Menschenorientiertes Engineering
Bei der Entwicklung von Produkt- und Produktionssystemen arbeiten unterschiedliche Individuen zusammen. Sowohl zwischen ihnen als auch in den Systemen selbst kommt es zu komplexen Wechselwirkungen. Diese gilt es mit innovativen Ansätzen und Technologien besser zu beherrschen. Trotz all der neuen zumeist technologischen Möglichkeiten im Engineering müssen dabei die Menschen im Mittelpunkt stehen. In diesem Beitrag nähern sich die Autoren den Gründen und stellen erfolgversprechende Stoßrichtungen vor.
Ausgabe 3-2022, S. 142
Seven streams to put engineers at the center of development. People-oriented engineering
Abstract: Different individuals work together in the development of product and production systems. Complex interactions occur both between the individuals and within the systems themselves. These interactions must be better managed with innovative approaches and technologies. Despite all the new, mostly technological possibilities in engineering, the focus must nevertheless be on people. In this article we look at the reasons for this and present promising streams.
1 Menschenorientiertes Engineering von System of Systems
1.1 Eine Welt aus Systemverbünden
Digitalisierung, Globalisierung und Nachhaltigkeit sind die zentralen Treiber der heutigen Zeit und beeinflussen die technischen Systeme von heute und morgen [1]. Insbesondere durch die Digitalisierung werden Innovationen vorangetrieben und sowohl die Systeme als auch das zugehörige Engineering verändert. Neben zahlreichen Potenzialen zeigen sich jedoch auch Herausforderungen, die durch aktuelle Vorgehensweisen nicht vollständig adressiert werden. Nötig ist ein Umdenken im Engineering und das Entwickeln neuer Herangehensweisen, bei denen die Menschen eine zentrale Rolle einnehmen und frühzeitig in jede Veränderung und deren Gestaltung einbezogen werden.
Ein System beschreibt ein technisches System (Produkt), das aus Sachleistungen oder aber auch aus einer Kombination aus Sach- und Dienstleistungen besteht. Im Sinne einer ganzheitlichen Systembetrachtung gehört zu jedem technischen System ein wertschöpfendes System – wie etwa das Produktionssystem oder die dazugehörige Organisation. Durch die Vernetzung der Systemelemente ergibt sich ein dynamisches Zusammenwirken. Ein komplexes Gesamtsystem entsteht. Diese Komplexität ist nur mit leistungsfähigen Engineering-Ansätzen zu beherrschen, bei denen die Systeme ganzheitlich und interdisziplinär betrachtet werden. Das Systems Engineering ist so ein Ansatz, und bietet eine gute Grundlage vorherrschenden Herausforderungen zu begegnen.
Der zunehmende Anteil an leistungsfähiger Hardware und Vernetzungstechnologien führt inzwischen dazu, dass die Systeme (teil-)autonom agieren und sich dynamisch in Systemverbünden vernetzen können. Dabei lösen sie Aufgaben, die ein System allein nicht lösen kann. Ein solcher Systemverbund von unabhängigen Systemen, die zeit- und ortsabhängig miteinander kooperieren, bringt der Begriff „System of Systems“ (SoS) zum Ausdruck [2]. Das Paradigma der Industrie 4.0 verdeutlicht diese SoS-Perspektive. Sowohl auf Ebene der Produktionsstätten als auch innerhalb einer Produktionsstätte prägen sich unterschiedliche Beziehungen zwischen interagierenden wertschöpfenden und nicht-wertschöpfenden Ressourcen aus, die gemeinsam eine Aufgabe erfüllen. Beispiel für solch ein SoS ist die selbstoptimierende Produktion (Bild 1). Hierbei wird der Weg durch die Produktion der zu produzierenden Objekte optimal auf Basis der aktuellen Rahmenbedingungen ausgelegt und dabei unter anderem freie Kapazitäten von Produktionsanlagen miteinbezogen. Auch die Menschen sind als Teil des Systems wichtige Einflussgrößen. So kann bei einer Maschinenwartung durch einen Wartungsmitarbeiter der Gesamtsystemverbund reagieren und der Auftrag für den Kunden durch alternative freie Produktionsmodule im Produktionsverbund erledigt werden.
1.2 Neue Formen des Engineerings müssen den Menschen in den Mittelpunkt stellen
Das Engineering steht vor der Herausforderung Systeme zu gestalten, die sich in Systemverbünden integrieren lassen und somit für ihre Nutzerinnen und Nutzer im SoS einen übergeordneten Wert erzeugen. Dabei ist die gesamte Wertschöpfung eines Systems selbst ein komplexes sozio-technisches System aus Menschen, Organisation und Technik [3]. Diese drei Dimensionen wirken zusammen, um die von ihren Stakeholdern geforderten Systeme zu gestalten. Vielfältige Bereiche, wie die Produktionssystementwicklung und Validierung, müssen integrativ betrachtet werden, um ein zielorientiertes Engineering zu ermöglichen. Hierbei muss der Mensch als Gestalter und Entscheider ins Zentrum gerückt werden. Die Digitalisierung und die Vielzahl an Datenquellen im Unternehmen und darüber hinaus führen allerdings dazu, dass dieser Entscheider einer großen Datenflut gegenübersteht. Um Entscheidungen treffen zu können, muss der Mensch aus den verfügbaren Daten relevante Informationen identifizieren und auswerten können [3, 4]. Bedingung für eine zielgerichtete Systementwicklung ist hier ein ganzheitliches Verständnis aller Informationen. Ermöglicht wird dies durch das disziplinübergreifende Zusammenwirken von Menschen, die mit geeigneten Organisationsmodellen mit Prozessen, Rollen, Aufgaben, IT-Werkzeugen und Methoden in der Lage sind, SoS zu entwickeln.
Die heutzutage etablierten disziplinübergreifenden Ansätze aus der Mechatronik, wie die VDI 2206 [5], sind hier nicht geeignet, um die vielfältigen Anforderungen an das Engineering von heutigen Systemen zu erfüllen. Was fehlt sind Herangehensweisen, die die Komplexität auf frühe validierungsfähige Teilmengen reduzieren und sich so iterativ dem gewünschten Zielzustand nähern. Diese müssen bedarfsgerecht für unterschiedliche Aspekte anwendbar sein und eine asynchrone Systementwicklung im SoS unterstützen. Die Anpassungsfähigkeit der Entwicklung an die aktuellen Begebenheiten ist dabei ein wesentlicher Faktor.
Es wird deutlich, dass Unternehmen aufgrund des rasanten Einzugs der Digitalisierung schon heute mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert werden. Kurz: für eine erfolgreiche und innovative Wertschöpfung benötigen wir neue Formen des Engineerings, deren Methoden und Technologien sowohl der Komplexität der technischen Systeme als auch den Herausforderungen, die dadurch auf die an ihrer Entwicklung beteiligten Menschen zukommen, Rechnung tragen. Im Folgenden werden Handlungsfelder im menschenorientierten Engineering aufgezeigt, die im Forschungsprojekt MoSyS adressiert werden.
2 Handlungsfelder
2.1 Menschenorientiertes Engineering und Kollaboration
Die heutzutage etablierten starren Strukturen im Engineering inklusive ihrer trägen Prozesse sind nicht mehr zeitgemäß und definieren die Leistungsgrenze, mit denen die Herausforderungen heutiger Wertschöpfung nicht adressiert werden können. Zur Gestaltung von Systemverbünden, wie der eingangs beschriebenen sich selbst optimierenden Produktion, bedarf es neuer Arbeitsformen, die die Gestaltung flexibler und anpassungsfähiger Systeme ermöglichen (Bild 2).
Im Projekt soll daher das Potenzial einer digitalen und agilen Kollaboration für etablierte Organisationen analysiert werden. Darauf aufbauend entsteht ein neuer Kollaborationsansatz, der unterschiedliche Aufgaben und Rollen für die zukünftige Gestaltung innovativer Systeme bereitstellt. Erste Untersuchungen zeigen, dass agile Arbeitsformen Vorteile bieten, um auf kurzfristige Marktänderungen und den evolutionären Charakter von SoS schnell reagieren zu können. Dabei gilt es jedoch Aspekte zu beachten, die die Einführung und Anwendung agiler Arbeitsformen beeinflussen können, zum Beispiel Teamzusammenstellung, Arbeitsweisen und Kultur.
2.2 System of Systems-Engineering
Für den wirtschaftlichen Erfolg müssen heutige technische Systeme zunehmend in übergeordneten Systemverbunden agieren können. Aufgrund des teilweise unbekannten Systemverhaltens, den flexiblen Systemgrenzen und den teils unbekannten Managementstrukturen über Unternehmensgrenzen hinweg, können die bestehenden Methoden und Prozesse des Systems Engineering nicht eins zu eins auf SoS angewandt werden. Es bedarf eines durchgängigen und integrativen Ansatzes, um sich den Rahmenbedingungen im SoS iterativ zu nähern. Hierzu wird ein Rahmenwerk erarbeitet, das bedarfsgerecht Sichten bereitstellt, die für die Analyse und Entwicklung von Systemen für den jeweiligen Stakeholder (Servicemitarbeiter, Entwicklerin etc.) benötigt werden. So wird in einem komplexen Gesamtmodell genau der Bereich dargestellt, der für die Aufgabe des Stakeholders relevant ist. Die Vielzahl an weiteren Informationen wird so abstrahiert und überschaubar gemacht. Dieses Rahmenwerk wird mit einem geeigneten Organisationsmodell in Einklang gebracht, das Rollen, Tätigkeiten und Prozesse im Engineering von SoS beschreibt.
2.3 Auswirkungsanalysen in der Produktgenerationsentwicklung
Änderungen verursachen bereits bei der klassischen Produktentwicklung von Systemen einen großen Effekt auf angrenzende Bereiche. Betrachtet man ein SoS, potenziert sich die Auswirkung von Änderungen, da diese eine Vielzahl an Systemen im Systemverbund betreffen kann und somit über Unternehmensgrenzen hinweg Effekte erzeugt. Für die Gestaltung und Transformation von Systemen im SoS bedarf es einer ganzheitlichen Auswirkungsanalyse im Änderungsmanagement. So wird ein Informationskonzept erarbeitet, das die involvierten Akteurinnen und Akteure miteinbezieht. Auf dieser Basis können Änderungsentscheidungen ganzheitlich getroffen werden.
2.4 Musterbasiertes Architekturmanagement
Die Architektur beschreibt das grundlegende Konzept und die Eigenschaften eines Systems. Sie definiert das Zusammenwirken der Systemelemente und stellt somit ein zentrales Element im Engineering dar. Bei der Erstellung der Architekturen treten wiederkehrende Muster auf, deren Nutzung für ein effizientes und konkurrenzfähiges Engineering essenziell sind. Insbesondere die Wiederverwendung von Lösungswissen auf Grundlage von SoS-Architekturen stellt ein großes Handlungsfeld dar, welches das Potenzial bietet, die Gestaltung von SoS zu ermöglichen. Die Muster stellen den Akteurinnen und Akteuren im SoS Wissen bereit, das die kreative und optimale Auslegung der Architekturen ermöglicht. Hierzu analysieren wir Lösungskonzepte im SoS, um wiederkehrende Muster zu identifizieren und zu explizieren. Hierauf aufbauend wird eine Herangehensweise entwickelt, die die systematische Einbeziehung von Referenzwissen im Architekturmanagement ermöglicht.
2.5 KI-unterstütztes Engineering
Die Steigerung der Leistungsfähigkeit von Hardware gepaart mit neuen Anwendungsmöglichkeiten durch die Digitalisierung von Systemen macht Künstliche Intelligenz (KI) zum globalen Trend. Auch im Engineering bietet KI ein enormes Potenzial, um die Produktentwicklung und Prozesse zu unterstützen. Oft ist das Verständnis von KI unklar und der Implementierung von KI in Unternehmensprozesse wird mit Skepsis begegnet. Deshalb sollte der Mensch frühzeitig bei der Planung und Integration von KI-Anwendungen berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund werden im Projekt die Erwartungen und Vorbehalte des Menschen im Umgang mit KI analysiert. Dies soll gewährleisten, dass intelligente Assistenzsysteme im Engineering integriert aber auch akzeptiert werden können.
2.6 Digital Twin
Auch die Vision des Digitalen Zwillings (Digital Twin) wird durch die Digitalisierung und die durchgängige Datenakquirierung ermöglicht. Im Engineering gilt die Umsetzung des Digital Twins als notwendig, um die Systeme über den Produktlebenszyklus zu begleiten und somit wettbewerbsfähig zu bleiben. Dazu wird im Projekt ein Rahmenwerk entwickelt, welches die besonderen Aspekte eines SoS und den dazugehörigen organisatorischen Rahmenbedingungen gerecht werden. Hierbei stellt vor allem die unternehmensübergreifende Vernetzung von Daten, die für einen Digital Twin nötig sind, eine besondere Herausforderung dar.
2.7 Veränderungsmanagement – Agile SE Organisation
Agile Denk- und Handlungsweisen werden zunehmend auch jenseits der Softwareentwicklung benötigt. Der Übergangsprozess von bestehenden Arbeitsweisen hin zu einer agilen Systems Engineering-Organisation stellt die Beteiligten vor Herausforderungen. Dabei ist jede Organisation individuell und hat unterschiedliche Rahmenbedingungen (zum Beispiel Unternehmenskultur), die es zu beachten gilt. Im Rahmen des Projekts werden diesbezüglich Implementierungsstrategien entwickelt, welche die individuellen Rahmenbedingungen berücksichtigen und passgenaue Methoden und Handlungsempfehlungen bieten. Erste Anwendungen zeigen, dass sich dabei Methoden und Handlungsweisen aus den Bereichen Agilität und Systems Engineering sinnvoll ergänzen lassen.
3 Zusammenfassung und Ausblick
Die Digitalisierung verändert die Systeme und die Wertschöpfung von heute und morgen. Sie bietet zahlreiche Potenziale und prägt die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit. Leistungs- und anpassungsfähige Engineering Ansätze sind gefordert, die mit den Charakteristika von SoS umgehen können und die Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die damit einhergehenden und eingangs beschriebenen Handlungsfelder werden im Rahmen des Projekts MoSyS adressiert. Das Konsortium aus den unterschiedlichen Bereichen der Wertschöpfung – von der Produktentwicklung über die Validierungs- hin zur Produktionssystementwicklung – stellt sicher, dass ein integratives Engineering entsteht, das die Herausforderungen unterschiedlicher Stakeholder berücksichtigt.
Im weiteren Verlauf des Projekts gilt es, die einzelnen Teilaspekte der Gestaltung komplexer SoS in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen und die Menschenorientierung durchgängig über die Themen des Engineerings – von Methoden und Arbeitsweisen über Technologien wie KI und Digital Twin – zu berücksichtigen. Neben einem ganzheitlichen Kollaborationsmodell und Ansätzen für das SoS-Engineering wird an weiteren hierauf aufbauenden Themen gearbeitet. Hierzu gehören etwa Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Unternehmen. Modelle, wie die Verwaltungsschale der Industrie 4.0, bieten hier gute Anknüpfungspunkte, um das modellbasierte SoS-Engineering über Unternehmensgrenzen hinweg zu realisieren.
Das Forschungsprojekt MoSyS wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „Zukunft der Wertschöpfung – Forschung zu Produktion, Dienstleistung und Arbeit“ (Förderkennzeichen 02J19B090 bis 02J19B106) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
Literatur
- Dumitrescu, R.; Albers, A.; Riedel, O.; Stark, R.; Gausemeier, J.: Engineering in Deutschland – Status quo in Wirtschaft und Wissenschaft. Ein Beitrag zum Advanced Systems Engineering. Paderborn 2021
- Porter, M. E.; Heppelmann, J. E.: How smart, connected products are transforming competition. Harvard business review, 92 (2014) 11, p. 64–88
- Hirsch-Kreinsen, H.: Wandel von Produktionsarbeit – „Industrie 4.0“ – Soziologisches Arbeitspapier Nr. 38/2014. Arbeitspapier, Technische Universität Dortmund, 2014
- Spath, D.; Bauer, W.; Ganz, W.: Arbeit der Zukunft – Wie wir sie verändern. Wie sie uns verändert. Internet: https://publica.fraunhofer.de/eprints/urn_nbn_de_0011-n-2278987.pdf. Zugriff am 08.12.2021
- VDI 2206 – Entwicklungsmethodik für mechatronische Systeme, 2004
Dr.-Ing. Harald Anacker
Matthias Günther, M. Sc.
Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik (IEM)
Zukunftsmeile 1, 33102 Paderborn
Tel. +49 5251 / 5465 324
harald.anacker@iem.fraunhofer.de
www.iem.fraunhofer.de