Autonome Funktionen sollten fachlich verstanden werden
Unter dem Motto „Bewährte Technik und innovative Technologien: Mit FTS und AMR bereit für zukünftige Herausforderungen“ fand die FTS-Fachtagung mit einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund statt.
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Das Thema der Podiumsdiskussion lautete „Autonome Fahrzeuge in der Intralogistik: Gibt es sinnvolle Use Cases?“ Natürlich wurde nicht die Sinnhaftigkeit von FTS und mobilen Robotern in Frage gestellt. Sondern hier ging es um fahrerlose Fahrzeuge, die im Sinne des FTS-Leitfadens „Autonomie bei mobilen Robotern“ über autonome Funktionen verfügen, beispielsweise über folgende:
- Das Ausweichen vor Hindernissen
- Das Verlassen fest vorgegebener Spuren, also die Verwendung von freigegebenen Flächen
- Die freie Wahl von Wegen zum Ziel durch das Fahrzeug selbst
Die Zuhörer wurden von Thomas Albrecht vom Fraunhofer IML zunächst mit einer Präsentation auf das Thema vorbereitet: Grundsätzlich soll gelten, dass ein „autonomes“ System mehr können muss als ein „automatisches“ System. So gibt es – wie auch im genannten FTS-Leitfaden beschrieben – tatsächlich gravierende Unterschiede zwischen den „klassischen“ Automatik-Funktionen und den Autonomie-Funktionen.
Die Moderation übernahm dann Dr. Günter Ullrich, Leiter des VDI Fachausschusses FTS und des Forum-FTS. Als Fachleute nahmen teil:
- Karl Rapp, DS Automotion
- Sven Kaluza, Omron Electronics
- Mathias Behounek, Safelog
- Michael Dold, Fa. Sick
Autonome Funktionen sind bei FTS nicht per se gut
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Günter Ullrich erklärte, dass es ganz reale Vorbehalte gegen Autonomie bei mobilen Robotern gibt. Er nennt insbesondere die folgenden Punkte:
- Hoher technischer Aufwand
- Verzicht auf einen großen Vorteil des FTS: Das FTS als Organisationsmittel
- Sicherheitstechnische Konsequenzen
Will man autonome Funktionen seriös realisieren, ist damit ein hoher technischer Anspruch verbunden: Einerseits an die Sensorik, aber auch an die Software. Denn das Fahrzeug muss seine Umwelt erkennen können. Dazu braucht es ein möglichst vollständiges 3D-Abbild seiner unmittelbaren Einsatzumgebung – dies kann letztlich nur auf fusionierten 2D- oder 3D-Sensordaten basieren. Die Datenflut muss dann reduziert werden, damit die anschließende Klassifizierung, also das Erkennen von Objekten in der Umgebung mit Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI, z. B. Maschinelles Lernen) erfolgen kann. Anschließend muss das Fahrzeug dann auf Basis dieses Modells Entscheidungen treffen und Aktionen ausführen. Dem zugrunde liegen Regeln sowie die Aufgabenstellung – keine einfache Aufgabe!
Das FTS als Organisationsmittel bedeutet, dass durch seine Verlässlichkeit, durch seine konstante Leistung und maximale Verfügbarkeit Ordnung, Sauberkeit und Struktur in der Einsatzumgebung eingefordert und gewährleistet wird. Das FTS erzwingt also Disziplin und ermöglicht dadurch einen hohen Durchsatz. Mit den autonomen Funktionen verzichtet man ganz oder teilweise auf diese Vorteile.
Außerdem führt die KI zu einem unvorhersehbaren und überraschenden Verhalten der Roboter. Das bedeutet, dass das Simulieren, Planen und Vorhersagen von Leistungsdaten erschwert oder sogar unmöglich wird, was zudem auch sicherheitstechnische Konsequenzen hat (siehe dazu den Autonomie-Leitfaden).
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FTS im Einsatz in öffentlich zugänglichen Bereichen
In öffentlich zugänglichen Bereichen steht meist nicht die Leistung und der Durchsatz im Vordergrund, sondern das sichere Zurechtkommen mit extremem Mischverkehr. Also Mischverkehr mit nicht unterwiesenen Mitarbeitern, mit Kindern, Patienten, Behinderten, Betrunkenen etc.
Typische Anwendungen sind:
- Dienstleistungen im Einkaufs-Zentrum, einem Museum/Theater oder in Messe-/ Ausstellungshallen
- Transporte auf der Krankenstation eines Krankenhauses/Pflegeheimes
- Reinigungsarbeiten im Innenbereich (Supermarkt, Flughafen-Abflughalle) oder auf öffentlichen Plätzen (z. B. Bahnhof, Einkaufsstraße)
Bei diesen Anwendungen ist der Einsatz von autonomen Funktionen nicht nur sinnvoll, sondern zwingend erforderlich. In der Podiumsdiskussion ging es aber um den Einsatz in der Intralogistik, also in innerbetrieblichen Bereichen mit unterwiesenem Personal.
Der innerbetriebliche Einsatz von FTS
Hier sind die Zielgrößen meist „Leistung und Durchsatz“, sodass viele Autonomiefunktionen kontraproduktiv wirken. Dann brauchen wir das FTS als Organisationsmittel, das die vorgegebene Transportmatrix schafft und zugleich für Ordnung und Sauberkeit sorgt. Beispiel: Eine Palette, die im Fahrweg steht, sollte nicht akzeptiert und von klugen Fahrzeugen autonom umfahren werden, sondern darf dort einfach nicht stehen.
Karl Rapp von DS Automotion sieht das so. Allerdings setzt er auf Fahrzeuge, die bezüglich ihres autonomen Verhaltens beides können: „Ja, es gibt sinnvolle Einsatzfälle. Autonome Funktionen müssen dort genutzt werden, wo sie von Vorteil sind. Wenn sie allerdings von Nachteil sind, müssen sie unterbunden werden. Wir bezeichnen das als Planbare Autonomie“, so Rapp.
Mathias Behounek von Safelog fügte hinzu: „Man sollte ein automatisches System so einfach wie möglich halten. Nur dann ist dieses gut zu handhaben, stabil und auch in den Kosten optimal.“ Das bedeutet natürlich, dass die Einsatzumgebung mit der Einführung der Automatisierung gegebenenfalls angepasst werden muss.
In der Intralogistik geben meist die Maschinen den Takt vor. Der Mensch bedient die Maschine, und der Roboter verhält sich wie eine Maschine, die er verkettet. Dann bilden Maschinen und Roboter eine Leistungseinheit. Die Maschinen (und Roboter) arbeiten vollständig automatisch, ohne autonome Funktionen, aber eben mit maximaler Leistung. Das FTS muss technisch möglichst einfach ausgeführt sein, damit es vorhersagbar arbeitet, leicht zu bedienen, zu reparieren und zu warten ist.
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Sinnvolle Einsatzfälle für FTS in der Intralogistik
Wenn der mobile Roboter sehr eng mit Menschen zusammenarbeitet, können autonome Funktionen sinnvoll sein. Der Mensch bewegt sich frei und unbedarft. Der Roboter muss sich maximal rücksichtsvoll und „menschlich“ verhalten. Beispiele sind Einsatzfälle mit starkem Mischverkehr, also wenn neben den automatischen Fahrzeugen auch manuell bediente Stapler oder Routenzüge unterwegs sind. Hier gibt es zumindest erhöhte Anforderungen an die automatischen Fahrzeuge, um den manuellen Fahrzeugen aus dem Weg zu gehen, oder aber so intelligent und flott zu agieren, dass die Fahrer der manuellen Fahrzeuge wenig Grund haben, sich über die (bisher oft zu langsamen und „dummen“) Fahrzeuge zu ärgern.
Ein weiteres Beispiel ist die Kommissionierung oder das gleichzeitige Arbeiten am Montageobjekt: Hier könnte der Mitarbeiter die leitende Instanz sein und der Roboter durch Tragen, Anreichen und wiederholende Tätigkeiten unterstützen. Autonome Funktionen können hier sinnvoll sein.
Sven Kaluza von Omron Electronics beschrieb die Vorteile der AMRs etwas allgemeiner: „Ja, es gibt sinnvolle Use Cases für den Einsatz Autonomer Mobiler Roboter (AMR). Der steigende Wunsch nach Individualität bei uns Verbrauchern stellt die Produktionsplaner vor neue Herausforderungen hinsichtlich Flexibilität, gerade in High-Mix-Low-Volume-Szenarien. Mit dem Einsatz von AMR lassen sich diese einfach und skalierbar umsetzen und bieten so auch eine Lösungsstrategie für den Arbeitskräftemangel und die Ergonomie am Arbeitsplatz.“
Der wohl wichtigste Beweggrund, bei der Neuanschaffung von mobilen Robotern auf AMRs zu setzen, ist wohl die Hoffnung, auf umfangreiche Planungen und Vorbereitungen der Einsatzumgebung verzichten zu können und trotzdem schnell einen einfachen Einstieg in die Automatisierung zu erreichen. Der AMR übernimmt also die Aufgabe, die vor Existenz der autonomen Funktionen der planende und regelgebende Mitarbeiter erfüllen musste. Motto: „Lass uns doch mal mit einem Fahrzeug anfangen. Wenn das Fahrzeug intelligent genug ist, wird es mit unserem existierenden Chaos schon zurechtkommen.“ So werden fehlende Erfahrung und Einsatzbereitschaft der Planer kaschiert und kurzfristige Projektziele erreicht.
Michael Dold von Sick vertritt ein Unternehmen, das auf der Seite der Sensor- und Steuerungstechnik die FTS-Hersteller unterstützt. Er weiß, dass die Aufwendungen für die Realisierung von autonomen Funktionen hoch sind. Nicht immer rechtfertigt der Nutzen die damit verbundenen hohen Kosten: „Autonomie macht Sinn, wenn sie für den Betreiber einen erkennbaren Nutzen bringt, ohne die Personen- oder Prozesssicherheit zu beeinträchtigen.“
Am Ende der Diskussionsrunde fasste Günter Ullrich zusammen, dass es von entscheidender Bedeutung ist, das „A“ im AMR, also die autonomen Funktionen, nicht nur als Buzz-Wort der Marketing-Abteilungen zur Kenntnis zu nehmen, sondern fachlich zu verstehen: „Ich freue mich immer, wenn sich Kunden Gedanken über das Thema machen und genau begründen können, warum sie autonome Funktionen brauchen oder eben auch nicht.“
Vorankündigung der nächsten FTS-Fachtagung
Die 17. FTS-Fachtagung wird am 25. September 2024 erneut am Fraunhofer IML in Dortmund stattfinden.
Thomas Albrecht, Dr. Günter Ullrich