Potenziale durch Digitalisierung in der Umformtechnik
Der Begriff „Digitalisierung“ ist in aller Munde: im privaten Bereich, in der uns umgebenden Kommunikationstechnik und im eigenen Unternehmen. Die Ausgabe 10 der „wt Werkstattstechnik online“ umreißt diesen Begriff aus dem Blickwinkel der Umformtechnik. Insbesondere hier erscheint die Digitalisierung als sehr anspruchsvoll und schwierig umsetzbar aufgrund der technologiespezifischen Randbedingungen. Dies ist nicht nur in den Produktionsbedingungen und der technologisch bedingten Anordnung von Wirksystemen bestehend aus Umformwerkzeug und -maschine begründet, sondern auch in den Automatisierungssystemen und im Umfeld der Fabrik.
Externe und interne Treiber beeinflussen die aktuelle Diskussion um das notwendige Maß der Digitalisierung von Produktionsabläufen. Zu den externen Treibern gehören moderne Verträge mit Kunden in Bezug auf die Bauteil- und Komponentenrückverfolgbarkeit, Nachhaltigkeits-Audits, wie etwa die neue europaweit ab 2024 geltende Gesetzgebung der Corporate Sustainability Report Directive (CSRD), und zahlreiche weitere Dokumentationspflichten. Interne Treiber sind die Reduktion von Ausschuss und Nacharbeit, die Stabilisierung der Fertigungsprozesse bereits in der Anlaufphase, die beschleunigte Einführung neuer Betriebsmittel oder auch die Speicherung von Anlagendaten für robuste Produktionsabläufe. Dies sind gute Gründe, sich umgehend mit den heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung im Umfeld von I4.0 einerseits und mit den sich für die Verfahren und Produkte der Umformtechnik ergebenden Potenziale andererseits zu beschäftigen – übrigens nicht nur in der Forschung!
Dabei muss der inhaltlichen Arbeit die Festlegung der langfristigen Zielsetzung in der Produktion vorausgehen. Das Beispiel eines prominenten amerikanischen Automobilherstellers zeigt, dass die Digitalisierung der Produkte nicht nur Herstellprozesse in anspruchsvollen Lieferketten rückverfolgbar macht, sondern auch die Entwicklung neuer Produkte oder Service-Funktionen für weitere Geschäftsmodelle ermöglicht.
Gleichartige Potenziale lassen sich bereits heute für zahlreiche Verfahren der Umformtechnik ableiten. Pressenstraßen und Fertigungslinien sind längst in leistungsfähigen Digitalisierungsumgebungen eingebettet. Im Detail ist die Integration von Sensorik, Aktuatorik, leistungsfähiger Messtechnik sowie Software in das unmittelbare Wirksystem auf Basis von Daten des zu verarbeiteten Werkstoffes erforderlich. So lassen sich heute schon kleine Stanzteile, die aus hochwertigen Blechwerkstoffen mit bis zu 2000 Hub pro Minute gefertigt werden, reihenfolgerichtig vermessen und kennzeichnen. Moderne Steuerungsentwicklungen für Werkzeugmaschinen und Automatisierungskomponenten, neuartige Regelalgorithmen in Verbindung mit modernen Datenprotokollen, miniaturisierte, robuste Sensoren für die Kraft-, Weg-, Temperatur- und Beschleunigungsmessung sowie leistungsfähige optische Mess- und Erkennungssysteme eröffnen neuartige, weitreichende Chancen für die Umformtechnik von morgen.
Die Beiträge dieses Heftes verdeutlichen die Potenziale und zeigen konkrete Beispiele für die Prozessüberwachung, das Generieren von Prozessverständnis sowie neue Ansätze für die Prozessregelung und die Qualitätsüberwachung. Für die Entwicklung neuartiger Produkte dienen Daten und deren Kontexte als wertvolle Voraussetzung, um Modelle zu parametrisieren und so die virtuelle Auslegung zu verbessern. Hervorzuheben ist zudem die Generierung von Wissen und die Herleitung bisher nicht erklärbarer technologischer Zusammenhänge mittels Methoden der Künstlichen Intelligenz.
Ich wünsche Ihnen Kurzweil beim Lesen der Beiträge, sprechen Sie die jeweils publizierenden Institute gerne jederzeit an. Ihr Mathias Liewald
Prof. Dr. Mathias Liewald leitet das Institut für Umformtechnik (IFU) an der Universität Stuttgart. Zudem engagiert er sich in zahlreichen wissenschaftlichen Organisationen und ist als Gutachter tätig. Foto: IFU / Universität Stuttgart