Metaverse im Personalbereich: Herausforderungen und Chancen
Egal, ob Schulungen oder interne Kollaboration: Das Metaverse wird mit virtuellen Formaten auch für die Personalführung interessant. Etwa im Recruiting, der Weiterbildung oder dem Onboarding. Warum technologieaffine Ingenieure besser rekrutiert werden können. Welche Vorteile das Metaverse speziell beim Führen verteilter Teams bietet. Was geht und wo die Grenzen sind. Dr. Tanja Matt, Expertin für die Arbeitswelt der Zukunft, gibt Antworten.
Ingenieur.de: Das Metaverse ist in aller Munde – aber nicht jeder versteht dasselbe darunter. Was ist Ihre Definition?
Matt: Das Metaverse ist eine virtuelle Welt, die derzeit von Technologieunternehmen wie Meta, Alphabet oder Microsoft erschlossen und maßgeblich weiterentwickelt wird. Es bietet eine immersive Erfahrung, das heißt, Nutzer können in eine vollständig digitale Umgebung eintauchen und sich dort in Echtzeit mit anderen Besuchern treffen und interagieren. Das Konzept des Metaverse befindet sich noch in der Entwicklung, und es gibt verschiedene Interpretationen und Visionen darüber, was daraus werden könnte.
Personalarbeit muss digitaler werden
Wie wird das Metaverse die Personalarbeit verändern?
Personalarbeit muss und wird digitaler werden – und schließt damit auch neue Technologien wie das Metaverse ein. Das ist einerseits eine Notwendigkeit für Unternehmen, um den sich verändernden Ansprüchen an ein modernes HR-Management gerecht zu werden. Andererseits gibt es aber auch einen gewissen Handlungsdruck von außen. So haben junge Mitarbeitende und im Fachkräftemangel hart umworbene Talente eine gesteigerte Erwartungshaltung an den Einsatz digitaler Technologien im Rahmen digitaler Personalservices. Das Metaverse darf in dieser Gemengelage jedoch nie Selbstzweck sein, sondern nur dort eingesetzt werden, wo es sinnvoll ist und Mehrwert stiftet. Das kann in der gesamten Personalarbeit sein, vom Recruiting und Onboarding über Weiterbildung und Qualifizierung bis hin zum Performance Management und dem betrieblichen Gesundheitsmanagement. Das Metaverse betrifft also potenziell die gesamte Employee Experience.
Was sind konkrete Anwendungsbeispiele für den Personalbereich?
Das Bewerbungsgespräch im virtuellen Raum ist das augenscheinlichste Beispiel für die Nutzung von Metaverse-Technologie in der Personalarbeit. So können sich Bewerber:innen sowie Recruiter:innen ein weitaus besseres Bild voneinander machen, als es bislang remote möglich war. Avatare vermitteln dabei durch ihre deutlich erkennbare Mimik und Gestik einen umfassenderen Eindruck der Person am anderen Ende der Leitung. Digitale Zwillinge von Büroräumen ermöglichen zudem Kandidat:innen im Rahmen virtueller Führungen Einblicke in das Arbeitsumfeld eines potenziellen Arbeitgebers und vermitteln die dort herrschende Atmosphäre. Treffen im virtuellen Raum schaffen somit für das Recruiting den Rahmen für Gespräche, die offener und persönlicher sind als in einer klassischen Videokonferenz. Der zwischenmenschliche Austausch wird mit mehr Emotionen aufgeladen, was insgesamt zu einem verbesserten Erlebnis im Bewerbungsprozess führt.
Gleiches kann auch Anwendung im Onboarding finden. Neue Mitarbeitende können sich im virtuellen Raum mit ihrem neuen Arbeitsplatz vertraut machen, die örtlichen Gegebenheiten kennenlernen, Kolleg:innen treffen und an interaktiven Schulungen teilnehmen. Dies trägt maßgeblich dazu bei, dass sich neue Mitarbeitende schnell an die Unternehmenskultur und -prozesse gewöhnen.
Im Bereich Training und Lernen profitieren bestehende Mitarbeitende in ähnlicher Form von Metaverse-Technologie. Praxisanwendungen können lebensnäher erkundet werden als in bisherigen Settings. Virtuelle Trainings schaffen durch Simulationen und umfassende Interaktionsmöglichkeiten einen Kontaktraum, in dem Menschen stärker voneinander lernen und sich gegenseitig über die „digitale Schulter“ schauen können. Das führt zu mehr Austausch – auch informell – und einer direkteren Ansprache. Die Bandbreite denkbarer Anwendungsszenarien erstreckt sich von Moderationstrainings in nachgestellten Live-Situationen über Simulationen für Kundenbetreuer:innen, bei denen die Mitarbeitenden mit virtuellen Kund:innen interagieren, bis hin zum Üben technischer Vorgänge und komplizierter medizinischer Eingriffe.
Daran anknüpfend bietet das Metaverse auch für das Performance Management Anwendungsfälle. Im Rahmen der Leistungsbeurteilung können virtuelle Räume so gestaltet werden, dass sie offene und konstruktive Gespräche über Leistung und Ziele erleichtern. Zudem könnte das Metaverse wertvolle Daten zu Mitarbeiterengagement, Zusammenarbeitsmustern und Leistungsmetriken liefern, die es der Personalabteilung ermöglichen, datengestützte Entscheidungen zu treffen und Verbesserungen vorzunehmen.
Zudem können auch Gesundheitsangebote, von Sportaktivitäten bis hin zu Initiativen für die psychische Gesundheit, im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements in gleicher Weise wie Trainings und Lernen im Metaverse vermittelt werden.
Metaverse für Ingenieure
Ist das Metaverse besonders geeignet, um technologieaffine Ingenieure zu rekrutieren?
Besonders technologieaffine Talente werden sich mit Sicherheit durch Recruiting-Maßnahmen im Metaverse angesprochen fühlen. Unabhängig davon ist es aber auch vorstellbar, dass das Metaverse zu einer absoluten Notwendigkeit für das Recruiting von Stellen mit hochkomplexem Rollenprofil wird. Im virtuellen Raum können zum Beispiel mithilfe digitaler Zwillinge technische Gegebenheiten simuliert werden, anhand derer das Wissen und die Fähigkeiten technologieaffiner Bewerber:innen getestet werden können.
Welche Vorteile bietet das Metaverse speziell beim Führen verteilter Teams?
Durch den Austausch in immersiven virtuellen Umgebungen können Führungskräfte ihren Teammitgliedern gegenüber eine persönlichere und dynamischere Führungspräsenz erreichen. Verstärkte realitätsnahe Interaktion im Metaverse kann zudem das Gefühl der Verbundenheit und des Engagements auch in einem verteilten Umfeld fördern. Treffen im Metaverse können darüber hinaus die dezentrale Entscheidungsfindung erleichtern, da alle relevanten Stakeholder in einem virtuellen Raum zusammengebracht werden können. Diese Vorteile dürfen aber nicht über die potenziellen Herausforderungen hinwegtäuschen. Dazu gehören die erforderliche digitale Kompetenz, der Zugang zu virtuellen Umgebungen und die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht zwischen virtuellen und realen Interaktionen zu wahren. Das sollten Führungskräfte nicht aus den Augen verlieren.
Welche Chancen bieten sich im Bereich Mitarbeiterbindung und -entwicklung?
Gerade heute, wo Remote-Arbeiten in verteilten Teams zur Norm gehört, sind Maßnahmen zur Mitarbeiterbindung wichtiger denn je. Präsenzveranstaltungen sind dabei immer noch der Goldstandard, an den keine Videokonferenz heranreichen kann. Virtuelle Teambuilding-Aktivitäten, Treffen oder Retros im Metaverse sind daher ein vielversprechender Mittelweg. Sie machen die Employee Experience viel individueller erlebbar und schaffen bestenfalls fesselnde Erinnerungen, die das Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft unter den Mitarbeitern fördern und zu einer positiven Arbeitskultur beitragen.
Wie weit ist das Thema hierzulande gediehen? Welche Vorbehalte gibt es?
Das Metaverse wird oft als eine Art Neuerfindung des Zwischenmenschlichen im digitalen Zeitalter angepriesen, was meiner Meinung nach etwas hoch gegriffen ist. Ja, es hat das große Potenzial, den virtuellen und physischen Raum näher zueinander zu bringen. Um dieses Ziel jedoch in aller Konsequenz zu erreichen, müssen die dafür notwendigen Technologien und ihr Zusammenspiel einen noch höheren Reifegrad erreichen. Erst dann werden wirklich neue Use Cases möglich. Obwohl das Metaverse derzeit noch unausgereift ist, lassen sich jedoch auf diversen Virtual-Reality-Plattformen bereits erste Anwendungen testen. Die technologischen Voraussetzungen sind mit Virtual Reality, Augmented Reality, Künstlicher Intelligenz, Cloud, IoT, Sensorik und 5G vorhanden. Große Techunternehmen im Silicon Valley und in Asien investieren längst Milliardenbeträge in die Umsetzung. Allein Meta hat laut Zuckerberg im Jahr 2021 bereits zehn Milliarden US-Dollar in Forschung und Entwicklung rund um dieses Themenfeld investiert.
Zugang zum Metaverse
Welche Hürden sehen Sie?
Es bleiben allerdings trotz aller Bemühungen größere Hürden, um das Metaverse wirklich „erlebbar“ zu machen – im Allgemeinen und hinsichtlich der Personalarbeit. Zum einen müssen alle Beteiligten Zugriff auf eine stabile, schnelle Internetverbindung haben – und hier stoßen wir im Alltag schon in regulären Videokonferenzen vereinzelt an Grenzen. Zum anderen ist für den Zugang zum Metaverse ein Virtual-Reality-Headset oder eine Augmented-Reality-Brille nötig. Ganz abgesehen davon, dass nicht jede Bewerber:in ein solches Gerät zu Hause liegen hat, lässt deren Tragekomfort bislang zu wünschen übrig, gerade im Dauerbetrieb. Und Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen sind leider außen vor.
CHRIS LÖWER
Die Expertin:
Dr. Tanja Matt arbeitet als Senior Manager im Bereich Digital Strategy & Innovation der Management- und Technologieberatung Detecon Consulting. Als Topic Lead New Work beschäftigt sie sich mit der Arbeitswelt der Zukunft und der Frage, wie Unternehmen für sich und ihre Mitarbeiter den Weg dorthin optimal gestalten und meistern können. Matt studierte Soziologie, Psychologie und Betriebswirtschaftslehre an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der FernUniversität Hagen mit Schwerpunkten in Organisation, Personal und Unternehmensführung. Anschließend promovierte sie im Bereich International Business an der WHU.
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