Stahlstäbe mit Strom vergüten
Ein niedersächsischer Stahlhersteller und -verarbeiter vergütet Stahlstäbe jetzt mit Ökostrom statt Erdgas. Das Unternehmen wird dadurch nicht nur klimafreundlicher: Da sich dank der eingesetzten Induktionsspulen die Temperaturen zur Vergütung sehr genau einstellen lassen, erhält er Stahlstäbe höherer Güte. Gleichzeitig verbessert das Unternehmen seine Klimabilanz und erhöht die Arbeitssicherheit.
Am 28. Februar 2024 feierte die Georgsmarienhütte GmbH (GMH) eine Premiere für sich: Der Stahlhersteller und -verarbeiter in Georgsmarienhütte südlich von Osnabrück weihte seine erste Einzelstabvergütungsanlage, EVA genannt, ein, in der Stahlstäbe vollautomatisch mit Strom vergütet werden. „Mit dieser Einzelstabvergütung schaffen wir die Basis für neue Märkte“, freut sich Alexander Becker, CEO der GMH-Gruppe, zu der das Unternehmen gehört. Die in der EVA vergüteten Stahlstäbe erfüllen noch höhere Festigkeits- und Zähigkeitsnormen als die, die in der alten Anlage vergütet wurden. Solche strapazierfähigen Stähle sind besonders in der Windkraftbranche heiß begehrt – aber auch im Fahrzeug- und Maschinenbau. Der CEO hofft, dass sich auch durch diese Anlage die schwierige wirtschaftliche Situation des Unternehmens verbessert. Und er hat zwei weitere Wünsche – dieses Mal an die politischen Rahmenbedingungen: „Wir brauchen einen günstigen Industriestrompreis und der Staat muss die Netzentgelte übernehmen.“
Stahl klimafreundlich herstellen und verarbeiten
Die GHM stellt bereits Stahl recht klimafreundlich her. Pro Tonne Stahl emittiert das Unternehmen etwa 0,4 t CO2. Und es soll noch weniger werden. 2030 will das Unternehmen nur 0,2 t CO2 pro Tonne Stahl emittieren und damit 89 % weniger als der heutige Durchschnitt. 2039, so der Plan, will die Georgsmarienhütte Stahl CO2-neutral herstellen und verarbeiten.
Recht klimafreundlich ist das Stahlwerk auch, weil es Schrott als Rohstoff im Elektrolichtbogenofen einschmilzt. Der Schrott wird zu einem großen Teil in den Hafen von Osnabrück, der über einen Stichkanal mit dem Mittellandkanal verbunden ist, angelandet. Er wird dann in Eisenbahnwaggons zum Firmengelände gebracht. Insgesamt erreicht 80 % des Schrotts das Unternehmen per Zug. Auch die Abwärme des Elektrolichtbogenofens wird genutzt: für Prozesse und die Wärmeversorgung im Unternehmen sowie auch im Fernwärmenetz der Stadt Georgsmarienhütte.
Effizient und sicher vergüten
Auch um die Stahlverarbeitung kümmert sich GMH. Ein großer Schritt in diese Richtung sind zwei neue Einzelstabvergütungsanlagen, kurz EVA I und EVA II genannt. EVA I ist jetzt in Betrieb. Dort werden seit Ende Februar 2024 Stahlstäbe mit einem Durchmesser von 20 bis 60 mm vergütet. Die Errichtung von EVA II für Stäbe mit einem Durchmesser von 35 bis 100 mm soll bis Anfang 2026 in Betrieb gehen.
Die Anlage EVA I ist etwa 40 m lang. Stahlstäbe aus der Stranggussanlage werden vollautomatisch über Rolllager in die Anlage gebracht. Jeder Stab wird auf einem Förderband langsam mit einer Geschwindigkeit von wenigen Zentimetern pro Sekunde durch die Anlage gefahren. Induktionsspulen, nur wenige Zentimeter von jedem Stab entfernt, heizen diesen auf. Auf diese Weise werden die Stäbe zielgerichtet behandelt.
Das Unternehmen spart dadurch Energie. Und: „Je genauer sich die Wärme einstellen lässt, desto höher ist die Qualität“, erklärt Marc-Oliver Arnold, der Werksleiter und Geschäftsführer der Georgsmarienhütte GmbH.
Exkurs Stahlvergütung
Wer Stahl „vergütet“, homogenisiert das innere Gefüge des Werkstoffs in drei Schritten: erst wird aufgeheizt, dann abgeschreckt und zum Schluss entspannt, oder „angelassen“, wie Fachleute sagen.
Beispiel Stahlstäbe: Die Stäbe werden je nach Stahlsorte und späterer Anwendung auf rund 900 °C und mehr aufgeheizt. In der EVA I geschieht dies auf den ersten 10 m der Anlage durch Induktionsspulen. Der rot glühende Stahl verbleibt – immer weiter transportierend – mehrere Minuten in diesem Zustand.
Im zweiten Schritt werden die Stäbe abgeschreckt. Bei EVA I geschieht dies durch das Abbrausen mit Wasser innerhalb weniger Sekunden auf Raumtemperatur. Dabei friert das Gefüge im Werkstoff sprichwörtlich ein.
Danach werden die Stäbe erneut aufgewärmt – dieses mal „kirschrot“-glühend auf knapp 700 °C. Hierbei ruckelt sich das homogenisierte Gefüge zurecht und Spannungen im Gefüge, die beim Abschrecken entstehen können, werden abgebaut. Dies geschieht in Georgsmarienhütte auf der letzten Strecke der Anlage mit den Induktionsspulen. Auch hier spielt die Temperatur eine Rolle. Wird auf 680 °C erwärmt, sind die Stähle sehr fest, aber weniger dehnbar, bei 720 °C werden sie weniger fest, doch dafür dehnbarer.
Zum Schluss kühlen die Stäbe an der Luft langsam wieder ab und werden zum Sägezentrum transportiert, wo die Enden abgeschnitten und die Stäbe auf Länge geschnitten werden.
Langfristig will das Unternehmen die EVA-Anlage vollständig mit Öko-Strom betreiben. Dann werden durch diese Anlage gegenüber der alten konventionellen Vergütungsanlage jährlich mehr als 1 000 t CO2 eingespart.
Nicht nur das: Die neue Anlage erhöht auch die Arbeitssicherheit und die Effizienz. In dem alten konventionellen mit Erdgas betriebenen Vergütungsofen mussten die Stäbe maschinell vorvereinzelt werden und anschließend dem Wärmebehandlungsaggregat über diverse Rollgänge zugeführt werden. Nach dem Vergüten mussten viele Stäbe zudem manuell nachgerichtet werden. Dieser arbeitsintensive und risikoreiche Richtprozess fällt mit der EVA nun weg. Da in der neuen Anlage auch deutlich weniger Ausschuss anfällt, erhöht sich die Effizienz.
Bessere Rahmenbedingungen …
Mit der neuen und der in Planung befindlichen zweiten EVA hofft das Unternehmen, seine Marktposition zu verbessern – auch, da es zurzeit nicht sehr rosig aussieht. Das Unternehmen konnte aufgrund gesunkener Nachfrage 2023 weniger Stahl herstellen als früher. Alexander Becker, CEO der GMH Holding, verweist hier auf die schlechteren Rahmenbedingungen in Deutschland auch gegenüber anderen EU-Staaten.
Dazu gehört vor allem die Preisgestaltung für Strom. So lagen die Megawattpreise zuletzt in Deutschland bei knapp mehr als 100 €, in Frankreich etwa bei der Hälfte und in den USA sogar zumeist deutlich unterhalb von 50 €/MWh.
Damit „klimafreundlich wirtschaftende Betriebe in Deutschland nicht benachteiligt werden“, hat Becker zwei große Wünsche an die deutsche Politik. Einmal wünscht er sich einen wettbewerbsfähigen Industriestrompreis.
… kommen nur zum Teil
Die Bundesregierung will den Strompreis für das produzierende Gewerbe senken. Sie hat im November 2023 im Strompreispaket angekündigt, die Stromsteuer für diese Unternehmen von 1,575 Ct/kWh auf das EU-zulässige Mindestmaß von 0,05 Ct/kWh zu senken. Das wäre für Becker zwar ein Schritt in die richtige Richtung, führt aber noch nicht zu dem Industriestrompreis von 6 Ct/kWh, den Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck 2023 angekündigt hatte.
Beckers zweiter Wunsch ist, dass der Staat Übertragungsnutzentgelte teilweise übernimmt. Dies hatte die Bundesregierung auch vorgesehen. Doch aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeshaushalt musste die Regierung sparen, und die geplante Bezuschussung in Höhe von 5,5 Mrd. € im Bundeshaushalt 2024 fiel kurzfristig weg. „Hier hat die Politik leider noch keine neue Lösung anzubieten“, bedauert Becker.
Die Finanzierung
Das Unternehmen investiert in die beiden neuen Einzelstabvergütungsanlagen insgesamt 21,5 Mio. €, davon 11,5 Mio. € für die Einzelstabvergütungsanlage EVA I. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat EVA I mit 880 000 € aus dem Förderprogramm „Dekarbonisierung in der Industrie“ unterstützt. Das Geld für dieses Programm stammt aus dem „Klima- und Transformationsfonds“ der Bundesregierung, der sich wiederum aus Erlösen des Europäischen Emissionshandels sowie der CO2-Bepreisung im Rahmen des nationalen Emissionshandels speist. Das BMWK fördert mit dem Programm Projekte in der energieintensiven Industrie, die prozessbedingte Treibhausgas-Emissionen möglichst weitgehend und dauerhaft senken. Diese Förderrichtlinie endete Ende 2023 und soll durch eine neue Förderrichtlinie und ein neues Anschluss-Förderprogramm, das „Bundesförderung Industrie und Klimaschutz (BIK)“ heißen soll, ersetzt werden. Das BIK soll noch bis Juni 2024 starten.
Die Georgsmarienhütte hat unter dem alten Programm noch einen zweiten Förderantrag für die EVA II gestellt. Hier wird, so ist aus dem BMWK zu hören, die Förderzusage noch im Frühjahr 2024 erfolgen. Das ist möglich, da die „alte“ Förderrichtlinie eine Übergangsvorschrift enthält, sodass bis zum Start des neuen Förderprogramms Projekte noch unter dem Programm Dekarbonisierung in der Industrie erfolgen können und keine Lücke entsteht.