Fachkräftemangel-Rekord gefährdet Energiewende: „So nicht machbar“
Nie gab es mehr offene Stellen in Ingenieurberufen: Mehr als 150.000 Jobs sind vakant. Damit sei die Energiewende nicht zu schaffen, sagen der VDI und das IW.
Das F-Wort will keiner hören, und doch hält es sich seit Jahrzehnten: Fachkräftemangel, so heißt das Schreckgespenst, das schon wieder – oder immer noch – umgeht in Deutschland. Neu ist: So prekär und besorgniserregend wie aktuell waren die Zahlen noch nie – und sie gefährden die Energiewende. Das jedenfalls verkündeten der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer gemeinsamen Pressekonferenz im Rahmen der Hannover Messe.
Demnach gibt es allein bei Ingenieurinnen und Ingenieuren mehr als 150.000 unbesetzte Stellen, dazu komme ein erheblicher Mangel an MINT-Fachkräften und Informatikern. Vor allem im Bau, im Energiesektor und in der Informatik sei der Mangel besonders dramatisch. Dieter Westerkamp, Bereichsleiter Technik und Gesellschaft beim VDI, drückte es drastisch aus: „Wir haben es mit einer energiepolitischen Revolution zu tun.“
Robert Habeck: Tempo beim Klimaschutz verdreifachen
Denn Deutschland steht nach Ansicht zahlreicher Expertinnen und Experten davor, seine Klimaziele 2030 zu verfehlen. Geht es etwa nach Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), müsste das Tempo beim Klimaschutz verdreifacht werden, damit das Land so gerade noch die Kurve kriegen kann. „Das ist angesichts der Rekordzahl an offenen Stellen nicht machbar“, prognostizierte Westerkamp. Der Fachkräftemangel sei ein „Bremsklotz in der Energiewende“. Schon im Vorfeld hatte auch Habeck den Mangel als Problem Nummer 1 beim Erreichen der Klimaziele bezeichnet.
Axel Plünnecke vom IW präsentierte das „Dilemma“, wie Westerkamp es nannte, anhand von Zahlen. Während der Corona-Krise war es vom ersten Quartal 2020 bis zum vierten Quartal des selben Jahres zunächst zu einem Einbruch der Gesamtzahl offener Stellen im Ingenieur- und Informatikerbereich gekommen: 92.400 Jobs waren Ende 2020 vakant. Schon 2021 stieg die Zahl wieder deutlich an, bis zu einem aktuellen Stand von 151.300 offenen Stellen – ein Rekordwert seit Beginn der Aufzeichnungen 2011.
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Setzt man die Zahl der offenen Stellen in Bezug zur Arbeitslosenzahl, ergibt sich eine Engpasskennziffer für Technikberufe. Im ersten Quartal 2021 kamen laut Plünnecke auf 100 Arbeitslose noch 222 offene Stellen. Im ersten Quartal 2022 lag der Wert schon bei 418. Am größten sind die Engpässe in Bayern (598), Sachsen (567) und Sachsen-Anhalt sowie Thüringen (jeweils 544). „In den ostdeutschen Bundesländern hat das vor allem demographische Gründe, in Bayern liegt die hohe Zahl in einem hohen Beschäftigungswachstum begründet“, so Plünnecke.
Es gibt viel zu wenige Absolventen
Es fehle langfristig auch an Nachwuchs – gerade angesichts der Tatsache, dass die besonders große Gruppe der über 50-Jährigen in Ingenieurberufen in den nächsten zehn bis 15 Jahren in Rente gehen wird. Der Lösungsansatz: Zuwanderung von Fachkräften und mehr junge Menschen, die in MINT-Berufe gehen. „Wird weiterhin wie in den letzten Jahren eine jährliche Zuwanderung von 34.000 Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Informatikerinnen und Informatikern erreicht, werden pro Jahr 96.500 Erstabsolventinnen und -absolventen in Technikfächern benötigt“, rechnete Plünnecke vor. Aktuell betrage die Zahl der Absolventen aber nur 70.000. „Damit fehlen jährlich 26.500 Erstabsolventinnen und -absolventen, um den für Digitalisierung, Klimaschutz und Energiewende benötigten Expansionsbedarf realisieren zu können“, so Plünnecke. Derweil dürfte die Nachfrage gerade nach IT-Expertinnen und -Experten noch einmal deutlich steigen. Das jedenfalls geht aus einer IW-Befragung hervor. Demnach erwarten 32 Prozent aller Unternehmen und 62 aller Unternehmen ab 250 Beschäftigte für die kommenden fünf Jahre einen steigenden Bedarf an IT-Experten speziell zur Entwicklung klimafreundlicher Technologien und Produkte.
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Studien würden derweil zeigen, dass vor allem jüngere Frauen, aber auch Männer sich zunehmend Sorgen um den Klimawandel machen. Diese Menschen müsse man unbedingt gewinnen. „Man muss den jungen Menschen deutlicher machen, dass sie aktiv etwas für das Klima tun können, wenn sie zum Beispiel wissen, wie man eine Wärmepumpe baut“, so der IW-Experte.
Unternehmen müssen Employer of Choice werden
Nur: Woher kommt dieser Mangel? Warum ist das Interesse an MINT-Fächern nicht groß genug? Peggy Denner ist Personalleiterin People und Culture beim Hannoveraner Multitechnik-Dienstleister SPIE und war gewissermaßen als Vertreterin aus der Praxis geladen. Sie glaubt: „Wir müssen noch früher an den Schulen ansetzen, um vor allem auch Mädchen für Technikberufe zu begeistern.“ Der Fachkräftemangel mache sich im Recruiting bereits bemerkbar. Es gebe eine klare Tendenz, dass Unternehmen sich zu Employers of Choice machen müssen, um die raren jungen Fachkräfte für sich zu gewinnen. „Für jüngere Menschen ist ein großer Dienstwagen kein erstrebenswertes Statussymbol mehr. Vielmehr muss man flexible Angebote machen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Mobilität ist das Stichwort und nicht ein dickes Auto.“
Westerkamp appellierte an die Regierung: „Beim Fachkräftezuwanderungsgesetz brauchen wir mehr Tempo.“ Zuletzt habe man sehen können, dass mit der baldigen Aufhebung der 1000-Meter-Abstandsregel schnell und unbürokratisch Probleme hätten beseitigt werden können. „Ich hoffe, dass das bei diesen Themen auch so schnell gehen kann.“ Immerhin: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte am Vorabend bei der Eröffnung der Hannover Messe versprochen, dass die Zeiten für Planungs- und Genehmigungsverfahren „mindestens halbiert“ werden sollen.
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