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Nachhaltige Chemie auf der Woche der Umwelt 05.07.2024, 10:00 Uhr

Nachhaltig mit mehr Service und weniger Material

Auf der Woche der Umwelt im Juni in Berlin im Schloss Bellevue war nachhaltige Chemie auch ein Thema. Die Diskussion zeigte, nachhaltige Chemie bedeutet mehr, als einzelne Chemikalien oder Produkte effizient herzustellen und nachwachsende oder recycelte Rohstoffe einzusetzen. Chemie nachhaltig zu betreiben, bedeutet auch, Stoffströme drastisch zu verringern.

Bundespräsident Walter Steinmeier eröffnet die Woche der Umwelt 2024 im Schloss Bellevue in Berlin. Foto: Ahrens

Bundespräsident Walter Steinmeier eröffnet die Woche der Umwelt 2024 im Schloss Bellevue in Berlin.

Foto: Ahrens

Nachhaltiges Wirtschaften ist zum Teil bereits in Wirtschaft und Gesellschaft angekommen: Die Energiewende kommt langsam voran, der Wert der biologischen Vielfalt wird mehr und mehr erkannt. Wie sieht es jedoch mit der materiellen Seite aus? Den Produkten, Abfällen, Chemikalien? Hier steckt die Diskussion um Nachhaltigkeit noch in ihren Anfängen.

„Wir müssen uns auch um die physischen Grundlagen unseres Wirtschaftens kümmern“, sagt daher Klaus Kümmerer, Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität in Lüneburg, auf der Diskussionsrunde „Nachhaltige Chemie für eine nachhaltige Welt“ auf der Woche der Umwelt.

Nachhaltige Chemie ist grün, …

Die „grüne Chemie“ ist gut bekannt. Sie fokussiert auf die Synthese von Chemikalien. Ein Ziel grüner Chemie ist, Stoffe möglichst effizient, also mit möglichst wenig Energie und möglichst wenig Abfall herzustellen. Auch der Einsatz nachwachsender Rohstoffe kann Chemie grüner machen. Grüne Chemie ist damit lediglich ein Teil der nachhaltigen Chemie, sie lässt aber ethische Fragen und Stakeholder außen vor und adressiert kein Recycling und keine Stoff- und Materialströme, die sich in einer Gesellschaft und weltweit aufsummieren.

Auf die Herausforderung der steigenden Stoffströme verwies Henning Friege von der N3 Nachhaltigkeitsberatung aus Voerde in Nordrhein-Westfalen auf der Woche der Umwelt mit zwei Zahlen: Der Bedarf an Kunststoffen kann sich von 460 Mio. t in 2019 auf mehr 1 300 Mio. t bis 2060 fast verdreifachen – nachzulesen im „Global Plastics Outlook“-Bericht der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2022 [1]. Und 2050 können weltweit 3,8 Mrd. t Siedlungsabfälle anfallen, das sind 80 % mehr als die 2,1 Mrd. t in 2023. So steht es im „Global Waste Management Outlook 2024“ des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep) [2].

… zirkulär …

Zirkuläre Chemie ist ein weiterer Schritt in die Richtung Nachhaltigkeit. Doch Kümmerer beobachtet hier das gleiche Denken wie in der linearen Wirtschaft. „Es werden keine Grenzen gesehen, obwohl sie naturgesetzlich vorgegeben sind.“ Das Credo der Kreislaufwirtschaft lautet: Zirkuliert es, ist alles gut.

In jeder Kreislaufwirtschaft gebe es zudem unvermeidlich Verluste an Qualität und Quantität, betont Kümmerer. Ein Beispiel: Es werden vier Recyclingschritte mit einer sehr guten Effizienz von jeweils 95 % benötigt. Die Gesamteffizienz liegt dann aber lediglich bei rund 80 %. Ein knappes Fünftel geht also verloren und muss ersetzt werden. Zudem wird für jeden Schritt Energie benötigt. Und die Materialströme können trotzdem vielfältiger werden und steigen, betont der Chemiker Kümmerer. Das heißt, zirkuläre Chemie ist auch noch nicht das Ende der Geschichte.

… und senkt Stoffströme

Bei nachhaltiger Chemie geht es auch darum, Stoffströme zu verringern. Werden etwa Produkte länger genutzt und lassen sich einfacher reparieren, wird weniger Neuware benötigt. Und nicht immer ist eine chemische Lösung nachhaltig und auf Herstellung und Einsatz von Chemikalien kann durchaus mal verzichtet werden.

Kümmerer empfiehlt daher eine andere Herangehensweise. „Wir müssen anfangen, vom Service und der Funktion zu denken und dann die Materialien auswählen.“ Danach komme erst, wenn nötig, die zirkuläre Chemie und danach die Synthese, also die grüne Chemie. „Dann kann Chemie auf nachhaltige Weise zur Nachhaltigkeit beitragen“, so Kümmerer. Er weißt aber auch, das ist nicht immer einfach, zudem müsse immer genau hingeschaut werden. Einige Beispiele mögen dies illustrieren.

Fast ein Suchbild: Welche Milchtüte kommt bei gleichem Service mit weniger Material und weniger unterschiedlichem Material aus, spart dadurch Ressourcen und erleichtert das Recycling?

Foto: Klaus Kümmerer

Beispiel synthetische Kraftstoffe

Aus Kohlendioxid oder Wasser lassen sich mit Strom viele Chemikalien herstellen. Doch das ist nicht immer sinnvoll. Werden auf diese Weise etwa synthetische Kraftstoffe synthetisiert, kommen am Ende etwa 10 % der eingesetzten Energie auf der Straße an. Der Grund: Kohlendioxid und Wasser sind Endprodukte von Verbrennungen, also sehr energiearm. Diese Energie muss erst wieder reingesteckt werden. Synthetische Kraftstoffe mithilfe erneuerbarer Energien herzustellen, sei für Kümmerer daher vielleicht grün, aber nicht nachhaltig. Der nötigte Wasserstoff ist in Sachen CO2-Reduktion in der Eisen-, Stahl- und Zementindustrie viel notwendiger und effizienter, ebenso der grüne Strom in der chemischen Industrie.

Beispiel Schadorganismen

Gegen Ratten werden oft Blutgerinnungshemmer eingesetzt. Diese Stoffe haben Nebeneffekte: Sie werden in der Natur nur langsam abgebaut, reichern sich an, sind auch für andere Organismen wie den Menschen giftig. Auch leiden die Tiere, wenn sie an diesen Giften sterben, und gegen einige Blutgerinnungshemmer haben sich Resistenzen gebildet.

Für Stefanie Wieck vom Umweltbundesamt sind Rattengifte nur die letzte Option. Zuerst sollte gefragt werden: Warum sind die Tiere dort? Finden sie Nahrung und Nistmöglichkeiten? Beispiel Kanalisation. Werden keine Lebensmittel über Toiletten in die Kanalisation gespült und sind die Kanäle gut in Schuss, gibt es etwa keine leeren Rohre, fehlt den Ratten der Lebensraum. Die Stadt Erfurt verzichtet auf diese Weise auf Rattengifte.

„Wichtig ist, die Perspektive zu wechseln“, erklärt Wieck und bei Schadorganismen generell zu fragen, wo und warum sind diese ein Problem und dann zu fragen, wie sich am besten damit umgehen lässt. Sie verweist hierzu auf die OECD, die im Dezember 2023 den Bericht „10 general principles for a Sustainable Management of Harmful Organisms (SuMaHO)“ veröffentlicht hat. Das Umweltbundesamt hat diese SuMaHO-Prinzipien, also die „10 allgemeinen Grundsätze für ein nachhaltiges Management von Schadorganismen“, übersetzt [3].

Solche Plakate werben seit Juni 2023 für ein nachhaltiges Ratten-Management. Dieses und weitere ähnliche Motive sind beim Umweltbundesamt unter der Webseite „www.umweltbundesamt.de/rattenmanagement“ kostenlos erhältlich.

Foto: Stefanie Wieck

Beispiel Bodenbeläge

Friege von der N3-Nachhaltigkeitsberatung verglich drei Bodenbeläge unter Nachhaltigkeitsaspekten: Beläge aus Vinyl, also weichem Polyvinylchlorid (PVC), Laminat und Parkett. Unter Klimagesichtspunkten stehen PVC-Böden am schlechtesten da, weil sie nicht aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden. Zudem enthält PVC auch deutlich mehr Zusatzstoffe wie Weichmacher und Füllstoffe. Laminate hingegen nur Klebstoffe und Harze, Parkett Wachs. Weich-PVC lässt sich auch nicht hochwertig verwerten und wird thermisch entsorgt. Gebrauchtes Laminat und Parkett lassen sich hingegen trotz der Zusatzstoffe zu Spanplatten oder faserbasierten Produkten verarbeiten, bevor das Holz am Ende einer Verwertungskaskade energetisch genutzt werden kann.

Beispiel Einweg versus Mehrweg

Aus Zerlegebetrieben werden große Stücke eingeschweißtes Frischfleisch in Behältern zu Supermärkten, Restaurants und Hotels transportiert. Diese Behälter müssen einige Anforderungen erfüllen: Die Kühlkette muss stimmen und die Behälter müssen stabil sein, damit sie gestapelt werden können.

Aktuelle nutzen Zerlegebetriebe hierzu Kartonagen, also Pappe mit und ohne Polyethylen-Beschichtung. Aus hygienischen Gründen werden die Kartons nur einmal benutzt. Eine wiederverwendbare Alternative hierzu sind zusammenklappbare Behälter, die überwiegend aus Polypropylen-Rezyklaten bestehen. Diese wurde im Projekt „All-Polymer“ im Rahmen der Fördermaßnahme „Ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft – Innovative Produktkreisläufe (ReziProK)“ des Bundesforschungsministeriums entwickelt. Diese neuen Transportbehälter bestehen überwiegend aus recyceltem Polypropylen. Da diese allerdings nicht stabil genug sind, werden sie mit besonderen sogenannten unidirektionalen Faserbändern aus recyceltem Polypropylen stabilisiert. Diese Bänder lassen sich bei leicht höheren Temperaturen gut ablösen und erneut einsetzen. Im Ergebnis lassen sich mit den neuen Transportbehältern und den stabilisierenden Bändern CO2-Äquivalente einsparen: nämlich bei 40 Umläufen rund 260 kg.

Ein faltbarer Stapelbehälter unter anderem für Frischfleisch aus Zerlegebetrieben verstärkt mit unidirektionalen Faserbändern aus recyceltem Polypropylen. 

Foto: Infinex-Group

Fazit

Nachhaltig mit Chemikalien umzugehen, verlangt einen umfassenden Ansatz: Die erste Frage lautet: Was soll erreicht werden und welcher Service wird benötigt? Und dann sollten dazu zuerst die passenden Geschäftsmodelle, dann die passenden Produkte, falls welche notwendig sind, geplant werden und diese erst dann synthetisiert und genutzt werden, bei deren Herstellung und Verarbeitung etwa wenig Treibhausgase frei werden, die zudem langlebig sind und sich gut im Kreis führen lassen. Stoffe, Materialien und Produkte, die in die Umwelt gelangen, müssen für schnelle und vollständige Mineralisierung geplant werden.

Mit mehr Service die benötigen Funktionen erfüllen und dabei letztlich mit weniger Material auskommen. Immer wieder wird es dabei sogar möglich sein, auf Produkte der Chemie zu verzichten.

Literatur

  1. www.oecd-ilibrary.org/sites/aa1edf33-en/index.html?itemId=/content/publication/aa1edf33-en
  2. www.unep.org/resources/global-waste-management-outlook-2024
  3. www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/biozide/nachhaltiger-umgang-schadorganismen/sumaho-prinzipien-fuer-management
Von Dr. Ralph H. Ahrens