Angemessener Abstand zum Störfallbetrieb
Wie sich der angemessene Abstand zwischen einem Störfallbetrieb und sonstigen schutzbedürftigen Bauten beziehungsweise Nutzungen berechnet und wie damit umzugehen ist, wenn dieser unterschritten werden soll, ist ein immer wiederkehrendes und praxisrelevantes Problem bei der Bauleitplanung als auch bei Genehmigungsverfahren. In letzter Zeit gab es immer wieder Gerichtsurteile, die entsprechende Handlungsanweisungen geben. Grundlegend war dabei das Verfahren „Mücksch“ vor dem Europäischen Gerichtshof im Jahr 2011.
In Artikel 12 der Seveso-II-Richtlinie – Richtlinie 96/82/EG – ist wortwörtlich vorgeschrieben, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, dass „in ihrer Politik der Flächenausweisung oder Flächennutzung und/oder anderen einschlägigen Politiken sowie den Verfahren für die Durchführung dieser Politiken langfristig dem Erfordernis Rechnung getragen wird, dass zwischen den unter diese Richtlinie fallenden Betrieben einerseits und Wohngebieten, öffentlich genutzten Gebäuden und Gebieten, wichtigen Verkehrswegen, Freizeitgebieten und unter dem Gesichtspunkt des Naturschutzes besonders wertvollen beziehungsweise besonders empfindlichen Gebieten andererseits ein angemessener Abstand gewahrt bleibt und dass bei bestehenden Betrieben zusätzliche technische Maßnahmen nach Artikel 5 ergriffen werden, damit es zu keiner Zunahme der Gefährdung der Bevölkerung kommt“. In Deutschland umgesetzt wurde dieses Abstands- und Trennungsgebot in § 50 Bundesimmissionsschutzgesetz. Es gilt sowohl im übergeordneten Bauplanungsrecht, also insbesondere bei der Aufstellung von Bauleitplänen, wie Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, als auch direkt in Genehmigungsverfahren, also beispielsweise einem Verfahren zur Erlangung einer Baugenehmigung in einem unbeplanten Gebiet. Fehlt es beispielsweise an einem Bebauungsplan, dann muss die zuständige Baubehörde den angemessenen Abstand zwischen einem Störfallbetrieb und dem zu genehmigenden Vorhaben selber festlegen und in ihrer Genehmigungsentscheidung berücksichtigen.
Angemessener Abstand
Der Begriff des angemessenen Abstandes ist zwar ein unbestimmter, aber anhand störfallspezifischer Faktoren fachtechnisch bestimmbarer Rechtsbegriff. Er ist konkret und genau berechenbar, was auch stets in einem ersten Schritt zu erfolgen hat. Einen Auslegungsspielraum oder eine Ermessensabwägung gibt es insoweit für die Behörde oder den Vorhabenträger demnach nicht. Die für die Abstandsberechnung maßgeblichen und einzuhaltenden Kriterien sind insbesondere niedergelegt im KAS-18 Leitfaden, den „Empfehlungen für Abstände zwischen Betriebsbereichen nach der Störfall-Verordnung und schutzbedürftigen Gebieten im Rahmen der Bauleitplanung – Umsetzung des § 50 BImSchG“ der Kommission für Anlagensicherheit beim Bundesumweltministerium. Dessen Vorgaben und Wertungen werden oftmals auch entsprechend herangezogen für Abstandsentscheidungen innerhalb von Genehmigungsverfahren.
Der angemessene Abstand ist jedenfalls im jeweiligen Einzelfall anhand aller relevanten störfallspezifischen Faktoren – insbesondere unter Berücksichtigung der vom Störfallbetrieb ausgehenden anlagenbezogenen Gefahrenpotenziale – festzulegen. Dabei handelt es sich beispielsweise um die Art der jeweilig eingesetzten gefährlichen Stoffe, die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schweren Unfalls, die Folgen eines etwaigen Unfalls für die menschliche Gesundheit und die Umwelt, die Art der Tätigkeit des geplanten Vorhabens samt der Intensität ihrer öffentlichen Nutzung sowie die Eingriffsmöglichkeiten von Notfallkräften bei einem Unfallereignis. Andererseits sind auch technische Maßnahmen zur Verminderung des Unfallrisikos und zur weiteren Begrenzung möglicher Unfallfolgen zu berücksichtigen. Dabei kann es sich um Maßnahmen innerhalb des Störfallbetriebs handeln, soweit diese dem Betreiber, beispielsweise in der Form nachträglicher Anordnungen, auferlegt werden können. Zusätzlich oder alternativ können aber auch Maßnahmen außerhalb des Störfallbetriebs in Betracht kommen, mithin solche, die sich an das Neuvorhaben richten. Denkbar sind etwa Nutzungseinschränkungen – zum Beispiel kein Publikumsverkehr auf Freiflächen – oder besondere bauliche Anforderungen an das an den Störfallbetrieb heranrückende Vorhaben – etwa nicht zu öffnende Fenster oder spezielle Belüftungssysteme –, sofern über diese Maßnahmen mögliche Schadensfolgen und damit auch die Angemessenheit des Abstandes positiv beeinflusst werden können.
Sozioökonomische Faktoren
Nachdem der angemessene Abstand zwischen dem betreffenden Störfallbetrieb und der schutzbedürftigen Nutzung des benachbarten Neuvorhabens errechnet und festgestellt wurde, ist gegebenenfalls – nämlich immer dann wenn der angemessene Abstand nicht ausreicht beziehungsweise unterschritten werden soll – in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die schutzwürdige Planung gleichwohl innerhalb des angemessenen Abstandes erfolgen soll und kann. Es ist grundsätzlich möglich, ein schutzbedürftiges Neuvorhaben auch innerhalb des eigentlich angemessenen Abstandes zuzulassen. Es handelt sich dabei um eine Art Ausnahmeprüfung. Diese erfolgt anhand der Auflistung und Gewichtung von sozioökonomischen Faktoren. Diese sind nicht-störfallbezogen, sondern es handelt sich im jeweiligen Einzelfall um besonders bedeutsame Belange sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Art, beispielsweise außergewöhnliche Wohnverhältnisse oder die Schaffung zahlreicher neuer Arbeitsplätze, die für eine Vorhabenzulassung und damit eine Abstandsunterschreitung sprechen. Die sozioökonomischen Faktoren haben also keinerlei Einfluss auf die Errechnung und Festsetzung des angemessenen Abstands an sich. Sie können vielmehr ausnahmsweise dafür streiten, dass der eigentlich angemessene Abstand unterschritten und das schutzbedürftige Neuvorhaben innerhalb von diesem realisiert werden kann. Dabei müssen die sozioökonomischen Belange aber von so hohem Gewicht sein, dass eine Überwindung beziehungsweise Einschränkung des eigentlich geltenden Trennungsgrundsatzes möglich wird.
Stand der Sicherheitstechnik
Bei der Berechnung des angemessenen Abstandes hat der allgemeine Stand der Sicherheitstechnik zugrunde gelegt zu werden. Durch die Einkalkulierung eines entsprechend hohen Sicherheitsniveaus wird der angemessene Abstand entsprechend verringert. Dies gilt selbst dann, wenn dieser Stand der Technik und die generellen störfallrechtlichen Anforderungen in dem betroffenen Störfallbetrieb (noch) nicht umgesetzt sein sollten. Insoweit besteht der Grundsatz, dass der angemessene Sicherheitsabstand oder gar eine Ausweitung von diesem nicht dazu dienen soll, den Betreiber von seinen dynamischen immissionsschutz- und störfallrechtlichen Pflichten zu befreien. Hieraus wird deutlich, dass der angemessene Abstand also kein Ausgleich für ein vermeintlich niedriges Sicherheitsniveau, sprich die Unterschreitung üblicher Sicherheitsanforderungen nach dem Stand der Technik, ist. Auch die generelle beziehungsweise potenzielle Erweiterungsmöglichkeit eines bestehenden Störfallbetriebs ist nicht geschützt. Das abstrakte Interesse des Betreibers auf betriebliche Entwicklung und Erweiterung ist damit eingeschränkt; unklare oder unverbindliche Absichtserklärungen reichen nicht aus. Ein betriebliches Erweiterungsinteresse kann nur dann Berücksichtigung in einer Vergrößerung des angemessenen Abstandes finden, wenn der Störfallbetrieb seine Erweiterungsabsichten und -pläne bereits ziemlich genau und konkret darlegen kann und damit eine tatsächliche Erweiterung naheliegt.
Fazit und Zusammenfassung
Die beschriebene Problematik des angemessenen Abstandes betrifft insbesondere die Konstellation zwischen einem bestehenden Störfallbetrieb und der beabsichtigten Neuansiedlung einer schutzbedürftigen Nutzung. Wenn sich ein entsprechendes Verfahren zur Aufstellung eines Bauleitplans oder ein Genehmigungsverfahren anbahnt, ist es unerlässlich, dass der Betreiber des Störfallbetriebs umgehend reagiert und sich unter Zuhilfenahme von juristischer Beratung aktiv in das jeweilige Verfahren einbringt. Dabei hat er insbesondere den Stand der Sicherheitstechnik in seinem Anlagenbetrieb und etwaige Erweiterungsmöglichkeiten und -pläne mit in den Blick zu nehmen. Entsprechendes gilt für die planende Gebietskörperschaft oder die Genehmigungsbehörde. Fehler im Zusammenhang mit der Angemessenheit des Sicherheitsabstandes führen schnell zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung eines Bebauungsplans oder eines Genehmigungsbescheids. Auch durch die anstehende Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie wird sich an dieser Problematik nichts ändern.
RA Volker Hoffmann, Hoffmann Liebs Fritsch & Partner Rechtsanwälte mbB, Düsseldorf, volker.hoffmann@hlfp.de