Menschliches Empfinden für den Computer dank sensitiver Dummys
In der virtuellen Applikation liegt die Zukunft des Klimakomforts. Damit die Reichweite in der E-Mobilität nicht leidet und der Fahrer dennoch eine angenehme Fahrt bei jeder Witterung hat, setzt ein Engineering-Dienstleister auf eine besondere eigenentwickelte Lösung.
Mit der Einführung der Elektromobilität gewinnen die Themen Klimatisierung und Klimakomfort massiv an Bedeutung. Denn anders als beim Verbrennungsmotor, der zum Heizen stets ausreichend Abwärme zur Verfügung stellen kann und alle elektrischen Verbraucher im Innenraum über den Generator betreibt, bezahlt der Fahrer eines E-Autos jede benötigte Heiz- oder Kühlleistung teuer mit potentieller Reichweite. Hinzu kommt, dass aufgrund der steigenden Konkurrenz in der Branche der thermische Komfort in der Fahrzeugkabine zunehmend als Differenzierungsmerkmal in den Fokus rückt.
Ziel: Objektivere Resultate erzielen, Entwicklungszeit einsparen
Umso wichtiger wird die Optimierung des Thermomanagements hinsichtlich seiner Qualität und Effizienz. Hierfür sind bisher langwierige Entwicklungsprozesse nötig, deren Ergebnisse stark von der subjektiven Empfindung der beteiligten Applikateure beeinflusst werden. Denn diese bewerten den thermischen Komfort im Fahrzeug schlussendlich. Ein Weg muss gefunden werden, um die Entwicklung der Klimatisierung und des Komforts zu „objektivieren“. ARRK Engineering, München, arbeitet deshalb daran, die komplexen thermischen Prozesse mithilfe von Hardware- und Software-Dummys zu simulieren sowie ein Komfort-Lastenheft zu erstellen. Basierend auf diesen Ergebnissen, soll die Applikationsarbeit zukünftig weitgehend virtualisiert werden. Somit lässt sich nicht nur ein objektiveres Ergebnis erzielen – auch Entwicklungszeit sowie -kosten werden eingespart.
Der Dienstleister (www.arrk-engineering.com) ist ein global aktiver Entwicklungspartner für die Automobil- und Mobilitätsindustrie – von der Konzeptionsphase über die Serienentwicklung bis hin zu Validierung und Systemintegration von mechanischen und elektronischen Komponenten. Seit über 50 Jahren unterstützt das Unternehmen mit rund 1.600 Ingenieuren an Standorten in Deutschland, Rumänien, den Niederlanden, Japan und China seine namhaften Kunden. Die Kompetenzen liegen in Elektronik & Software, CAE, Material, Akustik, Composite, Karosserie & Hochvoltspeicher, Antrieb, Fahrwerk, Interieur & Exterieur, optische Systeme, passive Sicherheit und Thermomanagement.
Intelligente Klimasysteme machen E-Autos attraktiver
Laut des „LeasePlan Mobility Insights Report“ vom Februar 2021, bei dem insgesamt rund 5.400 Personen aus 21 europäischen Ländern sowie den USA interviewt wurden, gaben 34 Prozent der Teilnehmenden an, die begrenzte Reichweite schmälere ihr Interesse an einem E-Auto. In Portugal und Deutschland „leiden“ sogar mehr als sechs von zehn Befragten unter der sogenannten „Reichweitenangst“ (Range anxiety) in Bezug auf die Elektromobilität. Während beim konventionell angetriebenen Fahrzeug in der Regel alle elektrischen Verbraucher über die Lichtmaschine – oder, wie die Klimaanlage, direkt vom Verbrennungsmotor – betrieben werden und die Reichweite einer Tankfüllung somit meist nicht merklich verringern, versorgt das E-Auto alle Funktionen – von der Beschleunigung bis zum Bord-Infotainment – aus derselben Energiequelle. Daher ist es für die Elektromobilität essentiell, die Thermomanagementsysteme im Fahrzeug so effizient und „intelligent“ wie möglich zu gestalten, um die real zur Verfügung stehende Reichweite zu maximieren.
Neben dieser Thematik lässt sich in den vergangenen Jahren ein weiteres Phänomen beobachten: Unter anderem wegen der wachsenden E-Mobility-Start-up-Szene steigt die Konkurrenz in der Automobilbranche rasant an. Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit wird vor allem auf dem asiatischen Markt, jüngst aber auch in Europa und den USA, von Entwickler- wie Kunden-Seite immer mehr Wert speziell auf den Komfort im Fahrzeuginnenraum gelegt. Nicht zuletzt wird das autonome Fahren bisherige Klimatisierungskonzepte revolutionieren – indem sich die Insassen beispielsweise gegenübersitzen, anstatt nach vorne gewandt, was die Notwendigkeit einer völlig anderen Verteilung der Luftströme in der Fahrgastzelle nach sich zieht. Daher ist es notwendig, eine Virtualisierungsstrategie zu entwickeln, um neue Thermomanagementkonzepte deutlich schneller und zugleich besser abbilden zu können.
Effizientere Entwicklungsprozesse dank Virtualisierung
Die Virtualisierung hat zu einem gewissen Grad längst Einzug in die Thermomanagemententwicklung gehalten. Dennoch hängt weiterhin ein Großteil der umfassenden Feinabstimmung vom individuellen Empfinden der Applikateure ab, die sich bei der Bewertung bislang nur sehr bedingt auf objektive Messergebnisse stützen können. Die hierfür notwendigen Applikationsfahrten liefern aktuell vor allem subjektive Ergebnisse. Sie können auch erst spät im Entwicklungsprozess stattfinden, da weite Teile der Hard- und Software bereits festgelegt und integriert sein müssen. Zudem sind bei diesen Tests zahlreiche Lastszenarien in unterschiedlichen Klima-Umgebungen abzufahren. Aufwendige „Erprobungsreisen“ führen an teilweise weit entfernte Orte wie Südafrika oder den Death Valley – inklusive Versuchsfahrzeugen und Personal, was langwierig und kostenintensiv ist.
Simulation ersetzt teure Praxistests
Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist ein Entwicklungsprozess für Klimatisierung und Klimakomfort notwendig, der – anstatt auf klassischen Testfahrten – in erster Linie auf dynamischen Modellen und Simulationen beruht. So soll die teure Applikationsarbeit langfristig auf ein Minimum reduziert und weitgehend durch volltransiente Berechnungen abgelöst werden.
Die Spezialisten von ARRK Engineering haben einen allgemeinen Entwicklungsprozess entworfen, der die einzelnen Schritte der Klimakomfortentwicklung berücksichtigt: angefangen bei Benchmarkuntersuchungen über die Auslegung der Kreisläufe sowie der Funktions- und Komfortauslegung der Kabinenklimatisierung mit Entwicklung der Klimaregelungsstrategie bis hin zur Optimierung und Validierung. Der Fokus der aktuellen Arbeiten an dem Prozess liegt dabei auf der Frage, welche Voraussetzungen insgesamt geschaffen werden müssen, um die angestrebte Virtualisierung umsetzen zu können, und welche Bausteine in der Simulation noch detaillierter erarbeitet werden müssen.
Luft- und Wärmedynamik in der Fahrgastzelle
Um die noch bestehenden Lücken zu schließen, sind die ARRK-Ingenieure derzeit dabei, unterschiedliche Modelle zur Abbildung aller beteiligten Faktoren zu erarbeiten. Hierzu zählt beispielsweise die Modellierung der „HVAC“-Komponente, die das Kernbauteil für die Regelung der Luftkonditionierung und -zuführung in der Fahrzeugkabine ist. Der Schwerpunkt hierbei liegt zum einen auf der Abbildung des thermischen Verhaltens des HVAC (Heating, Ventilation, Air Conditioning) zur transienten Ermittlung der Ein- und Austrittstemperaturen der Kabinenluft. Zum anderen liegt er auf der Abbildung des hydraulischen Verhaltens, um eine Aussage über die Luftverteilung in den einzelnen Kanälen in Abhängigkeit der individuellen Klappenstellungen zu erhalten und damit die Luftverteilung abbilden zu können.
Hierfür wird das HVAC-Modul in Prüfstandsaufbauten detailliert vermessen. Diese Aufgabe übernimmt ein erfahrener Kooperationspartner, die Firma Ipetronik, mit der ARRK Engineering bereits seit 10 Jahren eng zusammenarbeitet. Neben dem HVAC-Modul können auch alle anderen relevanten Komponenten, beispielsweise die des Kältekreises, durch den Partner vermessen werden.
Wie läuft die Simulation ab?
Um die Hardware-Messungen auf die Simulation zu übertragen, ist ein detailliertes Modell der Fahrzeugkabine und des Insassen notwendig, welches mit der ARRK-eigenen Simulationssoftware „Theseus-FE“ erstellt wird. Zur Abbildung der Mitfahrenden umfasst das Tool ein komplexes Menschmodell auf Basis des „Fiala-Insassenmodells“. Es imitiert die für den Luft- und Wärmeaustausch relevanten menschlichen Körperfunktionen wie Atmung, Blutkreislauf, Schwitzen sowie Kältezittern und berücksichtigt unterschiedliche Bekleidungen. Um detaillierte Randbedingungen an allen Körperteilen für thermische Komfortaussagen mit dem Menschmodell bereitstellen zu können, ermöglicht das Tool mit dem neuentwickelten „Pseudo-3D-Ansatz“ eine sehr feine und automatisierte Diskretisierung des Gesamtluftvolumens in einzelne Luftzonen.
Darüber hinaus wird die Simulationsgeschwindigkeit durch den Pseudo-3D-Ansatz enorm erhöht, was für die hochdynamischen transienten Simulationen unerlässlich ist. Innerhalb der Luftzonen können jeweils detaillierte Aussagen über die Luftgeschwindigkeit, -temperatur und -feuchte sowie über die lang- und kurzwellige Strahlung gemacht werden. Selbstverständlich werden bei Sommerlastfällen die Sonnenposition und die dadurch angestrahlten oder abgeschatteten Bereiche in Abhängigkeit von der Fahrzeug- und Scheibengeometrie sowie der Fahrzeugausrichtung automatisch ermittelt. Da sich die Luft- und die Oberflächentemperaturen gegenseitig beeinflussen, betrachtet Theseus-FE Strahlungs-, Strömungs- und Wärmeleitungsprozesse an einem definierten Bauteil als gekoppeltes System.
Für die Bewertung des gemessenen und modellierten thermischen Komforts stellt schließlich der „Komfortindex“ nach ISO 14505–2 die Grundlage dar, der das thermische Empfinden in Fahrzeugkabinen auf Basis der Äquivalenttemperatur beschreibt und in die Simulation implementiert ist. Mit Hilfe dieses Index sollen möglichst objektive Aussagen über den Einfluss der unterschiedlichen dynamischen Faktoren auf den Klimakomfort im Fahrzeuginnenraum getätigt werden. Diese sollen schließlich für die Definition allgemeiner Komfort- und Klimatisierungsziele – und daraus folgend für die Erstellung eines universellen Lastenhefts – zur Verfügung stehen.
Entwicklung eines Komfort-Use-Case für transiente Klima-Lastfälle
Nachdem die einzelnen Modelle in Beziehung zueinander gesetzt wurden, müssen die daraus gewonnenen Simulationen in den kommenden Monaten mit realen Fahrten verglichen und etwaige Fehlerquellen sowie Ungenauigkeiten identifiziert werden. Hierfür wurden bereits Testfahrten mit dem selbst entwickelten „ARRK-Dummy“ durchgeführt. Dieser ist mit 31 gleichmäßig über den Körper verteilten Sensoren zur Messung der Lufttemperatur und feuchte, der lang- und kurzwelligen Strahlung sowie der Windgeschwindigkeit ausgestattet. Eine überarbeitete Version des Dummys befindet sich derzeit in Entwicklung. Sie soll zukünftig nicht nur über die rund dreifache Anzahl an Sensoren verfügen, sondern auch zusätzliche Werte wie die Kontaktwärmeströme aufzeichnen können.
Die Effekte, die bei solchen Fahrten gegenseitig aufeinander einwirken, werden einerseits vom Außenklima, dem Straßenverlauf inner- oder außerorts sowie wechselnder, direkter und indirekter Sonnenstrahlung aus unterschiedlichen Winkeln und Richtungen hervorgerufen. Neben diesen äußeren Faktoren, welche sich auf die Insassen und den von ihnen wahrgenommenen thermischen Komfort in Abhängigkeit von deren Alter, körperlicher Verfassung und Körpermasse auswirken, spielt auch die jeweilige Personenanzahl in der Fahrgastzelle eine Rolle. Nachdem die Simulationen verifiziert werden konnten, rückt das finale Vorhaben in den Fokus: Die zahlreichen, das Fahrzeuginnenraumklima und somit den Komfortwert beeinflussenden Faktoren sollen in all ihren Facetten ausgewertet und objektiviert werden.
Die Zukunft der thermischen Komfortbewertung und -applikation
Sobald ARRK Engineering diese dynamischen Fahrten ausreichend präzise und schnell simulieren kann, wird der letzte große Schritt des Entwicklungsprozesses „in Angriff genommen“: Denn wenn alle für die Berechnung der transienten Lastfälle notwendigen „Puzzleteile“ virtuell reproduzierbar sind, versetzt das die Spezialisten in die vielversprechende Lage, aus diesen Werten konkrete Auswirkungen auf das klimabedingte Wohlbefinden der Insassen abzuleiten. Dementsprechend können objektivierte Handlungsanweisungen für das Thermomanagementsystem mit integrierter Regelung des HVAC-Systems folgen.
Sind diese dynamischen Prozesse erst einmal in einem Komfort-Lastenheft festgehalten, kann die tatsächliche Applikationsarbeit im Testfahrzeug auf ein Minimum, nämlich lediglich die abschließende Feinabstimmung am finalen Fahrzeug, reduziert werden. Früh, schnell und unkompliziert kann die Entwicklungsabteilung auf veränderte Lastfälle und Randbedingungen eingehen, was zu einer deutlich reduzierten Entwicklungszeit im Vergleich zur manuellen Applikation führt. Dies wird die zukünftige Vorgehensweise der thermischen Komfortbewertung in der Automobilentwicklung grundsätzlich verändern.
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Michael Ellinger ist Gruppenleiter CFD & Thermal Analysis und
Max Hauk ist Senior Expert Thermal Management, beide bei ARRK Engineering in München.