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Elektrochemie 29.01.2025, 09:00 Uhr

„Wir wollen sehr viel besser sein als die traditionelle Chemie“

Seit mehr als 25 Jahren glaubt Prof. Siegfried R. Waldvogel an die Macht der Elektronen – genauer an das Potenzial der Elektrochemie, die Chemieindustrie in eine grünere Zukunft zu führen. Der Direktor der Abteilung Elektrosynthese am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr forscht mit seinem Team daran, Abfall- und Restströme durch das Einspeisen von Strom in wertvolle Chemikalien umzuwandeln.

Prof. Siegfried R. Waldvogel (Jahrgang 1969) leitet seit Dezember 2023 als Direktor die Abteilung Elektrosynthese am Max-Planck-Institut für Chemische Energie­konversion in Mülheim an der Ruhr, kurz MPI CEC. Foto: Evonik Industries/Robert Eikelpoth

Prof. Siegfried R. Waldvogel (Jahrgang 1969) leitet seit Dezember 2023 als Direktor die Abteilung Elektrosynthese am Max-Planck-Institut für Chemische Energie­konversion in Mülheim an der Ruhr, kurz MPI CEC.

Foto: Evonik Industries/Robert Eikelpoth

Professor Waldvogel, die Chemieindustrie in der Europäischen Union will bis 2050 klimaneutral wirtschaften. Welche Rolle spielt dabei die Elektrochemie?

Prof. Siegfried R. Waldvogel: Dank der Elektrochemie können wir elektrischen Strom als Primärenergiequelle nutzen. Wir sind damit weniger abhängig von fossilen Quellen und verringern den CO2-Fußabdruck. Mehr noch: Wir werden weniger Rohstoffe benötigen, um chemische Substanzen herzustellen, und es entsteht weniger Abfall. Und mit ihrer Hilfe können Substanzen einfacher wiederverwendet werden. Es wird also leichter, in die Kreislaufwirtschaft einzusteigen.

Wie schnell kann diese Transformation gelingen?

Waldvogel: Es wird 20 bis 30 Jahre dauern, bis größere Teile der Chemieindustrie elektrifiziert sind. Aber es geht voran. Gerade in Deutschland tut sich sehr viel, etwa im Rahmen des Zukunftsclusters „Elektrifizierung Technischer Organischer Synthesen“, kurz ETOS. Dieses Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung läuft seit April 2023 – und viele Unternehmen sind dort vertreten. Die Umstellung wird ein schrittweiser Prozess sein, nicht alles kann sofort klappen. Aber es gibt bereits Bereiche, in denen wir schon heute zeigen können, dass es funktioniert und dass es sich lohnt. Dadurch wächst das Interesse an der Methode.

Die Zusammenhänge, die der Elektrochemie zugrunde liegen, sind schon lange bekannt. Warum erlebt sie gerade jetzt eine Renaissance?

Waldvogel: Zum einen haben Wirtschaft und Wissenschaft verstanden, dass aufgrund der Klimakrise schnell etwas passieren muss. Zum anderen gab es in den zurückliegenden Jahrzehnten viele Innovationen, die den Einsatz elektrochemischer Verfahren erleichtern. Wir haben hier eine disruptive Entwicklung etwa durch neue Membranen, also nicht nur eine graduelle Verbesserung, sondern einen Sprung nach vorn. So werden einige Elektroden heute aus nachhaltig hergestellten Kohlenstoffmaterialien produziert, die teure Edelmetalle oder giftiges Quecksilber ersetzen.

Der Chemiker Waldvogel lehnt im Max-Planck-Institut an einer Glovebox. In diesem „Handschuhkasten“ kann, da er gegenüber dem Arbeitsraum gasdicht abgeschlossen ist, in einer definierten Atmosphäre mit empfindlichen oder gefährlichen Substanzen gearbeitet werden.

Foto: Evonik Industries/Robert Eikelpoth

Derzeit hemmt der hohe Strompreis hierzulande die schnelle Verbreitung elektrochemischer Prozesse. Wie kann die Technologie wettbewerbsfähig werden?

Waldvogel: Im Moment kostet Strom in Europa in der Tat fünf-, sechsmal so viel wie in den USA, aber das dürfte sich ändern. Strom wird unsere Primärenergie der Zukunft sein. Windkraft und Photovoltaik machen ihn preiswerter– auch wenn das noch ein bisschen dauert. Stromspeichersysteme werden dazu beitragen, dass Strom künftig auch zu Zeiten zur Verfügung steht, in denen er heute noch knapp ist. Ich sehe in der mit regenerativem Strom betriebenen Elektrochemie die einzige Möglichkeit, chemische Reaktionen wirklich nachhaltig durchzuführen. Es lohnt sich also, weiter in Elektrochemie zu investieren, weil uns das einen Vorsprung gegenüber anderen Regionen verschafft.

Bei der Nutzung von grünem Strom ist die Flexibilisierung der Produktion ein wichtiges Thema: Kann die Elektrochemie hierzu einen Beitrag leisten?

Waldvogel: Das ist durchaus eine Option. Dazu müssten Anlagen aber anders gebaut werden. Der Begriff beschreibt die Idee, bisher konstant betriebene Produktionsprozesse flexibel an das Stromangebot anzupassen. So sollen sich Stromverbraucher wie Elektromotoren oder -heizungen flexibel hinzu- oder abschalten lassen, ohne dass das allzu starke Auswirkungen auf den Produktionsprozess hat. Mit Elektrolysezellen ginge das recht einfach. Auch einige Prozesse sind so robust, dass sie die Leistung problemlos verdoppeln oder verdreifachen können. Aber es wäre wichtig, die notwendige Peripherie von Anfang an groß genug zu gestalten. Sie müssten viel größere Puffer einbauen, als das bisher der Fall ist.

Was fasziniert Sie als Wissenschaftler an der Elektrochemie?

Waldvogel: Die Vielfalt der Möglichkeiten. Vor allem bei Reaktionen, die viel Energiezufuhr erfordern, ist die Elektrochemie häufig eine elegante Lösung. Chemische Bindungen bestehen aus Elektronen. Gibt man ein Elektron hinzu oder nimmt eins weg, werden diese Bindungen aktiviert. Bislang werden dafür oft Metalle oder andere Katalysatoren genutzt. Mit elektrischem Strom lassen sich Stoffe durch Wegnahme oder Hinzufügen von Elektronen viel stärker oxidieren beziehungsweise reduzieren als mit einem chemischen Reagenz. Auf einmal werden Reaktionen möglich, die wir vorher nicht durchführen konnten. Das Charmante an der Elektrochemie: Es werden Syntheseschritte eingespart oder weniger Reagenzien benötigt. Zudem werden die Prozesse auch sicherer.

Wie wollen Sie am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion die Elektrochemie vorantreiben?

Waldvogel: Wir arbeiten bildlich gesprochen an den weißen Flecken auf dieser wissenschaftlichen Landkarte. Unser Ansporn ist es, sehr viel besser zu sein als die traditionelle Chemie – indem wir die Synthese von Produkten vereinfachen oder ihre Aufarbeitung. Natürlich wollen wir auch, dass unsere Entwicklungen wirklich genutzt werden. Am Ende geht es also nicht nur darum, einen eleganten Prozess zu entwickeln. Wir müssen auch gute Argumente haben, die einen Betriebswirt überzeugen, ihn umzusetzen.

Wo liegen die Grenzen der Elektrochemie?

Waldvogel: Man muss sich immer den Einzelfall anschauen. Ammoniak etwa könnten wir prinzipiell elektrochemisch herstellen. Der Haken daran ist, dass dabei immer eine stark verdünnte wässrige Lösung entsteht, man meist aber wasserfreies Ammoniak weiterverarbeiten will. Das erhalten wir heute schon im Haber-Bosch-Verfahren, also durch die Synthese von Ammoniak aus Luftstickstoff. Hier ist das klassische Verfahren im Vorteil. Den größten Teil der Energie benötigt jedoch die Herstellung des für das Verfahren nötigen Wasserstoffs – und der ließe sich hervorragend durch Wasser-Elektrolyse herstellen. Entscheidend ist zudem, wofür das Ammoniak genutzt wird.

Sagen wir, wir machen Düngemittel daraus …

Waldvogel: Dann würden Sie also Nitrate herstellen. Es gibt erste Arbeiten, die zeigen, dass sich der Stickstoff elektrochemisch direkt zum Nitrat oxidieren lässt. Ganz ohne Umweg über das Ammoniak. Das zeigt, wie wichtig es ist, vom Ende her zu denken. Die Frage ist: Welches Produkt will man nutzen, und wie lässt es sich energetisch am besten herstellen?

Eignet sich Elektrochemie dann überhaupt für die Herstellung von Grundchemikalien?

Waldvogel: Grundsätzlich schon. Über Nitrate haben wir bereits gesprochen, das Verfahren hierfür steckt aber noch in den Kinderschuhen. Und auch von der kommerziellen Treibstoffherstellung sind wir weit entfernt. Dafür ist Strom jetzt noch viel zu teuer. Bei der Synthese organischer Verbindungen betritt man hingegen ein anderes Preissegment. Da ist, abhängig vom konkreten Produkt, schon vieles möglich. Neben dem Preis spielen manchmal auch ganz andere Überlegungen eine Rolle. Pharmaunternehmen etwa setzen heute für manche Prozesse teure und seltene Metalle wie Iridium oder Ruthenium als Katalysatoren ein. Viele dieser Metalle werden aus politisch wenig zuverlässigen Staaten bezogen. Deshalb ist es sinnvoll, über Alternativen nachzudenken.

Siegfried R. Waldvogel auf dem Gelände des Max-Planck-Instituts für Chemische Energie­konversion in Mülheim an der Ruhr.

Foto: Evonik Industries/Robert Eikelpoth

Jenseits wettbewerbsfähiger Strompreise: Was braucht es noch, damit die Elektrochemie ihr volles Potenzial entfalten kann?

Waldvogel: Wir müssen sicherstellen, dass wir gut ausgebildete Expertinnen und Experten haben und entsprechend die Ausbildung breiter aufstellen. Außerdem brauchen wir Firmen, die mehr Mut zeigen. Inzwischen ist allen klar, dass wir grünere Produktionsmethoden brauchen, weil wir sonst nicht diesen Wohlstand halten können.

Wir beurteilen Sie den Standort Deutschland im internationalen Vergleich?

Waldvogel: Recht gut, auch wenn es nicht so wahrgenommen wird. Gerade in der Herstellung von Grundchemikalien per Elektrosynthese ist Deutschland Technologieführer. Wenn es um praktikable Synthesen geht, die großindustriell genutzt werden, können wir so viel vorweisen wie fast kein anderes Land. Aber das muss man beibehalten und den Mut haben, in diese Richtung zu investieren. Ich gehe davon aus, dass es viele Neugründungen geben wird, gerade von Start-ups, die merken, dass große Firmen diese Lücke nicht füllen. Da sehe ich eine große Chance, um Jobs zu generieren.

Professor Waldvogel, wir bedanken uns für das Interview.

Zeitgleich zu diesem Interview erscheint in der Printausgabe 1/2-2025 der VDI energie + umwelt der Beitrag „Strom für den Kreislauf“. In diesem Beitrag beschreibt der Evonik-Fachmann Patrik Stenner, wie das Unternehmen Evonik elektrochemische Prozesse nutzen will, um Chemikalien herzustellen und die Kreislaufwirtschaft innerhalb des Unternehmens zu stärken.

Von Das Interview führte Dr. Ralph H. Ahrens

Dr. Ralph H. Ahrens ist Redakteur der VDI energie + umwelt