„Digitalisierung ist für uns nicht nur Mittel zum Zweck“
Für die Schweiz ist die Bahn traditionell seit 175 Jahren ein sehr wichtiger Verkehrsträger. Im Interview spricht Daniel Balmer, Leiter Transportlogistik Genossenschaft Migros-Ostschweiz, über den Stellenwert der Bahn für die Genossenschaft Migros Ostschweiz.
LfU: Herr Balmer – welche Bedeutung hat der Verkehrsträger Bahn für die Migros?
Daniel Balmer: Die Migros-Ostschweiz ist vom Umsatz her die drittgrößte und von der Wirtschaftsgebietabdeckung die größte Genossenschaft. Durch unsere perifere Lage im Osten der Schweiz und den eher im Mittelland angesiedelten Produktions- und Verteilcenter nutzen wir die Bahn extrem stark (Migros Supply-Chain-Strategie: Food und Non-food zentral, Frische und Ultra-Frische regional). Wir haben hier über 14 000 Bahnwagenbewegungen im Jahr und da ist der Anteil des kombinierten Verkehrs noch gar nicht eingerechnet.
Die Bahn hat für die Migros aus der Vergangenheit eine doppelte Rolle. Einerseits ist es der Verkehrsträger, der für die großen Warenbewegungen zwischen den Industrien, Verteilzentren und den Genossenschaften zuständig ist. Das Zweite ist, dass die Bahn bis vor Kurzem eine der ökologischsten Lösungen war. Mit wenig Aufwand kann man sehr viele Tonnen bewegen. In der Schweiz war der Stromanteil bei der Bahn schon immer über 80 % Wasserkraft. Das ist unsere heimische Energiequelle. Mittlerweile liegen wir sogar bei 100 %.
Das Thema Bahn ist uns sehr wichtig. Im Grundsatz kann man sagen, was in der Schweiz über weite Strecken für die Migros transportiert wird, wird mit der Bahn transportiert. Wenn es keinen Sinn mehr macht, gehen wir auf die Straße. Die Filialbelieferung erfolgt ab den regionalen Frischeplattformen per Lkw. Die Migros ist einer der größten Bahn-Kunden und hat etwa 50 % der Migros-Transporte auf der Schiene – abgesehen natürlich von der Filialbelieferung.
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LfU: Spielt die Nachhaltigkeit dabei eine besondere Rolle?
Daniel Balmer: Für die Migros war dieser ökologische Ansatz schon immer wichtig und richtig. Wenn wir etwas ökologisch transportieren können, dann wollen wir das auch. Da hatte die Bahn klare Vorteile zur Straße. Das ändert sich gerade sehr, da die Lkw mit alternativen Antriebssystemen zunehmend verfügbar und bezahlbar werden. Die Migros Ostschweiz setzt dabei vor allem auf 100 % CH-Biogas und grünen Wasserstoff.
Was aber auch dazu kommt ist, dass Bahn anders ist als Straße. Wir haben einen Parallelverkehr zu der Straße. Damit gibt es die Möglichkeit, auf sehr beengtem Raum der Straße auszuweichen. Man muss aber dazu sagen: Es gibt in der Schweiz Ecken, da ist deutlich mehr Verkehr auf der Schiene als auf der Straße.
Seit Kurzem kommt ein neuer Verkehrsträger dazu: der kombinierte Verkehr. Dieser war in der M-Welt-Vergangenheit eher unbedeutend, jetzt ist es ein Wachstumsgeschäft, in dem wir die Vorteile der Bahn mit den Vorteilen des Lkw und das erst noch nachhaltig kombinieren. Dadurch kommt dem Verkehrsträger eine neue Note zu. Mit diesem kombinierten Verkehr können wir jetzt nämlich bis fast in die Filialen fahren – etwa in die Filiale Samedan im Engadin: Zu unserer neuesten hochalpinen Filiale fährt die Bahn bis 700 m vor die Rampe. Und darum hat die Bahn für uns eine ganz große Bedeutung.
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LfU: Die Schnittstelle des Bahnverkehrs in die Prozesse des Werksverkehrs ist die Zugankunft?
Daniel Balmer: Ja und nein. Es ist so: Wir beliefern die Filialen per Lkw und wollen möglichst wenige Fahrten dazu machen. Das heißt, wir nehmen auf einem Transport alle Warengruppen, also zum Beispiel Ultra-Frische, Food, Non-Food usw. zusammen, und das auf einem Lkw. Die Frische wird regional kommissioniert, Food und Non-Food aber kommen bei uns per Zug an. Dies ist ein zwingender Zusammenladungseffekt, da wir die größten Distanzen zu unseren Filialen aufweisen. Im Vergleich hat die Genossenschaft Zürich beispielsweise ein viel kleineres Wirtschaftsgebiet, ist aber die umsatzstärkste Genossenschaft. In Zürich können sie schnell noch einmal fahren, weil es viel kürzere Distanzen zur Filiale gibt. Im Unterschied dazu müssen wir in der Ost-Schweiz immer bündeln und auch immer mit Anhänger unterwegs sein.
Hinzukommt, dass Frische hier in Gossau angesiedelt ist, Food in Suhr und Non-Food in Neuendorf. Das bedeutet, wenn wir von hier wegfahren und alle Sortimente auf einem Lkw haben, müssen wir drei verschiedene Prozesse synchronisieren: Den Frische-Prozess, den wir intern bewirtschaften, die Zugankunft von Suhr als Ganzzug und dann noch die Zugankunft des Ganzzuges von Neuendorf. Das heißt, drei verschiedene Warenprozesse müssen wir zusammen auf denselben Lkw bringen. Das können Sie nur noch digital effizient verarbeiten. Daher ist die Digitalisierung für uns nicht nur Mittel zum Zweck – es geht gar nicht anders.
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LfU: Was bedeutet das in der Praxis?
Daniel Balmer: Hier an der Rampe steht ein Lkw. Der muss zu einer Filiale fahren. Nun müssen alle Prozesse so gesteuert werden, dass der Lkw entsprechend beladen werden kann. Wenn sie so viel Platz haben, damit sie ganze Züge ausladen und in die Halle stellen können, dann funktioniert das. Sie müssen aber wissen, dass wir am Tag 8 800 Paletten transportieren. Davon ist rund die Hälfte Vorwärtslogistik. 4 500 Paletten müssen Sie so managen, dass immer die richtige Palette verfügbar ist, wenn der Trailer abfährt. Das bedeutet, Sie müssen schauen, dass die Kommissionierung „Ungekühlt“ eine bestimmte Palette bringt, die Kommissionierung „Gekühlt“ muss eine bestimmte Palette bringen, der Zug aus Suhr muss eine bestimmte Palette bringen und der Zug aus Neuendorf auch.
Da draußen haben wir eine Halle, in der wir sechs Wagen gleichzeitig abladen. Wir haben im Schnitt 48 Wagen am Tag, an Spitzentagen 70. Also müssen Sie wissen, welche Palette auf welchem Wagen ist. Dann müssen Sie rangieren, um den richtigen Wagen hier hereinzubringen. Aber nicht nur den vom Zug aus Suhr, sondern auch noch den aus Neuendorf. Diese Koordination ist eine Eigenheit, die es in dieser Form nur bei der Migros-Ostschweiz gibt. Ich glaube aber, dass wir das für unseren Prozess hervorragend managen. Das ist die große Herausforderung auf dem Yard: Unter dem Strich steuert der Lkw-Prozess den Bahnprozess auf ein und demselben Yard. Das geht nur digital.
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LfU: Im Bahnbereich verzichten Sie auf einen Bahnleitstand. Die Rangierdisposition verläuft im Gleisbett, richtig?
Daniel Balmer: Wir haben mit der SBB-Cargo, unserem Carrier für die Bahn, sehr früh auf einen digitalen Prozess gesetzt. Daher haben wir die Züge aus Suhr und Neuendorf digital vorliegen. Wir hatten aber kein System, das das Rangieren auf dem Gleis gemanagt hat. Dadurch hatten wir das Problem, dass es zwei Systeme – und damit für das Personal zwei verschiedene Tablets – gab: das Gleismanagement im Yard Management von leogistics und das System der SBB. Das ging natürlich nicht.
Die Herausforderung war, aus zwei Tablets für den Mitarbeiter eine Benutzeroberfläche zu machen. Im Hintergrund dürfen es ja immer noch zwei Systeme sein – aber nicht für den Mitarbeiter – der hat ja nur zwei Hände. Und damit muss er noch eine Funkfernbedienung bedienen, die Lok fahren und die Schranke bedienen.
Wir mussten also eine Anwendung schaffen, die alle notwendigen Informationen zusammenführt und das nicht in einem Leitstand – den gibt es bei uns nämlich nur beim Schichtleiter auf der Fläche. Wir haben leogistics Rail als Basis genommen und eine Schnittstelle zur SBB Cargo geschaffen. Der Informationsfluss war zu Beginn eine große Herausforderung und – wie gesagt – nicht auf einen zentralen Leitstand zu setzen.
LfU: Durch den Einsatz von leogistics Yard Management haben Sie Ihre operative Plattform, multiverkehrsträgerfähig, und können diese Prozesse zusammenbringen. Wie geht es nun weiter?
Daniel Balmer: Ich glaube, wir haben jetzt eine wirklich sehr gute Basis. Es gibt keine schwarzen Löcher mehr im Informationsfluss. Aber wir haben noch weitere Ziele. Ein Faktor waren dabei auch die zwei Jahre Pandemie. Der Lebensmittelhandel ist ja förmlich explodiert. Feiertage wie Ostern fangen wir normalerweise drei Monate vorher an minutiös zu planen. Und auf einmal ist alles wie Weihnachten und Ostern zusammen. Die Pandemie hat uns dann einen zwei Jahre andauernden Ausnahmezustand beschert.
Heute wissen wir, dass wir das ohne die vorangegangene Digitalisierung niemals so geschafft hätten. In einer solchen Krise erkennt man, ob das Schiff wirklich sturmtauglich ist. Das hat auch den letzten Zweifler überzeugt, dass die Aufgabenteilung in den verschiedenen Softwarelösungen richtig war. Nach diesen zwei Jahren bin ich absolut überzeugt, dass wir die richtige Strategie fahren – auch wenn wir im Kleinen noch viel verändern können.
LfU: Sicherlich gibt es noch viele weitere Ideen. Wo geht die Reise hin?
Daniel Balmer: Momentan sind wir an dem Punkt, dass das System die nächsten Schritte vorgibt. Aber der Mensch muss noch zu viel handeln, damit der Betriebszustand so ist, dass man weiterarbeiten kann. In Zukunft wollen wir, dass die Maschine mehr mit anderen Maschinen redet. Eine Maschine kann nicht nur planen, sondern eine Maschine kann auch einer anderen sagen: „Schau mal, ich habe dich vorgesehen – mach mal, damit du bereit bist, wenn ich dich brauche!“ So kann man dem Menschen gewisse Themen abnehmen. Dann wird er noch mehr zum Manager und nicht mehr zum Handlanger des Systems.
Ein Beispiel: Bei der Bahn müssen wir Wagenstandgeld-Pönalen zahlen, wenn wir die Wagen zu lange bei uns haben. Das System soll in Zukunft die Entladung so anstoßen, sodass wir Pönalen vermeiden. Dabei reicht kein Alert, sondern es soll sagen „Mach was!“
Ein anderer Fall: In Ausnahmesituationen bleibt ein Lkw aus Systemsicht auf dem Areal, obwohl er schon auf dem Weg zur Filiale sein sollte. Entweder wir haben den Trailer digital nicht erfasst, oder er steht einfach noch da und keiner merkt es. Auch hier wünsche ich mir einen Alert: „Dieser Trailer müsste gemäß meiner Planung morgens um vier Uhr das Areal verlassen.“ Wenn er sich um 4:10 Uhr noch nicht bewegt hat, dann stimmt etwas nicht. Also Alarm und „mach was!“
Ein drittes Beispiel unter dem Stichwort „weniger Hände als Anwendungen“. Der Mitarbeitende sowie der Schichtleiter auf der Fläche müssen noch dahingehend unterstützt werden, dass die Kommunikation, aber auch Interaktion „Mensch – Maschine – Mensch“ über Sprach- und Gestensteuerung erfolgt. „Google Glass“ ist hier eine zwingende Anforderung der nahen Zukunft.
LfU: Herr Balmer, wir danken für das spannende Gespräch!
Über Migros-Ostschweiz
Die Migros Ostschweiz ist eine der größten von zehn regionalen Genossenschaften innerhalb der Migros-Gruppe. Sie beschäftigt knapp 9 000 Mitarbeitende aus rund 90 Nationen. Das Wirtschaftsgebiet erstreckt sich über die Kantone Appenzell Inner- und Ausserrhoden, Graubünden, St. Gallen, Schaffhausen und Thurgau. Der nördliche und östliche Teil des Kantons Zürich sowie das Fürstentum Liechtenstein gehören ebenfalls zu Migros Ostschweiz. Die Betriebszentrale befindet sich in Gossau SG.
Das Kerngeschäft der Migros Ostschweiz ist der Detailhandel. In der Region betreibt das Unternehmen die bekannten Migros-Supermärkte, einige M-Outlets sowie die Fachmärkte Do it + Garden, melectronics, Micasa und OBI. Hinzu kommen die Sportmärkte SportXX, Outdoor by SportXX und Bike World by SportXX. Das gastronomisches Angebot von Migros Ostschweiz richtet sich mehrheitlich an Privatkundschaft und umfasst neben den Migros-Restaurants und den Migros-Take-aways auch Catering Services. Gleichzeitig ist das Unternehmen für Firmen in der Gemeinschaftsgastronomie tätig. Vielseitig unterwegs ist Migros Ostschweiz auch in der Freizeitbranche und betreibt das Freizeit- und Einkaufscenter Säntispark in Abtwil, das unter anderem mit einem Rutschenpark und Wellness-Angeboten auf sich aufmerksam macht. Auch der Seilpark Gründenmoos wird von der Migros Ostschweiz geführt.