Warum Digitalisierung (endlich) die Fabriktore verlassen muss
Industrie 4.0 war ab 2011 das innovative Konzept, um deutsche Unternehmen widerstands- und wettbewerbsfähiger zu machen – und wird in der Industrie immer mehr genutzt. Doch der Mittelstand „tut sich schwer“. Die VDI-Z klärt in einem Interview die Ursachen.
Heutzutage sind digitale Prozessabläufe, vernetzte Produktionsketten und smarte Produkte die Lebensader der Fertigung. Dennoch tut sich gerade der Mittelstand beim Aufbau intelligenter Wertschöpfungsnetzwerke schwer. Die VDI-Z sprach über den Stand der Digitalisierung und die Zukunft der Industrie 4.0 mit Michael Finkler, Geschäftsführer Business Development des Softwarespezialisten Proalpha.
VDI-Z: Herr Finkler, das Gros Ihrer Kunden findet sich im fertigenden Mittelstand. Wie schätzen Sie den Reifegrad der Digitalisierungsprojekte dort ein?
Finkler: Wenn wir auf den Stand der fabrikzentrierten Digitalisierung schauen, also den Bereich der Optimierung von Prozessen durch digitale Technologien, dann ist Industrie 4.0 ganz klar im Mittelstand angekommen. Das Marktforschungsinstitut PAC hat dazu eine Zahl veröffentlicht: 71 Prozent der Informationstechnik (IT)- und Fachbereichsverantwortlichen haben bereits Industrie-4.0-Projekte gestartet. Das spiegelt auch unsere Erfahrung wider: Das Thema Digitalisierung beschäftigt alle unsere Kunden und viele Initiativen sind ausgesprochen kreativ.
Ein Beispiel ist die Günther Spelsberg GmbH: Das Unternehmen fertigt Kunststoffgehäuse für die Elektrotechnik. Es hat sich mit der Frage beschäftigt, wie eine Erfassung von Produktionszuständen und die Steuerung von Brown-Field-Anlagen direkt aus dem ERP (Enterprise-Resource-Planning)-System heraus möglich ist. Die Lösung ist ein selbstentwickelter Prototyp auf Basis eines „Raspberry Pi“, der Produktionsbefehle empfängt, verarbeitet und an eine Maschine weiterleitet. Produktionsfortschritte werden automatisiert an das ERP-System zurück gemeldet, das damit die Fertigung auf Basis von Echtzeitdaten steuert.
Diese Art von Projekten hat im Zuge der Pandemie deutlich an Fahrt aufgenommen, nicht zuletzt, da vielen Firmen klar geworden ist, welche Bedeutung in der Digitalisierung steckt. Laut Angaben des Bitkom haben in der Corona-Hochphase acht von zehn Managern digitale Technologien ausprobiert und persönlich dazugelernt. Konkret ging es dabei jedoch vor allem um die Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit des eigenen Unternehmens, sprich der Business Continuity und weniger um die Stärkung der tatsächlichen Innovationskraft.
Digitalisierung wird oft mit Industrie 4.0 gleichgesetzt. Viele Produzenten fokussieren sich auf reine Automation, also den Ausbau von intelligenten Produktionsanlagen und Produkten. Ist das zu kurz gegriffen?
Ich denke, dass wesentliche Ziele des Industrie-4.0-Konzepts heute noch nicht erreicht wurden. Aktuell legen Unternehmen ihren Fokus auf die Verbesserung der Mitarbeiterproduktivität und Prozessoptimierung. Innovationen werden zu selten vorangetrieben und bestehende Geschäftsmodelle kaum hinterfragt oder neu interpretiert. Erfolgreiche Digitalisierung braucht jedoch erheblich mehr direkte Interaktion mit dem Markt.
Können Sie das genauer erläutern?
Aktuell lässt sich in Deutschland durch die Nutzung von Industrie 4.0 keine signifikante Steigerung des Bruttoinlandsproduktes feststellen. Stand heute, machen Maschinen- und Anlagenbauer noch 98 Prozent ihres Umsatzes mit dem Vertrieb von Produkten und Services. Die eigentlichen Potenziale von Industrie 4.0 liegen aber außerhalb der Werkshallen. Echte IIoT (Industrial Internet of things)-Projekte müssen für Kunden spürbar werden und Mehrerlöse erwirtschaften.
Deutsche Fertiger denken hier noch zu sehr fabrikzentriert. Das Stichwort lautet jedoch Plattformökonomie. Betrachten wir nur, wie rasant digitale Plattformen und disruptive Geschäftsmodelle etablierte Branchen – beispielsweise die Versicherungswirtschaft – von Grund auf verändert haben. Diese disruptive Kraft wirkt in allen Sektoren – auch in der Industrie. Fertigungsunternehmen müssen sich heute im Klaren sein, wer sie in Zukunft sein wollen: Disruptor – oder Disruptierter?
Welche Bedeutung haben digitale Plattformen für die Umsetzung von Industrie-4.0-Initiativen?
Das Plattform-Geschäftsmodell beherrscht die digitale Transformation. Kein anderes Business-Modell verzeichnet ein derart rasantes Wachstum. Es geht einzig um den exklusiven Zugang zum Kunden über die verschiedenen digitalen Kanäle. Die wertschöpfende Plattform steht dabei direkt zwischen Kunde und Anbieter und kanalisiert eine strategische Feedback-Kommunikation. Mit ihrem direkten Kontakt zum Kunden haben Plattform-Ökosysteme eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die Industrie. Allerdings erfordert der Plattformgedanke vom produzierenden Unternehmen ein generelles Umdenken. Industrie 4.0 ist nicht mehr nur die Optimierung von Abläufen auf dem Shop Floor. Vielmehr gilt es, Produkte und Services mit neuen Geschäftsmodellen zusammenzubringen und über digitale Plattformen einen belastbaren Zugang zum Kunden zu schaffen.
Festo liefert ein gutes Beispiel dafür, wie ein solches datengetriebenes Geschäftsmodell aussehen kann. Über das Kerngeschäft hinaus bietet das Unternehmen einen Mehrwert als Datenlieferant durch „offene“ Produkte mit Sensorik. Die Vermittlung und Abrechnung digitaler Services bildet dabei das Geschäftsmodell. Als IoT-Enabler stellt Festo vorverarbeitete Daten bereit. Und als Digital-Service-Provider bietet das Unternehmen seinen Kunden über die Plattform direkt vollwertige Dienste. Das zeigt: Die wenigen, wirklich erfolgreichen Industrie-4.0-Unternehmen bieten allesamt digitale Geschäftsmodelle mit digitalen Produkten, meist auf digitalen Plattformen.
Wie lässt sich die Plattform-Idee im Mittelstand umsetzen?
Die Ausgangsbasis jeder erfolgreichen Plattform bildet die intelligente Fabrik mit optimierten digitalisierten Wertschöpfungsketten. Merkmal einer solchen Smart Factory ist ein hochleistungsfähiges ERP, das die nötigen Daten aus Produktion, Entwicklung sowie angrenzenden Bereichen hinreichend abbildet und diese für eine echtzeitfähige Auswertungsbasis bereitstellt. In der „lernenden Fabrik“ führt ein solches ERP-System Daten aus unterschiedlichsten KI (Künstliche Intelligenz)-gesteuerten Einheiten zusammen: aus selbststeuernden, selbstoptimierenden Prozessen und digitalen Assistenten, aus der RPA („Robotic Process Automation“ – ein Ansatz zur Prozessautomatisierung, bei dem repetitive, manuelle, zeitintensive oder fehleranfällige Tätigkeiten durch sogenannte Softwareroboter erlernt und automatisiert ausgeführt werden) oder aus einem „Business Analytics Tool“. Umfang und Güte der verfügbaren Daten definieren wiederum die Möglichkeiten, daraus datengetriebene Plattformen und Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Dreh- und Angelpunkt ist eine hohe Datenqualität. Und hier ist der Nachholbedarf im Mittelstand am Größten. In einer aktuellen Studie von PAC I teknowlogy haben wir hinterfragt, welche Maßnahmen Chancen bieten, die Prozesse von Fertigungsunternehmen zu verbessern. Sechs von zehn Befragten gaben die Steigerung ihrer Datenqualität an. Den Unternehmen ist also durchaus bewusst, dass in diesem Punkt Handlungsbedarf besteht.
Der Aufbau von Wertschöpfungsnetzwerken geht Hand in Hand mit der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle. Wie ist hier aktuell der Stand in der mittelständischen Industrie?
Es gibt „Leuchttürme“. Beispielsweise die Firma Homag, die neben der Vermarktung ihrer Lösungen für die holzverarbeitende Industrie, auch die Leistungen von Technologie- und Business-Partnern auf einer digitalen Plattform integriert. Aber das Gros des fertigenden Mittelstands hat in puncto digitaler Geschäftsmodelle einen spürbaren Nachholbedarf. Vor allem erfolgreiche Traditionsunternehmen tun sich schwer. Die Abkehr vom einfachen Betreibermodell hin zum Denken in digitalen Plattform-Ökosystemen ist ein Prozess von gesamtbetrieblicher Tragweite, der nur im Zusammenspiel aller Fachebenen zu lösen ist. Das beginnt schon mit der Frage: Welche neuen Geschäftsmodelle kann ich meinen Kunden anbieten? Dann müssen sich Unternehmen entscheiden: Will ich selbst eine Plattform schaffen oder eine oder mehrere Plattformen bedienen? Mit wem sollte ich kooperieren? Und wie werden meine Produkte und Services überhaupt plattformkompatibel? Diese Fragen sind nur über Kreativität, Zusammenarbeit von Management, Entwicklung und Produktion sowie über eine automatisierte Datenanalyse zu lösen.
Viele Industrieunternehmen sehen im Einsatz von KI-Technologien den Hebel für Innovationen und neue Geschäftsmodelle. Teilen Sie diese Einschätzung?
KI wird mittelfristig das Gesicht der Industrie verändern. Sie spielt sowohl bei der Bedarfsplanung eine Rolle, in IIoT-Projekten als auch in der Digitalisierung der Supply Chain. KI hilft heute schon, Maschinendaten auszuwerten, um den idealen Zeitpunkt für den Wartungseinsatz vorherzusagen. KI-gestützte Tools prognostizieren die Auswirkungen von Lieferengpässen oder Preisänderungen und berechnen Handlungsalternativen. Oder denken Sie an RPA, Analytics oder die Lageroptimierung. Viele mittelständische Fertiger verfolgen KI und ihre Möglichkeiten daher mit großem Interesse.
Allerdings fehlt es noch an konkreter Umsetzung. Ein Beispiel aus der genannte Studie von PAC I teknowlogy: Sechs von zehn Unternehmen sehen einen Nutzen von KI für die Automatisierung von Prozessen – aber nur jeder Vierte befindet sich bereits in konkreten Umsetzungsprojekten. Aus der Befragung wird auch deutlich, dass die Mehrheit der Unternehmen eher punktuell technische Innovationen einplant, als dass sie holistisch im Sinne von ganzheitlich Veränderungen des kompletten Geschäftsmodells anstrebt. Lediglich 36 Prozent von ihnen wollen ihr Portfolio um neue Produkt- oder Service-Angebote erweitern. Diese Haltung sehe ich kritisch, denn wenn es um Plattformen und neue digitale Geschäftsmodelle geht, haben mittelständische Industrieunternehmen keine Zeit für Aufschub.
An welcher Stelle sollten Unternehmen gegensteuern?
Letztlich braucht es die richtige Kultur und ein stückweit „De-Mystifizierung“: Impulse für tiefgreifende Veränderungen müssen einhergehen mit dem Vertrauen in zentrale Zukunftstechnologien – und das auf allen Ebenen des Unternehmens. Das heißt, die Unternehmensführung muss eine maximale Transparenz über die anstehenden Wirkungen schaffen. Nur so kann sie sich der nötigen Akzeptanz und Unterstützung versichern.
Herr Finkler, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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