Wie verändert sich die globale Produktion nach der Pandemie?
Die Welt ist derzeit aufgrund der Einschränkungen durch den „Corona“-Virus im Wandel. Dies betrifft neben den Menschen ebenso die Industrieproduktion mit ihren weltweiten Verflechtungen und komplexen Lieferketten – ein Blick in die Zukunft.
Prof. Dr.-Ing. Alexander Klein MBA, Professor an der Hochschule Rhein-Waal, nimmt im Interview mit der VDI-Z Stellung zu aktuellen Fragen, die (nicht nur) deutsche Industrieunternehmen beschäftigen, und skizziert Zukunftsszenarien.
VDI-Z: Herr Klein, Sie sind Experte für Integriertes Produktionsmanagement, schauen ganzheitlich auf das Thema der industriellen Produktion. Wie wird sich die globale Produktion verändern?
Klein: Grundsätzlich bin ich mit Prognosen zurückhaltend, da Experten da genauso oft falsch liegen wie Laien. Vieles ist denkbar und nichts wirklich im Voraus berechenbar. Allerdings kann man sich Szenarien ausmalen, die innerhalb gewisser Rahmenbedingungen logische Konsequenzen der Ereignisse sein könnten.
Beschreiben Sie bitte eine positive Version unserer zukünftigen Welt.
Schön wäre es, wenn die Menschheit diese bislang einzigartige Art von Krise als Chance begreift und sich künftig anders verhält als bisher. Eine Welt, in der wir alle weniger CO2 produzieren und trotzdem leben können – auch ohne Erdbeeren im Winter und ohne 200 PS unter den Motorhauben unserer Autos. Eine Welt, in der Produkte lange genutzt und repariert werden, wenn sie defekt sind. Und mit weniger Verkehr in der Luft sowie auf den Straßen, weil die Menschen gelernt haben, auch vieles, was vorher angeblich nur im Präsenzmeeting ging, aus der Ferne zu machen. Eine Welt, in der weniger mehr ist und wir Wohlstand und Wohlergehen neu definieren.
Das hat dann nicht nur etwas mit der Vermeidung von Pandemien zu tun, sondern mindestens genauso viel mit Umweltschutz und Achtsamkeit?
Natürlich, denn alles hängt mit allem zusammen. Natürlich zerlegen wir Ingenieure Probleme gern in Teilprobleme, aber sie müssen letztlich alle gelöst werden. Die bessere Welt kann entstehen, wenn die verschiedenen Herausforderungen wie globale Erwärmung und Pandemierisiko in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden. Wir würden dann auch wieder mehr Güter lokal produzieren und unsere Lieferketten stark umstrukturieren. Denn heute hat selbst ein regional erzeugter Apfel meist schon eine Reise von 400 km hinter sich, wenn er im Supermarkt ankommt – und dementsprechend einen hohen CO2-Ausstoß verursacht. Bei den meisten Industrie- und Konsumgütern ist das natürlich noch viel extremer.
Sollen wir die Globalisierung also rückabwickeln?
Rückabwickeln wäre vielleicht etwas zu viel gesagt. Aber deutliche Korrekturen sollte es schon geben. Wir sollten schon jetzt kühne Visionen entwickeln und nicht nur die Krise managen und danach einfach weiter machen wie bisher. Die globalisierte Welt basiert auf einem immer weiter zunehmenden Grad an Spezialisierung auf immer mehr Auswahl an Gütern und Varianten und auf immer mehr Arbeitsteilung. Wir streben nach Skaleneffekten und wollen große Fabriken bauen, da diese geringe Stückkosten erzielen, nutzen bei der Standortwahl Lohnkostenunterschiede und extrem geringe Transportkosten aus. Das müssen wir infrage stellen.
Und was wäre dazu der Gegenentwurf? „Selbstversorgertum“ und Manufakturen?
Ja und nein. Nicht jeder Haushalt soll seine eigenen Möbel und Autos bauen. Aber die Weltregionen könnten autarker werden, und auch die Regionen innerhalb der Weltregionen – je nach Art der Güter könnte es unterschiedliche rechnerische Autarkieradien geben. Bei einem Apfel oder einem Tisch wäre dieser kleiner als bei einer komplexen Dampfturbine. Das ist auch jetzt schon so, nur müssten sie insgesamt kleiner werden.
Und was würden wir dafür aufgeben?
Zum Beispiel könnten wir dann nicht mehr aus hunderten von Handymodellen und Millionen von Autokonfigurationen wählen. Aber mit darauf ausgerichteten Industrie 4.0-Vorhaben müssten wir auch nicht zu einem Einheitsauto zurückkehren. Es wäre schon für jeden etwas dabei. Und das in Kombination mit etwas höheren Preisen und einer Technikkultur, in der auch Handys repariert und mehr als zwei Jahre genutzt werden.
Die Themen Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und Industrie 4.0 bleiben dennoch wichtig. Zum Teil sind sie sogar die Antwort auf Fragen der Pandemiebeherrschung, beispielsweise bei der schnellen Verbreitung von Informationen, der Koordination der Verteilung von Gütern, der Modellbildung und Ausbreitungsprognose. Und natürlich hilft die komfortable Telekommunikation, die immer mehr einem Präsenzmeeting gleicht – schließlich merken wir alle, dass jetzt im Home Office digitale Technologien besonders gefragt sind.
Also bleiben KI und Digitalisierung die Trendthemen?
Ja, aber in anderer Schwerpunktsetzung. Dinge müssen neu priorisiert werden – wie zuvor in der Vision der lokalisierten Produktion beschrieben. Wir merken jetzt aber auch, dass die künstliche Intelligenz nicht die Antwort auf alle Probleme ist. Im Krisenmanagement ist Improvisation, gesunder Menschenverstand und Schnelligkeit gefragt. Das sind menschliche Fähigkeiten. Künstliche Intelligenzen dafür zu bauen, dauert zu lange. Insbesondere wenn diese zum Teil noch angelernt werden müssen. Aber KI hilft natürlich auch weiterhin in der Medizin.
Wie können Unternehmen ihre Produktion pandemiesicher machen?
Produktionsmanager haben viele Freiheitsgrade bei der Gestaltung der Lieferketten, der Wertschöpfungstiefe und damit auch der Robustheit eines Produktionssystems. Multiple Sourcing hilft gegen Ausfälle einzelner Lieferanten. Und etwas mehr Pufferbestand im Rohmateriallager beziehungsweise der Verzicht auf Just-in-Time- und Just-in-Sequence-Konzepte würde die Fabrik am Laufen halten, wenn ein Schiff oder ein Lkw einmal ein paar Tage festhängt. Mehr Eigenfertigung gibt einem mehr Einfluss auf die Verfügbarkeit von Teilen und die Priorisierung von Produktionsaufträgen. Dies ermöglicht zum Teil auch die Umwidmung von Ressource, beispielsweise auch Mitarbeitern. Und Automation schützt gegen krankheits- und quarantänebedingte Arbeitskräfteausfälle, solange die kritischen Personen wie Roboterprogrammierer und -instandhalter nicht ausfallen.
Dann ist das Problem ja schon gelöst?
So einfach ist es nicht, denn all diese Maßnahmen haben ihren Preis. Es ist eine Abwägung von Gütern – Ausfallsicherheit versus geringe Bestände und hohe Automationsgrade sind abzuwägen gegen geringe Fixkosten für die Abschreibung der Automationsanlagen. Da gibt es schon sehr viele Zusammenhänge, die verstanden, quantifiziert und beachtet werden müssen, um gute Entscheidungen zu treffen. Und in vielen Fällen müssen die Produkte auch etwas weniger komplex und, wie gesagt, weniger variantenreich sein.
Und welche Rolle spielt denn der 3D-Druck jetzt in der Corona-Krise und in der künftigen Produktionswelt?
Die additive Fertigung ist eine spannende Technologie, da sich ohne Formenbau sehr schnell erste Bauteile fertigen lassen, sobald die CAD-Datei vorliegt – und weil geometrisch komplizierte Teile in einem Schritt direkt ohne Formenbau gefertigt werden können. Die langen Produktionszeiten pro Teil sowie die endliche Auswahl an Materialien sind aber nicht die einzigen Nachteile der 3D-Druckverfahren.
VW und Rolls Royce sollen jetzt Beatmungsgeräte bauen. Ist das sinnvoll und machbar?
Dass Großkonzerne plötzlich ganz andere Produkte als bisher bauen, wenn diese „kriegswichtig“ sind, ist einzigartig in der Nachkriegsgeschichte. Die Idee ist für produktionstechnische Laien naheliegend. Schließlich haben die Konzerne tolle Fabriken und viele gute Ingenieure. Aber die Firmen sind sehr spezialisiert, viel mehr als sie es noch in den Weltkriegen waren. Was helfen die zahlreichen Fünf-Achs-Fräsmaschinen aus der Schaufelfertigung eines Flugzeugtriebwerkherstellers oder die Karosseriepressen eines Automobil-OEMs bei der Herstellung der Beatmungsgeräte?
Einem mittelständigen Maschinenbauunternehmen oder B2B-Elektrogerätehersteller würde ich schon zutrauen, schnell eine Produktion aufzubauen, am besten in Lizenz für ein existierendes Produkt ohne komplette Neuentwicklung. Das ist der schnellste Weg. Und die Prototypenlabore der Konzerne sowie deren Ingenieure und Planer könnten dabei auch helfen.
Was sollte Deutschland tun, um im Hinblick auf die Versorgung mit kritischen Gütern in Krisen wie dieser besser gerüstet zu sein?
Mehr Autarkie, mehr Reserven! Eine leistungsfähige eigene Produktion von Schutzbekleidung, Desinfektionsmitteln, Pharmaprodukten und Testequipment sind essentiell. Und Vorräte an solchen Gütern. Vorräte klingen seit Lean Management so „unsexy“, aber sie sind auch wichtig, ebenso wichtig wie Kapazitätsreserven der Produktion.
Ändert sich auch die Art der Zusammenarbeit zwischen den Menschen erheblich und dauerhaft?
Ich glaube schon. Viele Menschen erleben jetzt, dass sie auch vieles bewerkstelligen können, ohne vorher im Auto, Flugzeug oder Zug anzureisen und im Stau zu stehen. Das wird die Arbeitswelt verändern, und die Möglichkeiten der ubiquitären Arbeit werden sich stark weiter entwickeln. Das wird der wachsende Sektor im Strukturwandel. Gleichzeitig bekommt ein persönliches Treffen von Kollegen an einem Ort einen höheren Wert, weil es seltener ist, und das ist ja auch etwas Schönes.
Was sagen Ihre Studenten zu der Situation?
Mit zwei Kollegen an unserer Hochschule führe ich derzeit eine große Studierendenbefragung, an der sich schon über 1000 von 7000 Studenten beteiligt haben. Da kommen interessante Dinge heraus. Ein Ergebnis ist: Die Mehrheit glaubt, dass die Welt sich in einem Jahr oder noch schneller von der Krise erholen wird. Das finde ich erstaunlich.
Über 80 Prozent glauben, dass die Krise eine Chance für die Menschheit ist. Etwa 70 Prozent wollen daher jetzt auch etwas in ihrem Leben ändern. 45 Prozent glauben, dass die Welt ungefähr gleich gut bleibt, aber 33 % Prozent glauben eher an eine bessere Welt. Das sind mehr als die 22 Prozent, die an eine tendenzielle Verschlechterung der Welt glauben.
Was raten Sie Ihren Studenten?
Dass sie den Mut nicht verlieren sollen und mit darauf hinwirken sollen, dass die positiven Zukunftsvisionen eintreten – und nicht die pessimistischen. Dafür braucht es maßvolle, achtsame, ganzheitlich denkende, mutige und engagierte Menschen und nicht nur hochspezialisierte Ingenieure.
Herr Klein, haben Sie vielen Dank für das Gespräch …
Über die Hochschule Rhein-Waal und Prof. Klein
Die Hochschule Rhein-Waal ist eine noch recht junge Hochschule für angewandte Wissenschaften – sie besteht jetzt seit 11 Jahren. Was sie besonders macht, ist die starke internationale Ausrichtung. 50 Prozent der Studierenden stammen aus dem Ausland, insgesamt kommen sie aus circa 120 Ländern. Prof. Klein lehrt und forscht an der Fakultät für Technologie und Bionik in Kleve, unterrichtet in drei Bachelorstudiengängen und zwei Masterstudiengängen (überwiegend ingenieurwissenschaftlichen). Sein Fachgebiet ist das Produktionsmanagement beziehungsweise das „Integrierte Produktionsmanagement“ (ganzheitliche Sichtweise), dies umfasst Produktionssysteme /-konzepte, Fabrikplanung, Standortplanung (Global Footprint Design), Qualitätsmanagement, Digitalisierung / Industrie 4.0, die ERP-MES-Auswahl, als Randthema auch Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen. Außerdem sammelt er als Unternehmensberater weitere Erfahrungen. Aktuell gibt er ein Buch über „Digitale Produktion“ im Metropolis-Verlag heraus, gemeinsam mit Prof. Torsten Niechoj.