Trotz steigender Preise mehr Strom aus Erdgas
Deutschland exportiert derzeit viel Strom, vor allem nach Frankreich. Anstatt – wie von der Politik gewollt – die Verstromung von Erdgas zurückzufahren, ist derzeit das Gegenteil der Fall.
Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, wird nicht müde, Bürger und Industrie zu drängen, Gas einzusparen. Stromlücken, die das Wetter bei Wind- und Solarstrom reißt, sollten nicht mehr mit Strom aus Erdgas gestopft werden, sondern mit Kohlestrom. Doch die Kraftwerksbetreiber haben im Juli deutlich mehr Strom aus Gas erzeugt als im Vorjahresmonat. 4036 GWh waren es, wie Daten des Portals Smard der Bundesnetzagentur zeigen: Satte 13,5 % mehr als im Juli 2021. Damit setzte sich fort, was sich schon im Mai abzeichnete, als die Produktion von Strom in Erdgaskraftwerken deutlich über der des Vormonats lagen. Und es geht weiter. Am 23. August zwischen 20 und 21 Uhr übertraf die Menge an Gasstrom sogar die an Kohlestrom. Das Verhältnis lag bei 9700 zu 9290 MWh.
Stromhunger in Frankreich
Grund für das deutliche Plus sind nach Einschätzung des Branchenverbands Zukunft Gas stark erhöhte Stromlieferungen ins Ausland. Zwar exportiert Berlin seit Jahren mehr Strom als es importiert – die Mengen sind aber zuletzt gestiegen. 2021 waren es allein fast 40 TWh, die die Schweiz, Österreich und die Niederlande abnahmen. Frankreich war da mit vergleichsweise mageren 4 TWh dabei.
Wie lässt sich das launische Wetter ausbremsen?
Das hat 2022 deutlich verändert. Im zweiten Quartal hat sich der Export nach Frankreich im Vergleich zum Vorjahr fast versechsfacht. „Diese Strommengen wurden zum Teil wohl in Gaskraftwerken produziert“, sagte ein Sprecher des Verbands. Wenn wenig Solar- und Windstrom erzeugt wird haben Kohle- und Kernkraftwerke alle Hände voll zu tun, die Lücken zu stopfen. Mehrbedarf können dann nur Gaskraftwerke decken.
„Nachbarschaftliche Solidarität“
Zwar sei das „aus Gas-Gesichtspunkten nicht wünschenswert“, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, unlängst in einer Talkshow bei Markus Lanz. Aber es habe etwas mit „nachbarschaftlicher Solidarität“ zu tun. Tobias Federico, Geschäftsführer der Energieberatungsagentur Energy Brainpool in Berlin, formuliert es etwas deutlicher. „Das höhere Ziel ist es im Moment, europaweit eine sichere Stromversorgung zu haben und einen Blackout zu vermeiden“, sagte er im Gespräch mit dem Münchner Merkur.
Schweizer Strompuffer könnte auch Deutschland helfen
Frankreichs Kernkraftwerke schwächeln
Dass Frankreich einen so hohen Importstrombedarf hat liegt daran, dass das Land vor allem von Kernkraftwerken abhängig ist. Sie liefern im Normalfall bis zu 70 % dessen, was im Land verbraucht wird. Doch „die Hälfte der 56 französischen Reaktoren ist derzeit nicht am Netz“, sagt Federico. Das liegt vielfach an Wartungs- und Reparaturarbeiten. Viele der übrigen laufen mit weniger als der Nennleistung, weil sie frischwassergekühlt sind. Zum einem fehlt es wegen der anhaltenden Dürre oft an Wasser, zum anderen sind die Flüsse, in die das Kühlwasser geleitet wird, bereits so warm, dass Gefahr für Tiere und Pflanzen besteht. Die Grenzwerte sind bereits angehoben worden, um einen Zusammenbruch der Stromversorgung zu verhindern, der sich auf ganz Westeuropa ausweiten könnte.
Angst vor der Stromkrise
Finanzminister Christian Lindner (FDP) forderte kürzlich seinen Kollegen Habeck auf, die Stromproduktion aus Gas zu stoppen, die die Energiekosten weiter antreibt. Zur Gas- dürfe keine Stromkrise kommen, sagte er mit Blick auf Deutschland und verband das mit der Forderung, die drei noch laufenden deutschen Kernkraftwerke, die Ende dieses Jahres abgeschaltet werden sollen, länger am Netz zu lassen. Doch dazu ist Habeck offenbar derzeit nicht bereit. Ein Verzicht auf die Verstromung von Gas könne zu Blackouts führen.
Hoffen auf Solidarität beim Erdgas
Ob unter diesen Umständen das 95-%-Speicherziel für Erdgas im November erreicht werden kann steht auf der Kippe, glaubt Netzagentur-Chef Müller, obwohl Deutschland im ersten Halbjahr 2022 mit 497 Mrd. kWh 15 % weniger Gas verbraucht hat als im Vorjahreszeitraum. Dieser Vorsprung könnte schrumpfen, doch die stromhungrigen Nachbarn hängen lassen geht auch nicht. Denn wenn Deutschland sie verärgert, könnten sich die, die Flüssiggasterminals haben wie Frankreich, im Winter rächen und Deutschland nichts abgeben.
Wolfgang Kempkens