Zum E-Paper
Tagung beleuchtet Praxistrends 26.10.2021, 13:42 Uhr

Leichtbau: Game-Changer für das Klima

Unternehmen aller Größen stehen in der Pflicht, bis 2050 klimaneutral zu werden. Wie sie auf ihrem Weg zur nachhaltigen Produktgestaltung durch die Konstruktionsphilosophie des Leichtbaus unterstützt werden, zeigen Best-Practice-Beispiele.

Die Leichtbauweise des Nadelbettenträgers einer Strickmaschine reduzierte den Energiebedarf signifikant: Folglich ergab sich eine CO2-Reduktion um 30 Prozent pro Jahr. Grafik: wbk Karlsruhe

Die Leichtbauweise des Nadelbettenträgers einer Strickmaschine reduzierte den Energiebedarf signifikant: Folglich ergab sich eine CO2-Reduktion um 30 Prozent pro Jahr. Grafik: wbk Karlsruhe

Die alarmierenden Ergebnisse des jüngsten Berichts des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change – IPCC) sprechen für sich: Bei einer Entwicklung wie derzeit droht bereits 2030 – zehn Jahre früher als bislang angenommen – eine Erderwärmung um 1,5 Grad Celsius. Nur durch eine strenge Begrenzung der globalen Treibhausgas-Emissionen ist diesem Trend entgegenzusteuern. Auch die Mithilfe der Industrie ist gefragt – nicht nur aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe des Klimaschutzes, sondern auch in Hinblick auf den Erhalt der eigenen Wettbewerbsfähigkeit. Denn: Der sogenannte „Green Deal“ der Europäischen Union nimmt Unternehmen aller Größen in die Pflicht, bis 2050 klimaneutral zu werden. Eine CO2-neutrale Lieferkette etabliert sich zunehmend als Kundenanforderung. Verlässliche Unterstützung auf ihrem Weg zur nachhaltigeren Entwicklung ihrer Produkte bietet Unternehmen die Konstruktionsphilosophie des Leichtbaus.

Leichtbau als Innovationstreiber für den Klimaschutz

Leichtbau bedeutet, Produkte völlig neu zu denken und konventionelle Methoden des Engineerings zu hinterfragen. Der Ansatz geht damit über eine bloße Substitution von Werkstoffen hinaus. Mit intelligentem Design, der Nutzung neuer Technologien, optimierten Prozessen und digitalen Wertschöpfungsketten lassen sich Zeit und Kosten sowie wertvolle Ressourcen sparen und CO2-Emissionen reduzieren.

Dies lässt sich in quasi allen Branchen anwenden: ob im Bauwesen, im Maschinenbau, in der Automobilbranche oder im Luft- und Raumfahrtsektor. Durch die frühzeitliche, ganzheitliche Betrachtung der Anforderungen über den gesamten Produktlebenszyklus leistet der Leichtbau einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz, unter anderem in folgenden Handlungsfeldern:

  • Leichtbau in der Produktentwicklung: Eine Anpassung von Produktkonzepten (Konzeptleichtbau) leistet einen Beitrag zur Einsparung wertvoller Ressourcen.
  • Leichtbau in der Fertigung: Zwei Anwendungsfälle dazu werden im Weiteren näher erläutert.
  • Leichtbau im Bauwesen: Aus dem Einsatz materialminimierter Leichtbaustrukturen wie Faser- und Gradientenbeton können Zement- und Stahleinsparungen resultieren.
  • Leichtbau im Transport: Eine Reduzierung des Materialeinsatzes verringert den Energieverbrauch im Transport und im Handling.

Hohes CO2-Einsparpotenzial durch Leichtbau im Maschinenbau

Zur Konkretisierung des CO2-Einsparpotenzials durch Leichtbau wird exemplarisch die Maschinenbaubranche genauer unter die Lupe genommen. Prägend ist hier ein enormer Wettbewerbsdruck, der nach immer besseren und gleichzeitig kostengünstigeren Produkten verlangt. In dieser Hinsicht sind zwei Wege denkbar: Material und damit indirekt auch CO2 bei der Herstellung der Maschine einzusparen und/oder durch Optimierungen weniger Energie beim Betrieb der Maschine zu verbrauchen, wenn bewegte Teile leichter werden.

Vor der Optimierung: In einer Wellpappen-Verarbeitungsmaschine bewegt ein schwerer Schlitten die Produktstapel im zyklischen Start-/Stopp-Betrieb. Grafik: Wilhelm Bahmüller GmbH

Diese Ausgangslage prädestiniert den Leichtbau als Lösungsansatz mit großen Umsatz- und Kostensenkungspotenzialen – bei gleichzeitigem Ressourcenschutz, wie die im Folgenden beschriebenen Business Cases verdeutlichen.

Topologieoptimierung an einer Textilmaschine

Dank der Optimierung der Topologie eines Nadelbettenträgers, also einer gewichtsintensiven Komponente einer Flachstrickmaschine, ließen sich deutliche Einsparungen erzielen. Bei dem Bauteil des Unternehmens H. Stoll AG & Co. KG war es möglich, nur dort Material anzubringen, wo tatsächlich Kräfte wirken. Auf diese Weise konnten Materialeinsparungen von rund 30 Prozent und eine Senkung der Herstellungskosten um 7 Prozent erzielt werden.

Die Leichtbauweise des Nadelbettenträgers ermöglichte durch einen reduzierten Energiebedarf folglich eine CO2-Reduktion um 30 Prozent pro Jahr. Hochgerechnet auf den gesamten deutschen Maschinenbau, ließe sich allein durch die Materialeinsparung aus diesem Beispiel jährlich der Stahlverbrauch um etwa 1,53 Millionen Tonnen und der CO2-Ausstoß um rund 2 Millionen Tonnen verringern [1].

Wellpappenmaschine: Masse bewegter Teile verringert

Dass insbesondere auch in der frühen Entwicklungsphase eine entscheidende Materialeinsparung möglich ist, verdeutlicht ein weiteres Beispiel. In der Wellpappen-Verarbeitungsmaschine der Wilhelm Bahmüller Maschinenbau Präzisionswerkzeuge GmbH bewegt ein Schlitten die Produktstapel im zyklischen Start-/Stopp-Betrieb innerhalb der Maschine. Für diese Bauteilgruppe wurde das größte Potenzial zur Optimierung der Funktion der Maschine ermittelt. Die Masse an bewegten Teilen mit Antriebskomponenten ließ sich durch eine Neukonstruktion um etwa 50 Prozent im Vergleich zur ursprünglichen Konstruktion reduzieren. Daraus resultieren im Betrieb der Maschine Energieeinsparungen von rund 40 Prozent und eine Senkung der Herstellungskosten um bis zu 25 Prozent.

Nach der Optimierung: Die Masse an bewegten Teilen mit Antriebskomponenten ließ sich durch eine Neukonstruktion um etwa 50 Prozent verringern. Grafik: Wilhelm Bahmüller GmbH

CO2-Einsparchancen betragen bis zu 36 Millionen Tonnen

Noch eindrücklicher wird das Potenzial für den Klimaschutz durch Leichtbau unter folgendem Betrachtungswinkel: Die Firma LCS Life Cycle Simulation GmbH berechnete exemplarisch anhand von zunächst nur wenigen Beispielen baden-württembergischer KMU aus dem Netzwerk der Leichtbau BW GmbH, wie viele Millionen Tonnen CO2 jährlich durch die Umsetzung von Leichtbauprinzipien eingespart werden können. Betrachtet wurden dabei Leichtbaulösungen aus den Branchen Maschinenbau und Mobilität. Insgesamt konnte durch die Leichtbauoptimierungen für die betrachteten Branchen ein Einsparpotenzial von bis zu 36 Millionen Tonnen hochgerechnet werden. Das entspricht in etwa dem jährlichen CO2-Ausstoß der Schweiz. Der Beitrag und das zukünftige Potenzial des Leichtbaus zum Klimaschutz sind damit enorm.

Fazit – Ohne Leichtbau kein Klimaschutz

In der Industrie schlummert großes Zukunftspotenzial, um unsere Ressourcen zu schützen, die Klimaziele zu erreichen und gleichzeitig Kosten zu sparen. Die Konstruktionsphilosophie des Leichtbaus vermag dieses Potenzial zu wecken. Die Werkzeuge zum Neudenken konventioneller Engineering-Methoden sind da – sie müssen nur genutzt werden.

Aktuelle Leichtbauprojekte und Unterstützung auf dem „Leichtbauweg“ für Unternehmen aller Art finden sich unter: www.leichtbau-bw.de. Die Leichtbau BW GmbH ist eine Wirtschafts- und Wissenschaftsförderung in Baden-Württemberg und vertritt das vermutlich größte Leichtbaunetzwerk der Welt, zu dem über 2.400 Unternehmen und 360 Forschungseinrichtungen gehören. Als 100-prozentiges Landesunternehmen agiert sie als neutraler und branchenübergreifender Ansprechpartner und unterstützt Industrie und Forschung auf ihrem Weg an die Spitze des Leichtbaus.

Technologietag Leichtbau im November 2021

Zu der Arbeit von Leichtbau BW gehört selbstverständlich der Technologie- und Wissenstransfer, auch in Form von Veranstaltungen. „Nachhaltigkeit durch Leichtbau in der Praxis“ lautet das Thema des kommenden „Technologietag Leichtbau – Global Lightweight Summit“. Am 09. und 10. November 2021 erleben Interessenten mehr zukunftsweisende Lösungsansätze im Hinblick auf die Klimakrise. Beim hybriden Event erwarten den Teilnehmer internationale Beispiele aus der Leichtbau-Praxis, ein Austausch mit der Community und exklusive Science & Business Touren. Mehr unter: www.leichtbau-technologietag.de

Literatur

  1. Hansmersmann, Anna / Bierenbaum, Christoph et al. (2016): Leichtbau im Maschinen-, Anlagen- und Gerätebau. Herausforderungen, Potenziale, Mehrwerte, Beispiele. Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Hg. von Bauernhansel, Thomas. www.leichtbau-bw.de/leichtbau-im-maschinenbau

Das könnte Sie auch interessieren:

Wertvolle Faser überzeugt mit „mehreren Leben“

Komplexer Entwicklungsprozess von Skizzen bis zum Fräsen

Additive Fertigung in der Schwerelosigkeit

Von Leichtbau BW / Birgit Etmanski