Vollzeit arbeiten und Angehörige pflegen
Berufstätig zu sein und gleichzeitig Angehörige zu pflegen, das ist nicht einfach. ingenieur.de gibt Tipps, wie es leichter geht.
Fast fünf Millionen pflegebedürftige Menschen
Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland steigt rasant, wie ein Blick auf die Erhebungen des Statistischen Bundesamts (Destatis) 2024 zeigt: Fast 5 Mio. Menschen waren demnach im Jahr 2021 pflegedürftig. Zur Jahrtausendwende lag diese Zahl noch bei 2 Mio.
Die typische Lösung: Angehörige zu Hause pflegen
Auch wenn es beim Thema Pflege in der Medienberichterstattung häufig um die Situation in Pflegeheimen geht, werden die meisten Pflegebedürftigen nicht dort versorgt, sondern zu Hause. Nach Angaben von Destatis ist das bei mehr als 80 % der Pflegebedürftigen so – bei etwas mehr als 4 Mio. Menschen. Ein genauerer Blick auf die Versorgungsarten:
- 4,17 Mio. pflegebedürftiger Menschen (84 %) werden zu Hause versorgt.
- 3,12 Mio. (63 %) werden zu Hause überwiegend von Angehörigen gepflegt.
- Bei 1,05 Mio. (21 %) übernehmen ambulante Pflegedienste teilweise oder ganz die Versorgung zu Hause.
- 790.000 pflegebedürftige Menschen (16 %) werden nicht zu Hause, sondern vollstationär in Pflegeheimen betreut.
Die aktuellen Daten des Statistischen Bundesamts für 2021 zeigen: In weit mehr als der Hälfte aller Fälle sind es Angehörige, die die Pflege zu Hause übernehmen. Eine Aufgabe, die mit einer Berufstätigkeit nicht einfach zu vereinbaren ist.
Vollzeit arbeiten und Angehörige pflegen – geht das?
Ein pauschales „Ja“ wäre ebenso wenig richtig wie ein pauschales „Nein“. Es kommt immer auf das Zusammenwirken der individuellen Gegebenheiten an, vor allem darauf, wie viel Unterstützung ein pflegebedürftiger Mensch benötigt. „Unter Pflege wird die Betreuung von Menschen verstanden, die sich nur noch eingeschränkt selbst versorgen können“, ist auf der Seite des Statistischen Bundesamts zu lesen. Je geringer die Einschränkung, umso geringer der Pflegebedarf – und umso leichter die Vereinbarkeit von Pflege und Vollzeitjob. Aber auch bei höherem Pflegebedarf kann es gelingen, beides zu vereinbaren. Denn mit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wurden bereits 2015 mehrere Möglichkeiten geschaffen, auf individuelle Pflegesituationen einzugehen.
Das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
Das Bundesfamilienministerium bietet mit diesem Gesetz unter anderem Unterstützung für pflegende Angehörige für Zeiträume in Form von Freistellungen und finanziellen Leistungen an, konkret:
- bei kurzzeitiger Verhinderung von bis zu zehn Arbeitstagen
- mit der Pflegezeit, einer Freistellung bis zu sechs Monaten
- mit der Familienpflegezeit, einer Freistellung bis zu 24 Monaten.
Details dazu gibt es auf der Seite des Familienministeriums und zum Beispiel auch in dem umfassenden Ratgeber „Handbuch Pflege“ von Dr. Otto N. Bretzinger, der zu Themen rund um die Pflege Wissenswertes und viele nützliche Antragsformulare enthält. Es ist eine Ratgeberreihe der Verbraucherzentrale NRW erschienen, und Aktualisierungen der Printausgabe werden auf www.ratgeber-verbraucherzentrale.de veröffentlicht.
Kurzzeitige Arbeitsverhinderung von bis zu 10 Arbeitstagen
Bis zu zehn Arbeitstage dürfen Angehörige in einer akuten Pflegesituation der Arbeit fernbleiben, um die pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen. Das ist unabhängig von der Unternehmensgröße, also auch in kleineren Unternehmen möglich. Der Arbeitgeber muss unverzüglich informiert werden. In einer solchen Situation muss bei der pflegebedürftigen Person noch kein Pflegegrad festgestellt worden sein, aber es muss eine Pflegebedürftigkeit vorliegen, die wenigstens dem Pflegegrad 1 entspricht.
Für diese Freistellung kann eine Lohnersatzleistung – das Pflegeunterstützungsgeld – beantragt werden. Während der kurzzeitigen Arbeitsverhinderung besteht Anspruch auf das sogenannte Pflegeunterstützungsgeld. Es muss unverzüglich bei der Pflegekasse oder dem entsprechenden Versicherungsunternehmen des pflegebedürftigen Angehörigen beantragt werden.
Die Pflegezeit – Freistellung bis zu sechs Monate
Wer Angehörige zu Hause pflegt, für die mindestens Pflegegrad 1 festgestellt wurde und in einem Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten arbeitet, kann sich für die Dauer von bis zu sechs Monaten freistellen lassen. Um in dieser Zeit weiter den Lebensunterhalt zu sichern, kann ein zinsloses Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten beantragt werden, das in monatlichen Raten ausgezahlt wird. Für die Rückzahlung können unter Umständen Stundungen oder Erlassmöglichkeiten in verschiedenem Umfang gewährt werden.
Die Pflegezeit ist nicht nur für den typischen Fall der Pflege der Eltern gedacht, sondern kann auch genutzt werden, um minderjährige Angehörige mit einem Pflegegrad von mindestens 1 zu pflegen. Die Pflege muss dabei nicht zwingend zu Hause stattfinden.
Zudem kann die Pflegezeit genutzt werden, um pflegebedürftige Angehörige in der letzten Phase ihres Lebens zu Hause oder in einem Hospiz zu begleiten, allerdings nur bis zu einer Dauer von drei Monaten. Dabei ist es nicht notwendig, dass ein Pflegegrad festgestellt wurde.
Die Familienpflegezeit – Freistellung bis zu zwei Jahre
Die Voraussetzungen für diese Art der Freistellung sind: Der pflegebedürftige Angehörige muss mindestens Pflegegrad 1 haben, die Pflege muss zu Hause stattfinden, und der oder die pflegende Angehörige muss in einem Unternehmen arbeiten, das mehr als 25 Beschäftigte hat, wobei Auszubildende nicht mitgezählt werden. Zu beachten ist, dass die Freistellung nicht vollständig erfolgt, sondern mindestens 15 Arbeitsstunden pro Woche beibehalten werden müssen. Um den Lebensunterhalt in dieser Zeit zu gewähren, kann, ähnlich wie bei der Pflegezeit, ein zinsloses Darlehen beantragt werden.
Die Familienpflegezeit kann auch genutzt werden, um einen minderjährigen Angehörigen zu versorgen. In diesem Fall muss die Pflege nicht zwingend in häuslicher Umgebung stattfinden.
Hintergrund: die Einteilung in Pflegegrade
Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSGII) wurde 2017 der Begriff des „Pflegegrads“ eingeführt. Seitdem gibt es fünf Pflegegrade, von Pflegegrad 1 bis Pflegegrad 5. Je höher der Grad, umso höher die Pflegebedürftigkeit – und die Leistungen der Pflegeversicherung, die beantragt werden können. Der Pflegegrad wird in der Regel durch den Medizinischen Dienst oder Medicproof ermittelt. Einen ersten Anhaltspunkt zur Einordnung geben Onlinerechner, zum Beispiel auf der Seite verbraucherzentrale.de. Dort finden pflegende Angehörige auch einen Musterbrief, mit dem sie einen Antrag zur Feststellung des Pflegegrads ermitteln können.
Antrag auf Pflegeleistungen stellen – so geht’s
Neben den unterschiedlichen Optionen der Freistellung können weitere Unterstützungsmöglichkeiten beantragt werden. Die Verbraucherzentrale Bundesverband gibt wichtige Tipps für die Antragstellung, unter anderem:
- Die pflegebedürftige Person muss innerhalb der vergangenen zehn Jahre mindestens zwei Jahre lang Leistungen in eine Pflegekasse eingezahlt haben.
- Der Antrag auf Pflegeleistungen wird über die Kontaktdaten der zuständigen Krankenkasse gestellt. Dort ist die Pflegekasse angesiedelt.
- Je früher der Antrag gestellt wird, umso sinnvoller, denn Leistungen werden erst ab dem Zeitpunkt der Antragstellung gewährt.
Leistungen der Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege
Einen ausführlichen Überblick über den Leistungskatalog der Pflegeversicherung für die verschiedenen Versorgungsarten gibt das Bundesgesundheitsministerium auf seinem Portal. Auch wenn nicht alle dieser Leistungen unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf erdacht wurden, kann eine Vielzahl dennoch genau dabei helfen, seien es Zuschüsse beim Wohnungsumbau oder die Möglichkeit, Pflegegeld als finanzielle Kompensation an pflegende Angehörige weiterzugeben.
Das Risiko der Pflegedürftigkeit steigt mit dem Alter
Bereits Kinder und junge Menschen können pflegebedürftig werden, zum Beispiel durch einen Unfall oder eine fortschreitende Erkrankung. In den meisten Fällen entsteht eine Pflegebedürftigkeit aber in höherem Lebensalter. Einen Eindruck geben die Daten des Statistischen Bundesamts zur Pflegequote 2021. Die Pflegequote gibt es Auskunft darüber, welcher der Menschen in einem bestimmten Lebensalter pflegebedürftig ist.
- Weniger als 1,5 % der unter 60-Jährigen sind pflegedürftig.
- Bei den 70- bis 74-Jährigen sind es 9 %.
- 82 % der über 90-jährigen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig.
Zahl der Pflegebedürftigen wächst Jahr für Jahr
Dass vor allem ältere und alte Menschen pflegebedürftig werden, hat leicht nachvollziehbare Gründe. Zum einen nehmen die körpereigenen Abwehrkräfte ab, der Körper wird generell anfälliger für Erkrankungen. Ältere Menschen sind häufiger von mehreren Erkrankungen gleichzeitig betroffen als jüngere. Das gegenüber früheren Dekaden gestiegene Lebensalter hat eine erfreuliche, aber auch eine problematische Seite: Erkrankungen, die sich meist erst im hohen Alter ausbilden, treten gehäuft auf – ein typisches Beispiel ist die Altersdemenz. Das Statistische Bundesamt gibt Einblick in die Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen. So waren beispielsweise
- 1999 2,02 Mio. Menschen in Deutschland pflegebedürftig
- 2009 bereits 2,34 Mio.
- 2019 4,13 Mio.
- 2021 4,96 Mio. Menschen.
Auch wenn ein Teil des Anstiegs seit 2017 auf Änderungen bei der Definition und Erfassung zurückzuführen ist, bleibt unbestritten: Die Zahl der Pflegebedürftigen wächst nicht nur, der Anstieg beschleunigt sich.
Angehörige zu Hause pflegen ist eine Zukunftsaufgabe
Bis zum Jahr 2070 wird (Stand 2024) erwartet, dass bis zu 8 Mio. Menschen in Deutschland pflegebedürftig werden. Pflegende Angehörige werden künftig noch mehr gebraucht als jetzt schon. Umso wichtiger ist es, dass sich alle Beteiligten frühzeitig über Unterstützungsmöglichkeiten informieren – am besten, bevor eine Pflegebedürftigkeit eintreten könnte. Bislang werden viele Möglichkeiten nicht genutzt, berichtet das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA) und nennt mehrere Gründe dafür: Zum einen haben in einer Befragung des DZA überraschenderweise mehr als 60 % der Teilnehmenden angegeben, dass sie die Angebote nicht benötigen. Gut 20 % gaben an, die Angebote nicht zu kennen, mehr als 16,4 % gingen davon aus, keinen Anspruch zu haben, und knapp 10 % befürchteten den bürokratischen Aufwand.
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