Die Arbeit muss zum Menschen passen
Stress ist per se keine schlechte Sache. Wohldosiert wirkt er leistungsfördernd, zu viel davon aber macht krank, weiß Karin Clemens. Die Geschäftsführerin des Beratungsunternehmens HumanProtect sieht in der falschen Passung von Mensch und Arbeitsplatz eine wesentliche Quelle für psychische Erkrankungen. Arbeitgeber achteten zu wenig auf die Grundbedürfnisse ihrer Mitarbeiter.
Clemens: Es ist nicht nur der Fachkräftemangel, es geht auch um Produktivitätssteigerung. Dennoch: Bei Stress muss man die einzelne Person in einer speziellen Arbeitssituation betrachten. Trotz „Stress“ kommen die einen gut damit klar und blühen regelrecht auf, die anderen fühlen sich überlastet. Wir können fast nie von nur einer Ursache ausgehen.
Es gibt eine Vielzahl von Frühanzeichen: anhaltende Ängste, Panikattacken, Depressionen, Aggressionsimpulse, Spielsucht, Alkohol, aber auch viele unspezifische Symptome: Man fühlt sich wie ausgelutscht, man kann nicht mehr richtig schlafen, Kleinigkeiten gehen nicht mehr so leicht von der Hand oder man ist gleichgültig. Wir haben alle mal Stressphasen, aber diese dürfen nicht lange dauern und Erholungsphasen dürfen nicht ausbleiben. Ursache ist meist eine anhaltende Überforderung, die etwas mit der Arbeit, aber auch mit der Person zu tun hat.
…bei der sich die Frage stellt: Warum schaffe ich es nicht mehr, die geeignete Passung zwischen meinen Ressourcen und meinen Stärken auf der einen Seite und den Anforderungen auf der anderen Seite herzustellen? Es ist wie in einer Beziehung. Es gehören immer zwei dazu: Arbeitsplatz und Person. Es ist niemals nur ein Faktor, es ist immer ein Ursachenbündel.
Persönliche Ziele und Bedürfnisse aus den Augen verloren
Das ist schwer auszumachen. Mir fällt auf, dass die Leute weniger wissen, was sie brauchen, was ihnen guttut und wie achtsam sie mit sich umgehen. Sie achten auf ihre Qualifikationen, aber kaum noch auf ihre persönlichen Ziele und Bedürfnisse: Was brauche ich an Anerkennung und Bestätigung? Was brauche ich an Beziehung? Wie viel Kontakt, wie viel Distanz zu Menschen brauche ich? Wie viel Wettkampf, wie viel Risiko vertrage ich? Es ist nicht mehr klar, was einem wichtig und wertvoll ist und nicht mehr klar, was einen antreibt und Freude bringt. Das ist aber nur mein ganz persönlicher Eindruck, mit Zahlen untermauern kann ich das nicht.
Werden die Grundbedürfnisse nicht befriedigt, gibt es Konflikte und Passungsschwierigkeiten, etwa wenn einer Person Freiheit sehr wichtig ist, dem Unternehmen aber nicht. Achtet der Arbeitgeber überhaupt nicht auf innere Bereitschaft und Grundbedürfnisse des Mitarbeiters, kann diese mangelnde Passung den Arbeitnehmer stark belasten.
Ja, es fällt leichter darüber zu reden. Früher waren wissenschaftliche Erkenntnisse und öffentliche Akzeptanz geringer. Man wurde mit einer Erschöpfungsdepression krankgeschrieben, danach kehrte man stillschweigend ins Unternehmen zurück. Der Vorteil der Burn-out-Debatte ist, dass Menschen hemmungsloser sagen: „Ich habe das Burn-out-Syndrom.“ Früher und auch heute noch ist es etwas schwieriger, zu sagen: „Ich leide unter Depressionen.“
Interesse der Unternehmen an Gesundheitsmanagement wächst
HumanProtect verzeichnet ein wachsendes Interesse der Unternehmen am Gesundheitsmanagement. Immer mehr fragen nach psychologischer Unterstützung. Was wir allerdings auch feststellen, ist eine zu geringe Sensibilisierung für weiche Persönlichkeitsfaktoren, wie die bereits angesprochenen Grundbedürfnisse der Mitarbeiter.
Wir begrüßen natürlich, dass die Unternehmen unser Angebot wahrnehmen und Mitarbeiter sich an uns wenden. Wir reagieren auf die Probleme einzelner Personen. Eigentlich müssten die Unternehmen aber grundsätzlich alle Faktoren für eine Person-Arbeitsumfeld-Passung im Blick haben.
Wie soll man „stressige“ Arbeitsplatzfaktoren zielführend quantifizieren, um eine Verordnung zu erlassen? Das ist zu einseitig. Stress ist ein individuelles Geschehen in einer spezifischen Umwelt. Machen Sie mal alle Arbeitsplätze gleich, es wird immer Menschen geben, die ihren Arbeitsplatz stressig finden und andere, die das nicht so sehen. Wir haben bereits die psychische Gefährdungsbeurteilung durch das Arbeitsschutzgesetz. Mehr brauchen wir nicht.
…dann nennen Sie mir mal einen Zeitraum, in dem sich Arbeitswelten nicht verändert haben!
Individuell zugeschnittener Arbeitsplatz statt „Wertetyrannei“
Wenn Sie von sich selbst ausgehen und meinen, Ihre Sicht der Dinge müsse auch für andere gelten, nennt man das „Wertetyrannei“. Es kommt aber darauf an, die richtigen Leute am richtigen Arbeitsplatz zu haben. Ein sicherheitsliebender Mitarbeiter wäre auf einer Arbeitsstelle, die vor allem auf Prämien basiert, nicht gut aufgehoben. Ein risikoorientierter Mensch ist vielleicht mit einer Beamtenstellung nicht ganz glücklich.
Abgesehen davon müssen wir Psychologen die aktuellen Arbeitsverhältnisse, wie sie sich uns bieten, akzeptieren. Wir arbeiten mit den Menschen, um herauszufinden, wie sie ihre Stärken in der jeweiligen Situation einsetzen können.
Wenn ich gefragt werde, rede ich mir den Mund fusselig – ohne natürlich Einzelfälle darzulegen, allein schon, weil wir der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen.
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