Die FTS-Branche boomt
Die Logistik als Kernbranche der Wirtschaft wandelt sich dank Trends wie der Digitalisierung und neuer Geschäftsmodelle wie kaum ein anderer Bereich. Um den damit verbundenen steigenden Anforderungen gerecht zu werden, nehmen Automatisierungslösungen eine immer wichtigere Rolle ein. Über neueste Technologien hierfür, damit verbundene Chancen und Fragen der Wirtschaftlichkeit, diskutierten Experten auf dem 7. Technologieforum Fahrerlose Transportsysteme (FTS) und mobile Roboter am 20. September am Fraunhofer IPA in Stuttgart.
Der weltweit führende Online-Versandhändler Amazon macht es vor: Nicht nur was Marktwert, Umsatzzahlen, die Anzahl der verfügbaren Produkte oder Kunden angeht – in all diesen Bereichen ist das Versandhaus spitze. Und auch beim Automatisierungsgrad ist das Handelsunternehmen bereits weit fortgeschritten. So standen im Jahr 2016 den 306 800 Mitarbeitern bereits 45 000 eingesetzte Roboter gegenüber, wie Statista mitteilt. Schaut man in Patentdatenbanken, weisen diese für Amazon deutlich über 500 einzelne Patentanmeldungen für FTS auf. Jährlich kommen etwa zehn Patentfamilien hinzu. Der Fokus liegt dabei weniger auf echten Basis-Erfindungen zur FTS-Technik, sondern vielmehr auf (meist) technischen Details, die das Pick-Kommissionieren betreffen. Amazons Trends und auch Probleme mit FTS lassen sich gut an den Patenten ablesen.
Natürlich ist Amazon nur eines von unzähligen Beispielen, an denen sich der Wandel insbesondere in der Intralogistik aufzeigen lässt. Das alle zwei Jahre stattfindende Stuttgarter Technologieforum machte auch dieses Jahr vor ausverkauften Rängen deutlich, welche Fragen und neuen Entwicklungen die Branche aktuell beschäftigen.
Trends und Lösungen rund um FTS
Mehrere FTS-Anbieter präsentierten während der Veranstaltung Innovationen aus ihrem Portfolio. Für die Firma Dematic Egemin, zugehörig zur Kion Group, liegt der Fokus auf der Integration von FTS in vernetzte Produktionen, damit Unternehmen besser auf den beschleunigten technischen Fortschritt und verkürzte Entwicklungs- bzw. Lebenszyklen sowie die stark gestiegene Variantenvielfalt von Produkten reagieren können. Intelligente, flexible Automatisierungslösungen haben das Potenzial, auch bei steigendem Kosten- und Zeitdruck, effizient zu produzieren. FTS leisten dabei schon heute weit mehr als den reinen „Taxibetrieb“. Zu ihren Aufgaben gehört bspw. die komplette Steuerung und Verwaltung des Lagers – direkt von und aus dem fahrerlosen Transportfahrzeug, dem FTF.
Günter Ullrich vom Forum FTS thematisierte die Frage der längst überfälligen Standard-Schnittstellen, die für eine reibungslose Integration und weniger Abhängigkeit von einem Lieferanten essenziell seien. Sein Systemkonzept einer solchen Standard-FTS-Leitsteuerung ist sowohl an das Enterprise-Ressource-Planning-System angeschlossen als auch an periphere Einrichtungen wie Transportgüter, Lastübergabestationen, stationäre Signal- und Meldeeinrichtungen etc.. Zudem kommuniziert die Steuerung mit Gebäudeeinrichtungen wie Türen, (Brandschutz-)Toren, Aufzügen und anderen Maschinen. Pro Fahrzeugtyp kommt ein Adapter zum Einsatz. Die Steuerung selbst greift auf Informationen aus einer Datenbank bzw. einem Cloudserver zurück, die bzw. der beispielsweise digitale Landkarten mit allen Fahrwegen, Routen für dynamische Umleitungen bei Staus und auch Regeln für eilige Aufträge bereithält. Aktuell arbeiten der VDA (Verband der Automobilindustrie) und VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) bereits im Auftrag von Daimler, VW, Audi, BMW, Porsche und Opel an einer solchen Lösung. Der VDI wiederum erstellt Richtlinien für viele Peripherie- und Gebäudeeinrichtungen.
Der FTS-Anbieter MLR präsentierte Anwendungen, die das Unternehmen mit ihren verschiedenen Fahrzeugtypen realisiert hat. Ein besonderer Fokus lag hierbei auf einer sehr kurzen Installationszeit. Darüber hinaus erreichen deren Anlagen auch bei Spezialeinsätzen eine maximale Verfügbarkeit von über 99 %, wie Beispiele bei Lufthansa Technik und in einer Käseproduktion zeigen. Dass zunehmend auch nicht-industrielle Einsätze von FTS gefragt sind, belegen die realisierten FTS-Anlagen in mehreren Krankenhäusern.
Innovationen für neue Anwendungen
Wie der Weg vom heutigen Produktionsumfeld zur Smart Factory gelingen kann, stellte die Firma Grenzebach vor. Hierfür wurde der „Grenzebach Application Server“ entwickelt, mit dem Daten, die in einer modularen Montage anfallen, ausgewertet und zur Effizienzsteigerung genutzt werden können. FTS sind dabei nicht nur physikalische Transportplattformen, sondern bieten die notwendigen Daten, ein intelligentes Flottenmanagement und die Ankopplung an nahezu alle Produktionselemente der Smart Factory. Zudem haben Unternehmen heute die Wahl zwischen „Ware-zum-Mann“- oder „Mann-zur-Ware“-Systemen. Indem auf klassischen FTS ein Industrieroboter installiert wird, können die Systeme sogar Greifaufgaben ausführen. Auch Safelog stellte verschiedene Möglichkeiten für die Kommissionierung vor, zu denen spezielle Kommissionierarbeitsplätze gehören, Mitfahrplattformen sowie Beamershuttle.
Die Bedeutung von Kommissionierrobotern stellte der Vortrag von Magazino heraus, der die Vision des ersten selbstdenkenden Warenlagers ausführte. Für dieses sieht die Firma den Einsatz von kooperativen Robotern als entscheidend an. Während bisherige Systeme eher starre Lösungen bieten und der Mensch noch immer der zentrale Faktor ist, können die kooperativen Roboter sowohl für „Pick-by-Robot“-Lösungen für den Fullfilment-Sektor als auch für „Supply-by-Robot“-Anwendungen für die Produktionsversorgung genutzt werden. Mit dieser flexiblen Automatisierungslösung wird stückgenaues Handling möglich und ebenso der Einsatz von Robotern parallel zum Menschen. Dies erhöht die Flexibilität der Lösung, Lohn- und Prozesskosten werden gesenkt und auch ganz neue Logistikkonzepte ermöglicht.
Künftige Märkte
Viastore Systems aktiviert mit seiner neuesten Entwicklung viarobot das vakante Automatisierungspotenzial, das daraus besteht, dass bisher noch immer der Mensch das Kommissionieren manuell durchführen muss. Deren Ziel ist die flexible Plug&Play-Automation dieser manuellen Lager. Die Kommissionierroboter navigieren cloudbasiert und können somit bedarfsflexibel eingesetzt werden. Eine vorausschauende Navigation verhindert Kollisionen und Staus, die Initialisierung der Fahrzeuge über die Cloud macht diese schnell einsatzbereit. Es ist lediglich eine minimale Infrastruktur in Form von Barcodetags notwendig. Dadurch, dass Mensch und Roboter getrennt arbeiten, sind klare Prozesse und eine höhere Leistung umsetzbar.
Den Abschluss der Tagung bildeten Einblicke in laufende Projekte bei Fraunhofer. Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML stellte zunächst seinen „Smart Transport Robot“ für die BMW Group vor. Gefragt war ein Unterfahr-FTF für automatische Transporte und Lastwechsel von einzelnen Rolluntersetzern als Ersatz für manuelle Routenzüge, mit dem sich Individual-Transporte realisieren lassen. Spezifische Anforderungen, wie der Verzicht auf Infrastruktur auf dem Hallenboden und auf Veränderungen an den Rolluntersetzern sowie deren Anheben beim Transport, waren zu berücksichtigen. Ergebnis ist ein neu konzipiertes FTS, das Ende September dieses Jahres in den Testbetrieb gegangen ist. Zudem entwickelte das Fraunhofer IML das FTF für KLT-Lager „Stack Access Machine SAM“ für ein hochflexibles Lagersystem. Die Behälter werden in Stapeln gelagert und dennoch ist ein wahlfreier Zugriff auf jeden Behälter möglich.
Navigation 4.0
Am gastgebenden Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA beschäftigen sich die Experten intensiv mit Navigationslösungen für mobile Robotik. Neben zahlreichen Anwendungen, die teilweise bereits im industriellen Dauereinsatz sind, liegt der Fokus der Experten aktuell auf der Entwicklung einer „Navigation 4.0“, bei der zunehmend vernetzte FTF ihr ganzes Potenzial ausspielen können. Bisher agieren FTF meist als autarke, voneinander weitgehend unabhängige Systeme, die die jeweils erforderliche Sensorik und Rechnerhardware mitbringen. Die Leitsteuerung, die entsprechend den Transportaufträgen die Pfadplanung optimiert, ist zwar schon heute das Element, das mit allen FTF verbunden ist. Diese Verbindung ist jedoch überwiegend einseitig und ein sog. „Top-Down-Prozess“: Es gibt nur wenige Rückmeldungen des Fahrzeugs an die Leitsteuerung, z. B. in Form von internen Zuständen wie Geschwindigkeit oder einem Not-Aus. Auch gibt es keine Meldungen an andere Fahrzeuge der Flotte.
Genau diese Form der Rückkopplung oder eines „Bottom-Up-Prozesses“ aber eröffnet die Möglichkeit, dass wichtige Informationen, die die einzelnen Fahrzeuge ohnehin erfassen, für die gesamte Flotte bereitstehen. Diese Informationen sind Grundlage dafür, dass die Anlage wandlungsfähiger wird und zudem in einer dynamischen Umgebung effizient navigieren kann. Konkret bedeutet dies, dass die Kartenerstellung und Lokalisierung auf Basis eines kooperativen SLAM („Simultaneous Localization and Mapping“) erfolgt, was die Verfügbarkeit und Präzision der Lokalisierung stark verbessert. Zudem ist es möglich, zur Kartenerstellung und -aktualisierung auch externe Sensoren zu nutzen, die in der Produktionsumgebung ohnehin vorhanden oder an anderen Fahrzeugen wie Gabelstaplern angebracht sind.
Auch bei der Pfadplanung dient die Vernetzung dazu, dass alle Fahrzeuge gemeinsam an einer globalen Optimierungsstrategie für die Anlage teilhaben. Indem stets eine aktuelle Karte vorliegt, kann der zentrale Server diese nutzen, um optimale kooperative Pfade für die gesamte Flotte zu planen. Für das einzelne FTF bedeutet dies, dass auf seinem geplanten Pfad dynamische Hindernisse wie andere, zur Flotte gehörende Fahrzeuge, sonstige Fahrzeuge oder Personen sowie entsprechende Ausweichmanöver bereits berücksichtigt sind, obwohl das FTF selbst sie möglicherweise noch gar nicht detektiert hat. Dies reduziert Stillstände und der bereitstehende Navigationsbereich wird optimal ausgenutzt.