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Neue Flexibilität in der Fertigung 22.04.2025, 16:00 Uhr

„Kognitive Robotik wird zum Wendepunkt“

Die Automatisierung steht vor einem Paradigmenwechsel. Mit der Entwicklung hin zur kognitiven Robotik agieren Maschinen zunehmend autonom, adaptiv und intelligent. Wie funktioniert das und in welchen Bereichen kann die Industrie bereits jetzt profitieren?

MAiRA

Für die Mensch-Roboter-Interaktion sind kognitive Fähigkeiten essenziell. Sie entstehen dank bahnbrechender Fortschritte in den Bereichen Umweltwahrnehmung, Antriebs- und Steuerungstechnologie, Materialwissenschaft, mechanischem Design und künstlicher Intelligenz.

Foto: Neura Robotics

Was bislang nur in Hightech-Fabriken denkbar war, hält inzwischen in immer mehr Branchen Einzug. Kognitive Roboter versprechen nicht nur Effizienzgewinne, sondern verändern die Art, wie Mensch und Maschine zusammenarbeiten. Dies reicht von der Montageassistenz über die Logistik und sogar bis hin bis zur Pflege. David Reger, CEO der Neura Robotics GmbH, wird zu diesem Thema auf dem 26. VDI-Kongress Automation am 1. und 2. Juli in Baden-Baden referieren.

Das 2019 gegründete Unternehmen aus Metzingen bei Stuttgart hat es sich zum Ziel gesetzt, die Welt der Robotik zu revolutionieren und Roboter mit Menschen einander näher zu bringen – und das ganz ohne kostspielige Sicherheitssysteme. Heute arbeiten mehr als 300 Teammitglieder aus über 35 Ländern an fortschrittlichen Technologien in den Bereichen Umgebungswahrnehmung, Antriebstechnologie, Steuerungstheorie, Werkstofftechnik, mechanische Konstruktion und künstliche Intelligenz. Im Vorfeld des Kongresses hat David Reger Einblicke in die Arbeiten gegeben und Fragen beantwortet.

David Reger ist CEO (Chief Executive Officer) der Neura Robotics GmbH.

Foto: Neura Robotics

VDI-Z: Herr Reger, Sie sprechen auf dem VDI-Kongress über kognitive Robotik als Wendepunkt. Welche disruptiven Veränderungen erwarten Sie dadurch für die Automatisierung?

David Reger: Die kognitive Robotik ermöglicht es Robotern, ihre Umgebung wahrzunehmen, zu verstehen und darauf zu reagieren. Sie können komplexe Aufgaben selbstständig ausführen und sich an veränderte Bedingungen anpassen, ohne ständige Neuprogrammierungen zu benötigen. Dadurch wird die kognitive Robotik die Flexibilität in der Produktion drastisch erhöhen und adaptive Fertigungssysteme möglich machen, die sich schnell an neue Produkte oder Varianten anpassen können. Zudem kann sie den Fachkräftemangel abpuffern, indem sie Menschen in vielen Bereichen unterstützt und entlastet.

Sortieren von Rohren: Kognitive Roboter können selbst komplexe Aufgaben selbständig ausführen und sich an veränderte Bedingungen anpassen.

Foto: Neura Robotics

Damit ist die kognitive Robotik ein Wendepunkt in der Automatisierung, denn sie hat das Potenzial, ganze Branchen zu verändern und den Innovationsstandort Deutschland zu stärken.

VDI-Z: In welchen Anwendungsfeldern sehen Sie derzeit das größte Potenzial für kognitive Robotik? Im Speziellen auch für einen frühen Rollout?

David Reger: Die größten Chancen für die kognitive Robotik sehe ich derzeit in der Industrie, insbesondere in der Automobilproduktion. Hier können kognitive Roboter wie „MAiRA“ oder auch der humanoide Roboter „4NE-1“ die Effizienz steigern, indem sie Aufgaben übernehmen, die sich bisher nur sehr schwierig automatisieren ließen – etwa weil die Bauteile eine zu komplexe Form haben oder die Montage zu schwierig ist. Gleichzeitig können kognitive Roboter flexibel auf wechselnde Anforderungen reagieren. Darüber hinaus kann die Automobilbranche, die in vielen Bereichen der Automatisierung bereits sehr fortgeschritten ist, ein neues Effizienz-Level erreichen und wieder international konkurrenzfähig werden.

Ein weiteres vielversprechendes Anwendungsfeld ist die Logistik. Kognitive Roboter können hier durch ihre Fähigkeit, autonom zu lernen und sich anzupassen, Prozesse optimieren und Engpässe beseitigen.

Flexible Intralogistik: Dank eines umfassenden Sensorpakets kann der „MAV“ in jeder Innenraumumgebung autonom navigieren und Materialien passgenau handhaben.

Foto: Neura Robotics

Auch im Dienstleistungssektor, etwa in der Pflege oder der Gastronomie, sehe ich großes Potenzial für einen frühen Rollout. Roboter könnten hier Menschen entlasten und gleichzeitig die Qualität der Dienstleistungen verbessern.

Durch ihre einfache Bedienbarkeit und den Wegfall teurer Peripherie sind kognitive Roboter zudem für Unternehmen attraktiv, die bisher keine Automatisierung in Betracht gezogen haben. Es gibt also zahlreiche Use Cases in verschiedensten Branchen.

VDI-Z: Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Herausforderungen in der Entwicklung kognitiver Robotik – ob in Bezug auf Hard- oder Software?

David Reger: Eine der größten Herausforderungen der Branche besteht in der Verfügbarkeit qualifizierter Trainingsdaten, denn KI-basierte Roboter müssen aus realen Erfahrungen lernen, um zuverlässig und effizient zu arbeiten. Die großen LLMs und Foundational Models sind nicht zuletzt deswegen aktuell hauptsächlich in Text, Bild und Video so erfolgreich, weil das Internet hier frei verfügbare Daten in großer Fülle bietet. Daten aus physischer Interaktion mit realen Menschen und Objekten, sei es in der Industrie- oder Alltagswelt, sind dagegen noch vergleichsweise rar.

Neura Robotics punktet hier jedoch mit einem großen internationalen Partnernetzwerk, in dem Unternehmen unsere kognitiven Roboter einsetzen und von einem gemeinsamen Pool mit realen, praxisnahen Daten profitieren können. Mit eigener Technologie und Unterstützung von Technologie aus dem „NVIDIA Early Access Program“ trainieren wir so industrie-relevante Modelle, für die es bislang wenige oder keine verfügbaren Trainingsdaten gibt. Mit expliziten Data Sharing Agreements und Techniken wie „Federated Learning“ stellen wir dabei sicher, dass Daten- und IP-Schutz immer gewährleistet sind.

VDI-Z: Wie wird sich das Zusammenspiel von maschinellem Lernen, Sensorik und Echtzeit-Datenverarbeitung weiterentwickeln?

David Reger: Tatsächlich orientieren wir uns dahingehend stark am menschlichen Vorbild, insbesondere an der Art und Weise, wie unser Nervensystem und Gehirn zusammenarbeiten. Wir haben unsere KI-Architektur daher in drei Schichten aufgebaut, die die verschiedenen Ebenen der menschlichen Informationsverarbeitung nachahmen.

Die erste Ebene besteht aus einer lokalen Sensorik und kleinen KI-Modellen. Sie ist vergleichbar mit den Reflexen des menschlichen Körpers und ermöglicht blitzschnelle, instinktive Reaktionen auf unmittelbare Reize. Zum Beispiel könnte ein Roboter sofort reagieren, wenn er eine heiße Oberfläche berührt, ohne dass eine umfangreiche Datenverarbeitung erforderlich ist. Die zweite Ebene nutzt ein größeres KI-Modell und ist für komplexere Aufgaben zuständig, wie das Verstehen der Umgebung und die Planung von Handlungen. Sie entspricht in etwa den höheren Funktionen unseres Gehirns, die für bewusste Entscheidungen und Problemlösungen verantwortlich sind. Die dritte und umfangreichste Ebene ist eine cloudbasierte KI. Diese Schicht wird für die anspruchsvollsten Aufgaben eingesetzt, die über die unmittelbaren Fähigkeiten des Roboters hinausgehen. Sie ermöglicht es dem Roboter, auf ein enormes Wissensreservoir zuzugreifen und komplexe Probleme zu lösen – ähnlich wie Menschen externe Ressourcen oder Expertenwissen nutzen.

Diese mehrschichtige Architektur gestattet es den Robotern, flexibel und effizient auf verschiedene Situationen zu reagieren. Sie können sowohl schnelle, instinktive Handlungen ausführen als auch komplexe Aufgaben bewältigen, die tieferes Nachdenken erfordern. Zudem erlaubt die Vernetzung über die Cloud ein kollektives Lernen: Wenn ein Roboter eine neue Fähigkeit erlernt, kann dieses Wissen sofort auf andere Roboter übertragen werden.

VDI-Z: Ein zentrales Thema Ihres Vortrags ist das Zusammenspiel zwischen Mensch und Roboter. Wie werden kognitive Systeme diese Interaktion verändern?

David Reger: Kognitive Systeme werden die Mensch-Roboter-Interaktion grundlegend verändern und sie natürlicher, sicherer und produktiver gestalten. Sie ebnen den Weg für eine echte Partnerschaft zwischen Mensch und Maschine in vielen Anwendungsbereichen.

Der Automationsexperte verspricht dank Robotereinsatz eine neue Flexibilität in der Fertigung – mit Fokus auf der Mensch-Roboter-Interaktion.

Foto: Neura Robotics

So können kognitive Roboter beispielsweise aufgrund fortschrittlicher Sensorik und KI-Funktionen ihre Umgebung wahrnehmen und verstehen. Sie erkennen Gesichter und Objekte – und sogar Emotionen. Dies erlaubt eine natürlichere Kommunikation zwischen Mensch und Roboter durch Sprache, Gestik und Mimik, ähnlich der Interaktion zwischen Menschen. Darüber hinaus können kognitive Roboter aus Erfahrungen lernen und ihre Leistung kontinuierlich verbessern. Sie passen sich an neue Situationen an und treffen autonome Entscheidungen. Dies führt zu einer flexibleren und effizienteren Zusammenarbeit, bei der der Roboter als echter Teampartner agiert.

VDI-Z: Der Markt für Robotik und Automatisierung entwickelt sich hoch dynamisch. Wie positioniert sich Neura Robotics in diesem Wettbewerbsumfeld?

David Reger: Seit unserer Gründung 2019 haben wir uns auf die kognitive Robotik fokussiert und den ersten kognitiven Cobot der Welt auf den Markt gebracht. Doch was wir wirklich erschaffen haben, ist eine Technologieplattform, die bereits vier der zehn größten Roboterhersteller der Welt für ihre eigenen Lösungen nutzen. Wir verbinden die globalen Robotik-Player und hebeln die Möglichkeiten. Unser größter Trumpf ist unser „Neuraverse“: ein perfekt organisiertes Technologie-Ökosystem, das alle miteinander verbindet, die Roboter bauen, einsetzen oder für bestimmte Tätigkeiten trainieren und optimieren wollen. Also Anwender, Robotik-Spezialisten, Programmierer und Unternehmer. Robotik ist dank des Neuraverse erstmals völlig skalierbar.

Zu den wichtigsten Säulen gehören Hardware und Sensorik einer neuen Generation, die wir selbst entwickeln und bauen – abgestimmt auf „Neuron OS“, unser Roboter-Betriebssystem, das unabhängig von der Bauform des Roboters sowohl kognitive als auch physische Fähigkeiten steuert. Gleichzeitig verbindet es Roboter mit einem Netzwerk aus Wissen und Erfahrungen, das ständiges Lernen und Sicherheit gewährleistet. Schnittstellen und Tools, die den Entwicklungspartnern – vom Unternehmen bis zur Einzelperson – offenstehen, sorgen für eine nie dagewesene Skalierung der Robotik für und in allen Bereichen des Lebens.

Human-centric Automation: Unter diesem Motto kommt die Fachwelt der Mess- und Automatisierungstechnik am 1. und 2. Juli 2025 in Baden-Baden zu ihrem alljährlichen Leitkongress zusammen. Der 26. „VDI-Kongress Automation“ beschäftigt sich mit neuesten Themen aus Industrie, Forschung und Wissenschaft und rückt dabei insbesondere das Thema Künstliche Intelligenz in den Fokus.

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Von Neura Robotics / BE