Agile Methoden revolutionieren die Fahrzeugproduktion
Effizienz und Präzision der Produktion sind in der Automobilindustrie entscheidende Erfolgsfaktoren. Am Montageband ist jeder Arbeitsschritt und jeder erforderliche Handgriff sekundengenau getaktet – was notwendige Änderungen deutlich erschwert.
Auch der Platzbedarf und die Werkerdichte sind in der Automobilindustrie bis auf den Quadratzentimeter genau berechnet. Noch „spannender“ wird es, wenn mehrere Modelle und Derivate einer Fahrzeuglinie am selben Montageband gefertigt werden. In einer solchen Situation zusätzliche Arbeitsschritte zu integrieren – ohne die Fertigung zu stoppen, den Platzbedarf zu erhöhen oder die Taktung zu verändern – ist eine hochkomplexe Herausforderung.
Vorgabe: Neue Prüfvorgaben in laufender Produktion einführen
Bei einem großen deutschen Sportwagenhersteller war genau das dennoch unumgänglich, weil eine neue Richtlinie eine zusätzliche Prüfung sämtlicher Verbindungen verlangte. Um diese Aufgabe zu stemmen, entschieden sich die Verantwortlichen, die Integration der nötigen neuen Arbeitsschritte als agiles Projekt anzugehen. Gemeinsam mit einem Beratungsunternehmen, das sich auf komplexe mechatronische Projekte spezialisiert hat, gelang es, die Umsetzung der neuen Richtlinie bei laufender Produktion zu integrieren.
Eine zusätzliche Prüfung jeder einzelnen Verbindung in der Fahrzeugmontage verursacht tatsächlich einen enormen Zusatzaufwand. Unter der Vorgabe, dass weder die Montagetaktung noch die Platzbedarfe verändert werden dürfen, bedeutet dies: Die Momente sind exakt zu nutzen, in denen die einzelnen Verbindungen frei zugänglich sind. Gleichzeitig darf kein anderer Arbeitsschritt durch die Prüfung gestört werden.
Alles dies geschieht vor dem Hintergrund, dass dabei pro Fahrzeug mehrere Hundert Verbindungen betroffen sind. Die automatische Auswertung der Prüfungsergebnisse muss dabei ebenso reibungslos in die bestehenden Abläufe integriert werden, wie der Umgang mit fehlerhaften Verbindungen. Dies macht die außergewöhnliche Komplexität der Aufgabe deutlich. Umso größer war der Erfolg, dass das anspruchsvolle Einführungsprojekt mithilfe der Agilitätsexperten des Eschborner Beratungsunternehmens CO-Improve nicht nur reibungslos, sondern auch in vergleichsweise kurzer Zeit gelang.
Agilität braucht Relevanz
Hilfreich war, dass der Vorstand des Automobilherstellers zur Einführung agiler Arbeitsweisen bereits im Jahr 2017 einen Rahmenvertrag mit verschiedenen Beratern für das agile Coaching abgeschlossen hatte und auch schon ein Transformationsteam mit Mitgliedern aus allen wichtigen Fachbereichen existierte. Dennoch hatten sich von den bisher gestarteten agilen Pilotprojekten nur wenige als echter Erfolg erwiesen. Das ist nicht ungewöhnlich. Denn die Einführung agiler Arbeitsweisen verlangt ein Umdenken und tief greifende Veränderungen auf unterschiedlichen Unternehmensebenen. Solange ein Projekt nicht wirklich wichtig ist, erweist es sich häufig als sehr schwierig, diese notwendigen Veränderungen herbeizuführen. Beim Projekt „Implementierung der neuen Montagerichtlinie“ konnte an der Relevanz für das Unternehmen kein Zweifel bestehen. Entsprechend groß war auch die Unterstützung durch die verantwortlichen Führungskräfte.
Die beim Projekt involvierte, 2012 gegründete Firma CO Improve (www.co-improve.com) hat sich von Beginn an das Ziel gesetzt, Fach-, Branchen- und Beratungskompetenz so mit professionellem Veränderungsmanagement zu verbinden, dass sich Verbesserungslösungen bestmöglich implementieren lassen. Die Produktentstehung wird auf diese Weise dauerhaft und unumkehrbar leistungsfähiger aufgestellt. Der Spezialist für alle managementrelevanten Themen rund um die Produktentstehung positioniert sich mit einem ganzheitlichen Lösungsangebot zwischen den großen Beratungshäusern und den Spezialisten für Einzelthemen der Produktentstehung. Kunden sind vor allem größere mittelständische Unternehmen und Konzerneinheiten.
Mit Automotive-Expertise Anforderungen präzise definieren
Der für die Umsetzung der neuen Richtlinie zuständige Fachbereich „Operations“ wählte aus dem Berater-Pool das Unternehmen CO-Improve aus, weil dessen Berater als besonders methoden-versiert sowie als Experten für anspruchsvolle Aufgaben galten. Gemeinsam mit dem Experten für die Verbindungstechnik aus der Montage-Planung, der die Rolle des „Product Owners“ übernahm, machte sich der agile Coach umgehend daran, die Anforderungen im sogenannten „Product Backlog“ zu formulieren.
Anders als in einem konventionellen Lastenheft werden im agilen Backlog konsequent Priorisierungen vorgenommen, um die Komplexität der Aufgabe handhabbar zu machen. Die definierten Anforderungen und die vorgenommene Priorisierung werden im Projektverlauf kontinuierlich überprüft und dynamisch an den Projektfortschritt angepasst. Entscheidend ist dabei außerdem die eindeutige und „saubere“ Formulierung aller zu erfüllenden Anforderungen.
Konzeptentwicklung auf Expertenebene
Ein neu gebildetes interdisziplinäres Team entwickelte dann ein erstes Konzept, um die neue Richtlinie zur Überprüfung der Verbindungen in den Produktionsprozess zu integrieren. Dabei wurde das Team von dem CO-Improve-Berater in der Anwendung der agilen Arbeitsmethode „Scrum“ gecoacht. Darüber hinaus übernahmen der Berater die Rolle des „Scrum Masters“, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
Hürden benennen und beseitigen
In dieser Rolle hatten die Agilitätsexperten gerade zu Beginn des Projekts einiges zu tun. So zeigte sich zum Beispiel, dass die zur Verfügung stehenden Arbeitskapazitäten bei weitem nicht ausreichen würden, um die komplexe Aufgabe in einer angemessenen Zeit zu lösen. Tatsächlich konnten die neun Development-Team-Mitglieder teilweise gerade mal 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für das Projekt aufwenden. Obwohl das Team großen Einsatz zeigte und immer wieder Ideen entwickelte, um noch effizienter zu arbeiten, konnten sie ihre Zwischenziele und den gewünschten Arbeitsfortschritt nicht erreichen.
Anhand eines sogenannten „Burn-up Charts“ verdeutlicht der Product Owner gemeinsam mit dem Berater den Stakeholdern, dass sich bei gleichbleibenden Kapazitäten die Differenz zwischen prognostizierten Fertigstellungsraten und der tatsächlich geleisteten Arbeit unweigerlich von Sprint zu Sprint vergrößern würde. Die anschauliche Darstellung zeigte Wirkung. Dank der Unterstützung der Stakeholder wurde den Team-Mitgliedern deutlich mehr Arbeitszeit für das Projekt zur Verfügung gestellt.
Durch kleine Schritte schneller zum Ziel
Diese Maßnahme zahlte sich aus. Bereits nach sechs Wochen Projektarbeit konnte als „Minimum Viable Product“ (MVP) die erste Pilotanwendung an einem eingegrenzten Abschnitt des Montagebands mit ca. 25 Verbindungen in der laufenden Produktion gestartet werden. Jetzt galt es zu analysieren, wie sich die neu integrierten Arbeitsschritte auf die Produktion auswirkten: Stimmte die Berechnung der Arbeitswege? Waren die Verbindungen tatsächlich gut erreichbar? War die körperliche Belastung für die Prüfer zumutbar? Reichte die Zeit zur Prüfung und Auswertung aus? Konnten ggf. Fehler behoben werden, ohne die Produktion aus dem Takt zu bringen?
Um alle diese Fragen im Detail zu klären, holte das Entwicklungsteam in der 14-tägigen Testphase immer wieder das differenzierte Feedback aller am Produktionsprozess Beteiligten ein. Dazu zählten zum Beispiel Montagemitarbeiter, Montageleiter, Vorarbeiter, Planer und Qualitätsmanager, die alle ihre Erfahrungen mit einbrachten.
Iterative Optimierung bis zum Roll-out
Auf dieser Grundlage wurde das Konzept überarbeitet und optimiert. Anders als konventionelle Methoden, setzt die agile Entwicklung auf iterative Schritte statt einer einzigen Konzeptphase. Die werden dann mit einem „Big Bang“ in der gesamten Produktion umgesetzt. Entsprechend wurde das Testfeld für diese Aufgabe schrittweise erweitert und immer wieder angepasst. Bereits nach der dritten Testphase konnte der Roll-out auf die gesamte Montage stattfinden. Insgesamt wurde die hochkomplexe Aufgabe innerhalb von acht Monaten erfolgreich gelöst.
Zukunft steht im Zeichen der Agilität
Unternehmensintern hat der agile Erfolg für ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und positive Resonanz gesorgt. Denn über die eigentliche Problemlösung hinaus ist es in diesem Projekt gelungen, eine neue Qualität an Problemlösekompetenz, Geschwindigkeit und interdisziplinärer Kooperation zu etablieren. Die verdiente Anerkennung dieses Erfolgs drückte sich auch darin aus, dass der Product Owner zu einer Review-Präsentation bei der Werksleitung eingeladen wurde.
Für die Zukunft plant der Sportwagenhersteller eine weitere agile Umgestaltung von Prozessen. So soll beispielsweise gemeinsam mit CO-Improve die gesamte Montage so umgestaltet werden, dass E-Autos und Verbrenner parallel montiert werden können.
Das könnte Sie auch interessieren:
Vielfältige Herausforderungen beim Reinigen im E-Fahrzeugbau
Cora Rosenkranz arbeitet als IT-Journalistin für Wordfinder in Schenefeld (Foto: Wordfinder).
Gerrit Gerland ist Leitender Berater bei CO Improve in Eschborn.