Digitalisierte Werkzeugmaschine: Der Tool-Halter dirigiert die Steuerung
Sensoren messen und überwachen mittlerweile mannigfaltige Fertigungsparameter. Doch selten befinden sie sich so nah an der Wirkstelle wie bei einem kürzlich vorgestellten innovativen Werkzeughalter – das eröffnet neue Perspektiven für die spanende Fertigung.
Der Halter „smartTOOL“ ist eine Entwicklung des CCIT (Fraunhofer Cluster Excellence Cognitive Internet Technologies). Der Vorteil der Lösung für die Anwender: Durch die direkte Nähe zum Prozess detektieren die Sensoren sehr zuverlässig kritische Prozessstörungen. Zudem ermöglicht die smarte Nachrüstlösung sogar die Implementierung adaptiver Prozessregelungen.
Fraunhofer-Entwicklung erlaubt sensitive Kontrolle von Prozessen
Vor wenigen Jahren war es noch unmöglich, Kerngrößen von Zerspanungsprozessen über Sensoren direkt im Prozess zu erfassen. Doch seit ungefähr vier Jahren beobachtet Hendrik Rentzsch, Diplom-Ingenieur und Abteilungsleiter Werkzeugmaschinentechnik am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz, dass „immer mehr Zusatzsensorik in die Werkzeugmaschinen wandert“. Ein Trend, der gerade „richtig Fahrt aufnimmt“. Getrieben wird diese Entwicklung stark von zerspanenden Unternehmen in Hochlohnländern, die ihre Produktivität aus Wettbewerbsgründen stetig erhöhen wollen bzw. müssen. Denn um den Bearbeitungsprozess beispielsweise am Limit betreiben und mannlos fertigen zu können, müssen die Bearbeitungsprozesse in Echtzeit und sicher überwacht werden. Die smartTOOL-Technologie des Fraunhofer CCIT ist dabei ein wichtiger Puzzlestein. Denn sie gestattet mit Hilfe eines intelligenten Werkzeughalters die Optimierung von Zerspanungsprozessen.
Eine günstige Retrofit-Lösung
Maschinen sind langlebige Investitionsgüter, die zwar über die Jahre hinweg immer wieder bezüglich Steuerung und Mechanik modernisiert werden. Doch Sensorik lässt sich nachträglich „nur sehr schwer einbringen“. Der Werkzeughalter smartTOOL eröffnet Firmen mit einem älteren Maschinenpark deshalb die Chance, „Prozessdaten zu bekommen, mit denen sie intelligenter, transparenter und effizienter fertigen“. Oder anders gesagt: Diese Neuentwicklung macht selbst lang-gediente Maschinen Industrie 4.0 fähig – und das ohne große Aufwände oder Investitionen.
Anwender starten mit smartTOOL nämlich sehr bedarfsgenau in die Digitalisierung. Anstatt also die gesamte Maschine oder den gesamten Maschinenpark hochzurüsten, überwachen sie damit schnell und einfach erstmal die für sie besonders kritischen Bearbeitungsschritte. Entscheiden sie sich dann für umfassendere Schritte, „bedroht das nicht das Investment in den smarten Werkzeughalter“. Denn auch jenseits der einfachen Nachrüstbarkeit besitzt die smarte Lösung „einen unschätzbaren Vorteil“.
Großer Vorteil: die Nähe zur Wirkstelle
Zwar verbauen Hersteller heute in ihren Werkzeugmaschinen Sensoren, die „zig“ Daten liefern. Doch: „Für eine Prozesssteuerung sind sie meist zu verrauscht“, sagt Rentzsch. Denn die meisten Daten aus den Werkzeugmaschinen überwachen in erster Linie deren Funktionsfähigkeit. Und selbst wenn Sensoren implementiert sind, die die Prozesse überwachen sollen, sind diese nicht in jedem Fall ein Ersatz für eine wirkstellennahe Prozessüberwachung. Denn Störgrößen, wie beispielsweise Schwingungen, die in jeder Maschine auftreten, beeinflussen das Messergebnis umso stärker, je weiter entfernt die Sensoren von der Wirkstelle sitzen. Der smarte Werkzeughalter liefert deshalb validere Daten und damit aussagekräftigere Ergebnisse als beispielsweise ein Sensor, der in der Spindel ein Monitoring des Fertigungsprozesses vornimmt. Damit lohnt sich insbesondere für Firmen, die sehr enge Toleranzen einhalten müssen und/oder komplexe Bauteile fertigen, der Einsatz der CCIT-Lösung – auch auf hochmodernen Werkzeugmaschinen.
Algorithmen erlauben Rückschluss auf Prozess und Werkzeug
Ausgestattet ist der smarte Werkzeughalter mit Sensoren zur Messung von Schwingungen, Prozesskräften sowie der Temperatur. Übertragen werden die Daten über eine Funkstrecke an eine Auswerteeinheit, die mithilfe spezifischer Auswertealgorithmen Rückschlüsse auf die Zustände von Prozess und Werkzeug sowie auf das Bearbeitungsergebnis erlaubt. Kritische Prozessstörungen, wie Kollisionen, Rattern oder auch Werkzeugbruch, detektiert die Lösung ebenfalls zuverlässig. Die Datensicherheit ist durch eine verschlüsselte Ende-zu-Ende Kommunikation gegeben. Doch nicht nur die Funktechnologie arbeitet mit modernsten Protokollen. Auch die Schnittstellen zur Steuerungstechnik gewährleistet eine hohe Datensicherheit und -integrität.
Einsatzszenario adaptive Prozesssteuerung
Neben einer Offline-Auswertung oder dem Echtzeitmonitoring ist es auch möglich, eine adaptive Prozessregelung zu implementieren. Aus den von den Sensoren erfassten Daten werden dann über Auswerte-Algorithmen Handlungsentscheidungen für die Maschinensteuerung generiert und an diese automatisiert übergeben. Dies ermöglicht „eine selbständige und situationsbedingte Anpassung der Prozessparameter“, so Rentzsch. Aus der gemessenen Zerspankraft kann so beispielsweise auf die elastische Werkzeugabdrängung geschlussfolgert und somit die NC-Bahn angepasst werden. Somit steht ein System bereit, dass damit ohne das Eingreifen des Bedieners eine hochgradig prozesssichere, präzise und effiziente Fertigung möglich macht.
Entwickelt für einen breiten Einsatz
Der intelligente Werkzeughalter lässt sich mit einer Vielzahl von universellen Spindel- sowie Werkzeugschnittstellen ausrüsten. Damit steht dem breiten Einsatz der Lösung „nichts im Wege“, betont Rentzsch. Und noch ein Punkt zeigt, wie praxisnah die Ingenieure des CCIT agieren: Alle Komponenten (Sensorik, Datenverarbeitung und Kommunikation) wurden vollständig in die Haltergeometrie integriert. Damit unterscheidet sich dieser weder in Form noch in Kontur von einer herkömmlichen Werkzeugaufnahme. Und weil der Werkzeughalter trotz der implementierten Sensoren über eine hohe statische und dynamische Steifigkeit verfügt, ist auch der Einsatzbereich mit einem herkömmlichen Werkzeughalter vergleichbar.
Pluspunkt: Systeminterne Energieversorgung
Was den smartTOOL im Gegensatz zu anderen Sensorlösungen in einem Werkzeughalter so besonders macht, ist die innovative Energieversorgung. Denn dank der erstmals im Bereich Werkzeugmaschinenbau eingesetzten „Energy Harvesting“-Lösung müssen Anwender damit nicht alle paar Stunden den Akku am Werkzeughalter aufladen, um Daten erfassen und übertragen zu können. Die Sensorik der CCIT-Entwicklung wird vielmehr durch die Werkzeugrotation mit elektrischer Energie versorgt. Dafür wird eine simple, mit Permanentmagneten ausgestattete Komponente an der Spindelnase der Maschine montiert. Aufgrund der geringen Baugrößen des Magnethalters wird weder der automatische Werkzeugwechsel noch der verfügbare Arbeitsraum eingeschränkt. Damit lässt sich das System auch einfach installieren und kann im Bedarfsfall schnell gewartet und ausgetauscht werden.
Noch ist smartTOOL keine Marktlösung. Aber erste Gespräche mit Werkzeugherstellern wurden bereits geführt. Rentzsch ist sich deshalb sicher, dass der Werkzeughalter smartTOOL Anwendern zeitnah zur Verfügung stehen wird. Interessenten, die auf die Markteinführung nicht warten wollen, können ihren Fertigungsprozess auch als Pilotkunde des CCIT wirkstellennah überwachen.
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Syra Thiel ist Senior Editor bei der Agentur Storymaker in Tübingen. Foto: Autor