger werden. Somit können die durch intelligente Messsysteme verfügbaren Daten genutzt werden, um auch die Genauigkeit von Lastprofilen zu erhöhen und damit eine Verringerung der Kosten für Ausgleichsenergiepreise zu bedingen. Da die kontinuierliche Bewertung der Risikofaktoren Prognosegüte und Ausgleichsenergie durch den Vertrieb eine wesentliche Rolle in den Aufgaben des Bilanzkreismanagements einnehmen, ergibt sich an dieser Stelle auch die Möglichkeit zur datenbasierten Auswertung und Analyse der Verbrauchswerte hinsichtlich verschiedenster Kriterien.
Lastprofile weichen bis zu 50 Prozent ab
In Österreich, wo bisher ebenfalls die Profile des Verbands der Elektrizitätswirtschaft e. V. (VDEW) verwendet wurden, hat man dieser Situation bereits Rechnung getragen: Die TU Graz hat im Jahr 2014 in Summe etwa 2 500 Smart-Meter-Messwerte von PrivatkundInnen im Rahmen einer Studie analysiert. Anschließend wurden die Ergebnisse mit den bislang verwendeten Profilen verglichen, woraus Abweichungen von über 50 % resultierten.
Auch ein darauf aufbauender Forschungsbericht aus dem Jahr 2017, der in einer Kooperation von der Gesellschaft für Energie und Klimaschutz Schleswig-Holstein (EKSH), den Stadtwerken Norderstedt und der FH Lübeck entstanden ist, kommt zu dem Ergebnis, dass eine simple statistische Neuberechnung der bestehenden Haushaltsprofile die dort bestehenden Abweichungen bereits merklich reduzieren könnte. Würden zusätzlich andere Faktoren wie die Region, der Wochentag oder die Schulferien berücksichtigt, so könnten die Abweichungen sogar noch weiter reduziert werden. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, genauer eines Machine-Learning-Verfahrens, könnte die Künstliche Intelligenz solche Zusatzfaktoren selbstständig finden und bewerten sowie Prognosemodelle unter Berücksichtigung solcher Zusatzfaktoren erstellen.
Wie zuvor gezeigt, konnte in bisherigen Studien und Feldversuchen bereits mit vergleichsweise geringer Datengrundlage von etwa 2 500 Messwerten die Prognosegenauigkeit der SLP für Haushalte deutlich verbessert werden, sodass eine darüber hinausgehende Verbesserung durch die Verschmelzung der hohen Anzahl an Messdaten sowie selbstlernender Algorithmen zu einer Künstlichen Intelligenz zu erwarten ist.
Neue Kleingewerbe-Lastprofile mittels Künstlicher Intelligenz
Ein weiterer Bereich, der bisher noch nicht untersucht wurde, sind die SLP im Kleingewerbebereich. Auch hier gab es in der Vergangenheit verschiedene Veränderungen wie die strengeren Energieeinsparanforderungen im Rahmen von Energiemanagementsystemen, die Lockerung der Ladenschlusszeiten oder schlicht veränderte Einkaufsmuster der Bevölkerung, sodass auch bei diesen Profilen eine systematische Abweichung vom jeweiligen Profil zum tatsächlichem Lastgang zu erwarten ist.
Vor diesem Hintergrund ist nun in Kooperation mit Prof. Dr. Peter Vennemann vom Fachbereich Energie-, Gebäude- und Umwelttechnik der Fachhochschule Münster sowie einem dritten Partner aus der Wirtschaft geplant, den Sachverhalt anhand von tatsächlichen KundInnen-Verbrauchsdaten genauer zu untersuchen. Es sollen die Prognosegenauigkeit der bestehenden Lastprofile bewertet und unter der Verwendung von Künstlicher Intelligenz aktualisierte oder sogar vollständig neue Lastprofilen generiert werden.
Folglich besteht für Marktakteure im Bilanzkreismanagement nicht nur die Möglichkeit, im ersten Schritt eine Bewertung der eigenen Prognosegenauigkeit zu erhalten, sondern darüber hinaus eigene Lastprofile auf Basis tatsächlich ermittelter Werte zu erstellen und dadurch die Prognosegenauigkeit innerhalb des eigenen Bilanzkreises oder Liefergebietes zu erhöhen – selbstverständlich im Rahmen der derzeit gültigen Normen und Gesetze. Somit kann neben der Reduktion von zuvor aufgezeigten und zu zahlenden Ausgleichsenergiepreisen aufgrund der Prognoseungenauigkeiten auch ein erster praktischer Anwendungsfall für Künstliche Intelligenz im Unternehmen geschaffen werden.
Christian Seidel und Thomas Siebert, beide Berater und Experten für Energiedatenmanagement bei der cronos Unternehmensberatung GmbH