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EU-Forschungsprojekt 28.10.2024, 13:41 Uhr

Wie gelingt Kreislaufwirtschaft für Produktionslinien?

Ist es möglich, eine Kreislaufwirtschaft für Produktionsmittel zu installieren, um die frühzeitige Verschrottung von Maschinen und Maschinenbestandteilen auf ein Minimum zu reduzieren? Genau dies hat ein neues Projekt der Europäischen Union (EU) zum Ziel, an dem namhafte Unternehmen und Forschungsinstitute beteiligt sind.

Fünf smarte, digitale Tools schaffen eine nachhaltige, effiziente und widerstandsfähige Kreislaufwirtschaft von Produktionsmaschinen, indem sie Betriebe mit dem Gebrauchtmaschinenmarkt effizient miteinander verbinden. Grafik: ALICIA Circular Manufacturing Ecosystem

Fünf smarte, digitale Tools schaffen eine nachhaltige, effiziente und widerstandsfähige Kreislaufwirtschaft von Produktionsmaschinen, indem sie Betriebe mit dem Gebrauchtmaschinenmarkt effizient miteinander verbinden. Grafik: ALICIA Circular Manufacturing Ecosystem

Wie digitale Tools die Zukunft nachhaltiger Produktion gestalten können, soll das Projekt der Europäischen Union (EU) mit dem Namen „Alicia“ zeigen. Mit der Entwicklung von fünf digitalen Tools werden Industriebetriebe und der Gebrauchtmaschinenmarkt wirtschaftlich miteinander verbunden, wodurch Assets bis zu 100 Prozent wiederverwendet werden können. Hintergrund: Der Großteil der Maschinenteile in der Produktion – wie Roboterarme oder Förderbänder – erreichen nicht ihre maximale Lebensdauer und werden vorzeitig aussortiert. Schätzungen zufolge werden in der Automobilindustrie bis zu 70 Prozent der Produktionsbetriebsmittel vorzeitig außer Betrieb genommen, verschrottet oder bestenfalls als Ersatzteile verkauft.

Kreislaufwirtschaft trifft Industrie 4.0

Die bisherige Vorgehensweise in der Industrie ist nicht nur unwirtschaftlich, sondern auch nicht nachhaltig. Dies ist ein bedeutsamer Punkt, an dem im Zuge des europäischen „Green Deals“ – mit dem Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein – angesetzt werden muss. Denn gäbe es eine Kreislaufwirtschaft für Produktionsmittel, ein sogenanntes „Circular Manufacturing Ecosystem“ (CME), können Geld und Ressourcen gespart werden. Bisher gibt es jedoch keine effiziente Verbindung zwischen den Industriebetrieben untereinander, andererseits besteht keine Beziehung dieser Betriebe zum Gebrauchtmaschinenmarkt, damit Abgeber und Abnehmer mit Maschinen und Maschinenteilen handeln können.

Das soll nun im aktuellen EU-Projekt geändert werden. „Alicia“ steht für „assembly lines in circulation“, also Montagelinien im Umlauf. Zwölf Partner aus Forschung und Industrie entwickeln innerhalb von drei Jahren verschiedene smarte, digitale Tools für eine nachhaltige Nutzung von Produktionsressourcen. Koordiniert wird das Projekt von der Technischen Universität München (TUM).

Während des Kick-Off-Meetings lernte das Alicia-Team einander kennen und diskutierte die Projektstruktur, die Zusammenarbeit und die Arbeitspakete. Das Treffen fand beim Projektkoordinator an der TU München statt.

Foto: ALICIA Circular Manufacturing Ecosystem

Durch die Entwicklung innovativer digitaler Werkzeuge zielt das Projekt darauf ab, effiziente wirtschaftliche Verbindungen zwischen industriellen Akteuren und dem Gebrauchtmaschinenmarkt herzustellen. Diese strategische Verknüpfung ermöglicht eine 100%-ige Wiederverwendung von Vermögenswerten und fördert somit Nachhaltigkeit und Ressourcenoptimierung. Diese digitalen Werkzeuge schaffen eine neue Art der Kreislaufwirtschaft – das CME.

Plattform verbindet und schöpft Ressourcen aller Akteure aus

„Alicias“ Vision: In fünf bis zehn Jahren werden Produktionsressourcen – wie ganze Produktionslinien, einzelne Maschinen und Ersatzteile – so lange unter den einzelnen Fabriken in Europa gehandelt und wiederverwendet, bis ihre Lebensdauer maximal ausgeschöpft wird. Ziel der Online-Plattform ist es, Käufer von Produktionsmitteln mit Anbietern zusammenzubringen. Darüber hinaus werden Dienstleister integriert, zum Beispiel kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die Wiederaufbereitungsdienste anbieten. Oder aber Recyclingunternehmen, die ihre Dienste Fabrikbesitzern anbieten können.

Die Plattform wird durch eine Reihe innovativer digitaler Werkzeuge unterstützt, die den Prozess der Identifizierung und Auswahl geeigneter gebrauchter Montageanlagen für neue Produktionslinien vereinfachen und die Integration dieser gebrauchten Anlagen in moderne Montagesysteme ermöglichen.

Fünf digitale Tools schließen das CME

Ein Praxisbeispiel: Ein Fabrikbesitzer oder Betriebsleiter benötigt eine neue Produktionsanlage. Mithilfe einer maschinenlesbaren Ontologie werden seine Anforderungen an eine Second-Hand-Anlage digital abgebildet. Dabei werden neben produktionstechnischen Faktoren auch soziale, wirtschaftliche und Umweltaspekte beachtet. Denn wenn die Mitarbeiter mit der angeschafften Maschine nicht arbeiten können oder deren verbleibende Lebensdauer nicht wirtschaftlich ist, macht ein Second-Hand-Kauf wenig Sinn. Durch einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz soll das Projekt die Umschulung und Fortbildung von Arbeitnehmern ermöglichen. Darüber hinaus soll die maschinenlesbare Ontologie dafür sorgen, dass Frauen die gleichen Chancen haben, sich am Modell der Kreislaufwirtschaft zu beteiligen und davon zu profitieren.

Der Online-Marketplace verbindet die Akteure des Second-Hand-Geschäfts. Darunter fallen nicht nur Käufer und Verkäufer sowie Gebrauchtmaschinenhändler, sondern auch Dienstleister im Bereich der Wiederaufbereitung oder des Recyclings. Der Marketplace findet im CME sowohl Anwendung, um eine für den Kunden passende Maschine zu finden, als auch um seine abgeschriebenen Anlagen wiederum anderen Fabriken anzubieten. Ein bereits bestehender Online-Marktplatz, der Market 4.0, wird im Laufe des Projektes unter anderem mit den realen Daten des Industrieauktionshauses für Gebrauchtmaschinen Surplex erweitert. Dieses wird als Drehscheibe fungieren und den Vermittlungsprozess zwischen bestehenden und gebrauchten Fabrikanlagen erleichtern. Neben einer eigenen Datenbank für Gebrauchtanlagen wird das Düsseldorfer Unternehmen das Know-how für eine ähnliche Plattform für den Verkauf von Gebrauchtanlagen einschließlich der internen Datenstrukturen und Prozesse zur Verfügung stellen.

Der Ablauf: vom Matchmaking bis zum Plug & Produce

Eine AI (Artificial Intelligence) „Matchmaking Engine“ vergleicht das Angebot auf dem Marketplace. Betrachtet werden verfügbare fabrikinterne Produktionsmaschinen, andere Second-Hand-Anlagen und -Maschinen sowie potenzielle Neumaschinen. Diese werden mit einbezogen, um die Lücken im Design der Montagelinie zu schließen, die nicht durch Second-Hand-Maschinen abgedeckt werden können. Das Angebot wird mit den Anforderungen des Kunden in der maschinenlesbaren Ontologie abgeglichen. Die Matchmaking Engine wählt die beste Kombination von Ressourcen für die gewünschte Montagelinie aus.

Hochwertige Maschinen sind für Produktionslinien unerlässlich, jedoch oftmals mit hohen Investitionen verbunden. Hinzu kommen monatelange Lieferzeiten. Gebrauchte Maschinen und Komponenten, beispielsweise aus dem Auktionshaus, gelten als gute Option.

Foto: Surplex

Um den Fabrikbesitzer zu überzeugen, wird ein „Digitaler Shadow“ (DS) der für ihn gematchten Produktionsanlage erstellt. Der DS ist ein Modell einer zukünftigen Second-Hand-Linie. Alicia soll die Grenzen des Stands der Technik erweitern, indem ein „halbautomatischer“ DS entwickelt wird, der Daten über verfügbare Produktionsressourcen (die automatisch vom Marketplace eingespeist werden) mit manuell eingegebenen CAD-Modelldaten kombiniert werden. Dieses digitale Abbild der potenziellen Second-Hand-Linie simuliert die Produktionsleistung, indem es die Daten der einzelnen Maschinen miteinander kombiniert. Sobald die reale Second-Hand-Linie gebaut wurde, wird der Digital Shadow zu einem Digital Twin (DT) weiterentwickelt. Der DT wird in Echtzeit mit Produktionsdaten von den Maschinensensoren und anderen Quellen gespeist. Der DT ist also das virtuelle Abbild eines realen Systems, zum Beispiel der Produktionslinie.

Für den reibungslosen Aufbau und die unverzügliche Inbetriebnahme der Second-Hand-Linie wird eine Plug & Produce-Middleware eingesetzt. Plug-and-Produce-Konzepte beruhen auf der Idee, dass jedes Gerät mit einer Verwaltungsschale (administration shell) ausgestattet ist. Diese enthält alle Maschinendaten wie deren Eigenschaften, Parameter und Schnittstellen. In der Industrie 4.0 müssen alle Produktionskomponenten untereinander störungsfrei miteinander kommunizieren können. Dafür bildet die automatisiert lesbare Dokumentation auf der Verwaltungsschale die Grundlage. Da der Fertigungsbetrieb nun aus einer Mischung aus neuen und gebrauchten Maschinen verschiedener Hersteller besteht, wird durch die Plug & Produce-Middleware maximale Interoperabilität geschaffen.

Zum Schutz der Nutzerdaten wird Alicia sowohl Cloud-basierte als auch On-Premise-Lösungen anbieten, die den Nutzern die vollständige Kontrolle über die Nutzung ihrer Daten ermöglichen. Die Lösungen können bei Bedarf lokal installiert und betrieben werden.

Was bedeutet Alicia die europäische Industrie?

Produktionsverantwortliche können bis zu 40 Prozent schneller und mindestens um die Hälfte günstiger eine gebrauchte Produktionslinie erwerben, als eine neue gebaute installiert bekommen. Durch die maximale Ausnutzung der Maschinenlebensdauer kann der Material- und Energieverbrauch um bis zu 80 Prozent im Vergleich zur Neumaschine reduziert werden. Mit dem geschlossenen Kreislauf können Assets bis zu 100 Prozent wiederverwendet werden.

Der Projektname „Alicia“ steht für assembly lines in circulation, also Montagelinien im Umlauf. Die Vision: maximale Ausschöpfung der Lebensdauer von Produktionsressourcen, wie ganze Produktionslinien, einzelne Maschinen und Ersatzteile. Grafik: ALICIA Circular Manufacturing Ecosystem

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das EU-Projekt Alicia an vorderster Front der nachhaltigen Produktion steht und digitale Innovationen nutzt, um einen effizienteren und umweltfreundlicheren Ansatz für die Nutzung von Produktionsressourcen zu schaffen. Durch seine strategischen Initiativen und kollaborativen Bemühungen ebnet es den Weg für eine Zukunft, in der die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft die Entwicklung der verarbeitenden Industrie hin zu mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz vorantreiben. Damit trägt das Projekt zu einer Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der EU gegen Störungen in globalen Lieferketten bei und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung einer Kreislaufwirtschaft.

Über das Projekt

Alicia wird von der Europäischen Union mit knapp 5,86 Millionen Euro unter der Projektnummer 101091577 im Rahmen des Horizon-Programms gefördert. Das Projekt begann offiziell im Januar 2023 und hat eine Laufzeit von drei Jahren. Die zwölf Projektpartner sind:

  • Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) an der Technische Universität München (Deutschland) (Projektkoordinator),
  • Comau S.p.A., Grugliasco (Italien),
  • Conti Temic microelectronic GmbH, Ingolstadt (Deutschland),
  • DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Berlin (Deutschland),
  • ECI-Mechatronics GmbH, Schwaz (Österreich),
  • Intrasoft International S.A. (Luxemburg),
  • Institut Mines-Télécom (IMT), Palaiseau (Frankreich),
  • Laboratory for Manufacturing Systems & Automation (LMS) an der Patras University (Griechenland),
  • mts Consulting & Engineering GmbH, Fürstenbeck (Deutschland),
  • Surplex Iberica SLU, Barcelona (Spanien),
  • Institut für Maschinenbau- und Betriebsinformatik (mbi) an der Technische Universität Graz (Österreich),
  • Yaghma B.V., Delft (Niederlande).

Das Projekt wird mit Mitteln aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union (EU) unter der Projektnummer 101091577 gefördert. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich den Autoren zuzuordnen und spiegeln nicht notwendigerweise die der EU oder der European Health and Digital Executive Agency (HaDEA) wider. Weder die EU noch die Bewilligungsbehörde können für sie verantwortlich gemacht werden.

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