Föderative Datenräume für die digitale Wertschöpfung
Nachdem sich die Europäische Union auf den „Data Act“ verständigt hat, dürfte das wichtige Gesetz noch im Jahr 2023 verabschiedet werden. Das sind gute Nachrichten für den Wirtschaftsraum, denn er ebnet Initiativen wie Manufacturing-X den Weg. Was sollte der Mittelstand jetzt tun?
Entstehen soll in den aktuellen Initiativen eine einheitliche Datenökonomie. Diese gewährleistet einen freien Datenfluss innerhalb der Europäischen Union und über Sektoren hinweg. Insbesondere der Mittelstand sollte die Entwicklung genau beobachten und interne Prozesse bereits heute „auf Vordermann bringen“.
Worum geht es bei Manufacturing-X?
Alles, was in der Industrie und darüber hinaus Rang und Namen hat, beteiligt sich an Manufacturing-X [1]: die Bundesregierung, große Verbände wie der VDMA, ZVEI, VDI und Bitkom, die innovativsten Fertigungs- und IT-Unternehmen Deutschlands – darunter Bosch, die Telekom, SAP, Siemens, DMG Mori und Trumpf – sowie renommierte Forschungseinrichtungen wie die Fraunhofer-Gesellschaft. Sie investieren Kapazitäten und Know-how in die Initiative, da sie endlich Ernst machen wollen mit der Digitalisierung der deutschen Wirtschaft. Denn ohne eine gemeinsame Datenökonomie werden Digitalisierungsprojekte nur an der Oberfläche kratzen und nicht viel weiter als bis an das eigene Werkstor führen.
Manufacturing-X reiht sich damit ein in die großen X-Initiativen wie „Gaia-X“ oder „Cantena-X“, die Europa als Datenökonomie voranbringen. Zudem profitiert es von den in diesen Projekten bereits entwickelten Grundlagen.
Digitale Transformation neu definiert
Die digitale Transformation hat in den vergangenen zehn Jahren die Bedürfnisse des Kunden ein Stück weit vernachlässigt. Der Fokus lag zu stark auf der eigenen Produktionslandschaft. Die Transformation der Zukunft wird allerdings nicht nur in der Fabrikhalle, sondern vor allem auch außerhalb, insbesondere in Datenräumen (sogenannten Data-Spaces) stattfinden. Statt einer von Unternehmen kontrollierten Plattform soll ein föderativer Datenraum entstehen, der den Kunden in den Mittelpunkt stellt und Teilnehmern ermöglicht, Marktanforderungen schnell umzusetzen.
Hinzu kommt, dass über Manufacturing-X eine valide Datenbasis für die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen entsteht – beispielsweise bei der Bilanzierung und Reduzierung von CO2-Emissionen. Hier wird auch der Druck von Seiten der Politik zunehmen, sei es durch die Nachhaltigkeitsberichterstattungspflicht oder dem Lieferkettengesetz. Davon wird indirekt die gesamte Wirtschaft betroffen sein, da die berichtspflichtigen Unternehmen von ihren Zulieferern den Nachweis der Gesetzeskonformität einfordern werden. Ohne föderative Datenräume werden Unternehmen – insbesondere aus dem Mittelstand – ihren Berichtspflichten kaum nachkommen können.
Digitale Wertschöpfungsketten: 80 Prozent der Industriedaten sind bislang ungenutzt
Als juristische Grundlage zum Datenaustausch hat das Europäische Parlament den EU Data Act [2] auf den Weg gebracht. Um eine höhere Wertschöpfung aus Daten zu erreichen, soll die EU-Verordnung den fairen Datenaustausch und -nutzung zwischen Unternehmen, Verbrauchern und öffentlichen Einrichtungen regeln. Ein rechtssicherer Rahmen macht die Daten zugänglich, die bei der Verwendung von Produkten und Diensten entstehen, und stellt sicher, dass die Nutzer darüber entscheiden, was mit ihren Daten geschieht.
Bildlich gesprochen, wird das Gesetz die Schleusen vermeintlich privater Data Lakes öffnen und die Stauseen von Catena-X, Manufacturing-X und weiterer X-Inititativen fluten, um den Datenraum für eine föderative, datengetriebene Wertschöpfung zu schaffen. Laut Europäischer Kommission ist das Potenzial riesig, denn 80 Prozent der in der Industrie erhobenen Daten sind bisher noch ungenutzt [3]. Die EU rechnet damit, dass dies in etwa einem Volumen von 270 Milliarden Euro an zusätzlicher Wertschöpfung bis etwa 2028 entspricht.
Digitale Geschäftsmodelle erschließen neue Chancen
Unabhängig davon, wie das europäische Datenrecht letztlich ausgestaltet wird, ist die forcierte Entwicklung einer funktionierenden Datenökonomie alternativlos. Ein Papier von McKinsey [4] im Auftrag des VDMA teilt Digitalisierung im Maschinenbau in zwei Bereiche: zum einen in die Plattform-, zum anderen in die Anwendungsebene mit Mehrwertdiensten. Diese werden auch als digitale Wertschöpfungsketten dargestellt, in denen Daten analysiert, neu ausgewertet oder zu innovativen Services konfiguriert werden. Damit können dann leicht nutzbare „Industrie-Apps“ oder „zubuchbare“ Services für Endnutzer einer Produktionsmaschine zur Verfügung gestellt werden.
Ein Projekt des Technologieunternehmens Trumpf [5] veranschaulicht die Möglichkeiten digitaler Wertschöpfung über Services, die aus Kundensicht gedacht sind. Es bietet ein neuartiges Servicemodell im Bereich Laserschneidmaschinen an. Das „Pay-per-Part-Modell“ soll es Kunden in Zukunft ermöglichen, Laservollautomaten des Anbieters zu nutzen, ohne diese kaufen oder leasen zu müssen. Kunden zahlen stattdessen für jedes geschnittene Blechteil einen zuvor vereinbarten Preis. Die Ditzinger übernehmen dabei überwiegend die Planung, Betrieb und Wartung der Anlagen beim Kunden. In seiner umfangreichen Ausprägung ist dieses Konzept der Vorwärtsintegration zukunftsweisend. Dadurch können Kunden ihre Produktion deutlich flexibilisieren, benötigen weniger Fachkräfte, nutzen die Anlagen intensiver und profitieren vom Know-how des Herstellers über den gesamten Lebenszyklus hinweg.
Services monetarisieren
Die Daten digitaler Wertschöpfungsketten in Ökosystemen gehören verschiedenen Unternehmen. Sie alle profitieren, indem sie mit den vorliegenden Daten in föderativen Datenräumen diverse Mehrwerte liefern und ihre Leistungen auf diese Weise monetarisieren können. Nach dem Vorbild des längst etablierten Software-as-a-Service-Modells (Saas) sind Geschäftsmodelle entstanden, die den Nutzen für den Kunden – nicht das Produkt – ins Zentrum rücken. Im Rahmen von Manufacturing-as-a-Service (Maas) nutzen produzierende Unternehmen ein und dieselbe Maschine oder einen Maschinenpark gemeinsam. Abgerechnet wird dann die bezogene Leistung. Am weitesten treibt Everything-as-a-Service (Xaas) die Serviceorientierung. Während sich in der IT neben der Software auch Infrastrukturen, Plattformen oder Rechenleistung als Services anbieten, zeichnen sich bereits Ansätze ab, diese Sichtweise auf Produktionsumgebungen zu übertragen. Damit die Leistungen im Rahmen eines Lebenszyklus ineinandergreifen, müssen diese vollständig digital erfasst sein und sich die entstehenden Daten über Unternehmensgrenzen hinweg austauschen lassen.
Was jetzt im Mittelstand zu tun ist
Die Anforderungen an die Legislative werden offensichtlich nicht geringer. Allerdings betont die Bundesregierung auch, beim Design und in Förderprogrammen von Teilprojekten zu Manufacturing-X den Mittelstand im Blick zu haben. Es wäre fatal, das Feld nur den Konzernen zu überlassen – wenngleich es zu begrüßen ist, dass diese ihre Vorreiterrolle ernst nehmen und Verantwortung für den gesamten Wirtschaftsraum zeigen. Nolens volens wird die gesamte Branche folgen müssen, allein schon, weil diverse Parteien wie Hersteller, Zulieferer und Endkunden das verlangen werden. Daher gilt es, die Zeit der Konzeptionsphase von Manufacturing-X zu nutzen und Kapazitäten sowie Know-how für die anstehende Transformation aufzubauen:
- Informieren, vernetzen und aktiv werden: Die Verbände VDMA, ZVEI, BDI und Bitkom sowie die Politik – angeführt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz – werden sich angesichts der Aussicht auf üppige Fördergelder (250 Millionen Euro für Catena-X und 150 Millionen Euro für Manufacturing-X) aktiv in die X-Initiativen einbringen [6]. Der Mittelstand sollte jede Gelegenheit nutzen, sich zu informieren und in den Gremien mitzuarbeiten. Zudem sollten sich Entscheidungsträger aus dem Mittelstand zum Thema X-Initiativen und Datenräume auch mit ihren Kunden, Kunden der eigenen Kunden, Partnern, Mitarbeitern und Zulieferern austauschen: Welche Schritte können wir gemeinsam Richtung digitaler Ökosysteme gehen? Welche Partner und Zulieferer sind geeignet?
- · Eine digitale Vision entwickeln und die Unternehmensstrategie danach ausrichten: Für manches Unternehmen ist es nur die Fortsetzung der Reise, für andere ein erneuter oder erster Anlauf. Sie sollten sich bei der digitalen Transformation nicht im „Klein-klein“ verlieren, sondern diese zielgerichtet als Business-Transformation mit Fokus auf Kunden, Produkte, Märkte und Nachhaltigkeit gestalten.
- · Das eigene Unternehmen sowie IT-Systeme und Daten fit für Manufacturing-X machen: Dazu gilt es, folgende Fragen zu beantworten: Wie hoch ist der Digitalisierungsgrad der Gesamtorganisation inklusive der Mitarbeiter? Ist technologisch alles Up-to-date? Befindet sich das ERP-System und weitere Business-Anwendungen im Unternehmen auf einem aktuellen Releasestand? Funktioniert das Stammdatenmanagement? Sind die Daten bereinigt und ließen sie sich in Datenräume wie Manufacturing-X integrieren? Welche Fertigungsdaten werden erfasst? Was wird gemessen und ausgelesen? Welche Informationen wären darüber hinaus interessant und wie lassen sie sich gewinnen?
Wenn alle diese Fragen zufriedenstellend beantwortet sind, sollte der erfolgreichen digitalen Transformation auch in kleinen Unternehmen nichts mehr im Weg stehen.
Literatur
- https://www.plattform-i40.de/IP/Redaktion/DE/Downloads/Publikation/Manufacturing-X.html
- https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20230310IPR77226/datengesetz-neue-regeln-fur-fairen-zugang-zu-und-nutzung-von-industriedaten
- https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_22_1113 [
- VDMA_McKinsey_Broschre_Digitale Plattformen_DEUTSCH.pdf
- https://www.trumpf.com/filestorage/TRUMPF_Master/Corporate/Press/Press_releases/2020_21/Corporate/20201014-PR-relayr/20201014-PM-TRUMPF-und-Munich-Re-pay-per-part.pdf
- https://digitalstrategie-deutschland.de/manufacturing-x/
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Michael Finkler verantwortet als Geschäftsführer das Business Development der Proalpha-Gruppe in Weilerbach, einem führenden Anbieter von Business-Anwendungen für mittelständische Unternehmen. Er ist zuständig auch für Kooperationen mit führenden Forschungsinstitutionen und Verbänden. Hier engagiert er sich für den Aufbau einer unternehmensübergreifenden Datenökonomie, unter anderem als Vorstandsvorsitzender des VDMA-Fachverbands Software und Digitalisierung, als Vorstandsmitglied des VDMA-Landesverbands Mitte und als Mitglied der Bitkom-Taskforce Manufacturing-X sowie als Mitglied des Forschungsbeirats des FIR e.V. an der RWTH Aachen. Foto: Autor